Newsinternational Samstag, 01.06.2002 |  Drucken

"In Marokko aber ist ihnen etwas Besonderes gelungen: Eine Fusion mit den Muslimen" denn "die große Mehrheit der Marokkaner weiß sehr wohl zwischen Judentum und Israel zu unterscheiden"

"DIE WELT" interviewte den jüdischen Berater des marokkanischen Königs. Der gab aufschlussreiche Antworten und Gedanken preis, die im Hinblick der Antisemitismusdebatte in Deutschland nicht nur im Nahen Osten Gehör finden sollten - Hier einige Auszüge

DIE WELT: Sie sind Berater des Königs Mohammed VI. Was diese Konstellation so außergewöhnlich macht ist, dass Sie Jude sind. Wie ist das zu erklären?
André Azoulay: Ich bin sehr stolz darauf, diesem elitären Club anzugehören. Tatsächlich bin ich das einzige Mitglied meines Clubs. Diese Konstellation spiegelt im Grunde die besondere marokkanische Chemie wider, wie ich das nenne. Heute leben fast eine Million Juden mit marokkanischen Wurzeln in aller Welt, allein 600 000 in Israel und 100 000 in Frankreich. All diese Menschen sind gute Staatsbürger, aber sie sind noch immer der marokkanischen Kultur, Geschichte und Lebensart verhaftet. Sie fühlen sich als Botschafter Marokkos (...)
Die Geschichte der Juden gleicht einer langen Tragödie. Aber in Marokko erlebten wir eine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte. Weder in der arabischen Welt noch in Europa noch sonst wo in der Diaspora blicken die Juden mit solchem Stolz auf ihre Vergangenheit zurück und leiten daraus ihre Identität ab. Immer wollten die Juden ihre Vergangenheit abschütteln, etwas Neues beginnen. Sie versuchten neue Bürger zu sein, ein neues Leben zu beginnen in einer neuen Ära. In Marokko aber ist ihnen etwas Besonderes gelungen: Eine Fusion mit den Muslimen.

DIE WELT: Trotzdem verließen Hunderttausende Juden Marokko . . .
Azoulay: Das stimmt. Sie verließen Marokko auf Grund einer messianischen Vision.
In Europa aber flohen die Juden vor der Exekution, vor der Tragödie, die das Nazi-Regime für sie bedeutete, und vor grassierendem Antisemitismus. In Marokko gab es keine Verfolgung, keinen Antisemitismus (...) Fast jeden Morgen hören wir, dass ein Palästinenser Juden oder die israelische Armee Palästinenser verletzt oder getötet hat. Ich aber bin beides. Diesen Albtraum zu überleben, meinen Glauben, meine Werte, meine Visionen, meine Erinnerungen und Geschichte über so lange Zeit am Leben zu erhalten und der Versuchung zu widerstehen aufzugeben, das ist die marokkanische Antwort auf diese Tragödie.

DIE WELT: Kann diese Antwort auch Ihr Beitrag sein für den Friedensprozess im Nahen Osten?
Azoulay: (...) Heute ist mein Nachbar - sinnbildlich gesprochen - Palästinenser. Wenn er seine Würde nicht erlangt und seine Freiheit, kann ich nicht voller Überzeugung Jude sein. Es wird auch für Israel keine Sicherheit und Bestandsgarantie geben, bis die Palästinenser ihre eigene Identität und ihren Frieden in einem eigenen Staat gefunden haben. Sobald sie ihren Staat haben, werde ich wieder vollkommen jüdisch sein können. Und ich werde Ruhe finden, weil ich weiß, dass auch Israel in Frieden leben wird.

DIE WELT: Bekannte israelische Politiker wie der ehemalige Außenminister Schlomo Ben Ami oder dessen Amtsvorgänger David Levy haben marokkanische Wurzeln. Haben Sie Kontakt zu ihnen?
Azoulay: Ja, insbesondere Schlomo Ben Ami zähle ich zu meinen Freunden. Wir teilen die gleichen Ziele, gehören dem gleichen intellektuellen und ideologischen Lager an.

DIE WELT: Wie muss ein Staat Israel aussehen, den Sie akzeptieren würden?
Azoulay: Wenn ich ein Israeli wäre, würde ich alles unternehmen, dass Israel der erste Staat wäre, der einen palästinensischen Staat fordert, ihn anerkennt und unterstützt (...)

DIE WELT: Ist die jüdische Gemeinde Marokkos unter zusätzlichen Druck geraten?
Azoulay: Nein. Die große Mehrheit der Marokkaner weiß sehr wohl zwischen Judentum und Israel zu unterscheiden.





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