Seminar
über das Privatrecht der Staaten des Mittleren Ostens (einschließlich
der Türkei)
(Fußnoten sind jeweils am Ende eines Kapitels zu finden)
Osama Momen, Jurastudent, Köln
A. Scheidungsrecht in der Vereinten Arabischen Republik
Ägypten unter Einfluß des islamischen Rechts
B. Die Problemstellung der Eheauflösungen auf
Grund von Apostasie durch Popularklage
A.
I. Allgemeines zum islamischen Recht
Zum besseren Verständnis des Nachfolgenden, sollen zunächst
einige Grundbegriffe und Erläuterungen zum islamischen Recht gegeben
werden. Islamisches Recht ist religiöses Recht: Die Sharia umfasst
die Gesamtheit von Allahs Geboten, die der gläubige Muslim zu befolgen
hat. Als allumfassende Deontologie wertet die Sharia alles menschliche
Tun, demnach auch die Rechtsakte und unterscheidet, ob diese pflichtmäßig,
verboten oder indifferent sind.
Die Sharia reiht alle Handlungen des Menschen nach religiös-ethischer
Wertung in eine der folgenden fünf Kategorien ein[1]:
1) Pflichthandlungen (Fard):
Handlungen zu denen der Muslim verpflichtet ist, wie etwa die fünf
religiösen Hauptpflichten des Islam (Glaubensbekenntnis, Gebet, Pflichtabgaben,
Pilgerfahrt nach Mekka, Fasten im Monat Ramadan). Die Erfüllung dieser
Aufgaben ist demnach für jeden Muslim Pflicht.
2) Empfehlenswerte Handlungen (Mandub):
Zweitens empfehlenswerte Handlungen, welche belohnt werden, deren Unterlassung
nicht bestraft wird, so beispielsweise zusätzliche Gebete.
3) Indifferente Handlungen (Mubah):
Drittens die Kategorie der indifferenten Handlungen, deren Vornahme
weder Belohnung noch Strafe vorsehen (Fliegen in einem Flugzeug).
4) Verwerfliche Handlungen (Makruh):
Handlungen, die missbilligt werden, jedoch nicht strafbar sind (Rauchen,
wobei dies einige Gelehrte als Haram klassifizieren; abfällige Bemerkungen
über nicht Anwesende).
5) Verbotene Handlungen (Haram):
Letztlich verbotenes, demnach strafbares Tun (Alkohol).
Die Wissenschaft von der Sharia heißt Fiqh. In der Sharia werden
nicht bloß die Rechte und Pflichten der Menschen untereinander geordnet,
sondern zugleich die Pflichten des Menschen gegenüber Gott.
Für den Islam als Religion ist die Sharia von zentraler Bedeutung.
Ihren größten Niederschlag fand die Sharia in den islamischen
Staaten vor allem in den Bereichen des Familien - und Erbrechts, wohingegen
Sachgebiete wie das Schuldrecht oder das Strafrecht durch die Anforderungen
der praktischen Anwendung gemindert beeinflusst wurden. Erschwerend kam
zu dieser Rechtsentwicklung hinzu, dass mit den Jahren zusätzliche
westliche Einflüsse in Erscheinung traten.
Rechtsquellen des Islams sind nach deren Gewichtung geordnet Koran,
Sunna, Idjma (Konsens) und Qiyas (Analogie). Sie bilden nach sunnitischer
Sichtweise das Quartett der Rechtsquellen (Usul). [2]
Der Koran, als Wort Allahs, worin sein Willen offenbart wurde, ist verständlicherweise
die erste Rechtsquelle des Islam. Die zweite Quelle des islamischen Rechts
ist die Sunna des Propheten, seine Gewohnheit, sein Verhalten. Im Gegensatz
zum Koran verkörpert die Sunna kein einheitliches Gebilde, sondern
gliedert sich auf der Basis der Vertrauenswürdigkeit und Vollständigkeit
der Überlieferungskette (Isnad) und der daraus erwachsenden Verbindlichkeit
in drei Gruppen: Mutawatira, Mashura und Ahad oder im Wesentlichen gleichbedeutend,
aber mit fließenden Grenzen – Sahih (authentisch), Hasan ("gut",
aber nicht einwandfrei) und da´if ("schwach", bedenklich). Die Sunna
ist in den Ahadithen überliefert. Diese Ahadithe sind in verschiedenen
Traditionssammlungen zusammengefasst. Inhaltlich[3] kann ein
Hadith eigenes Handeln oder Aussprüche des Propheten betreffen. Schließlich
fällt unter diesen Bereich auch noch das Stillschweigen des Propheten
angesichts der Handlungen anderer, was als Billigung aufgefasst wurde.
Die Sunna des Propheten ist nicht nur auf rechtliche Bereiche beschränkt,
sondern erstreckt sich, dem allumfassenden Charakter der Sharia entsprechend,
auf alle Lebensbereiche. Dritte Rechtsquelle ist der sogenannte Idjma,[4]
der Konsens. Er findet nach sunnitischer Ansicht sein Fundament u. a. in
den Worten des Propheten: "Meine Gemeinde wird niemals in einem Irrtum
übereinstimmen." Für die Sunniten ist vorliegend die Auffassung
aller Gelehrten relevant. Der Konsens kann sich in Worten, Handlungen und
nach überwiegender Ansicht auch in stillschweigender Billigung äußern.
Ist ein solcher einmal manifestiert, so bindet er die Muslime für
die Zukunft, im Bezug auf die konkrete Rechtsfrage. Streitfragen werden
auf diese Weise endgültig entschieden. Dieser Vorgang findet insbesondere
auch auf die Auslegung von Koran (Tafsir) und Sunna Anwendung, was zu der
Eigentümlichkeit des islamischen Rechts führt, dass der Rechtsanwender
diese Rechtsquellen nicht eigenständig interpretieren kann, sondern
an die islamisch begründbare Meinung anderer in Form des Idjma gebunden
ist. Das Prinzip des Idjma führt nun dazu, dass die Menge der Streitfragen
abnimmt. Beachtenswert ist auch, dass in den Fällen, in welchem sich
keine Übereinstimmung erzielen lässt, jedenfalls darüber
ein Konsens besteht, dass eine weitere neue, dritte Auffassung ausgeschlossen
ist. Durch diese Reduktion der Meinungen schränkt der Idjma den Idjtihad,
die selbstständige Rechtsfindung ein. Ein zum Idjtihad berechtigter
Jurist wird in den islamischen Ländern als Mudjtahid bezeichnet, wobei
zwischen einzelnen Graden der eigenständigen Rechtsfindung unterschieden
wird. Etwa ab der Mitte des islamischen Jahrhunderts[5] begann
sich die Vorstellung durchzusetzen, dass der Rechtsstoff ausreichend behandelt
sei, was bedeutete, dass nachfolgende Generationen an die Ansichten ihrer
allein zum Idjtihad berechtigten Vorgänger gebunden sind und somit
selbstständige juristische Argumentation der notwendigen Autorität
entbehrt. Aus den Rechtsquellen kann somit, nach überwiegender sunnitischer
Ansicht, nicht mehr selbstständig geschöpft werden, womit die
Pforte des Idjtihad (Bab al Idjtihad) geschlossen wurde. Diese Vorgehensweise
gilt nicht für die vierte Rechtsquelle des Islam, den Qiyas. Dieser
Analogieschluß ist als Ergebnis individueller menschlicher Erkenntnis
fehlbar und den anderen Rechtsquellen nicht gleichwertig.
Innerhalb der Sunniten, des Hauptstroms des Islams, welcher sich auch
in Ägypten durchgesetzt hat, bildeten sich in den ersten Jahrzehnten
des zweiten islamischen Jahrhunderts an verschiedenen Orten Rechtsschulen,
die sich in wesentlichen Fragen nicht gravierend voneinander unterschieden.
Aus diesen "alten" Schulen, die traditionell mit einem bestimmten Ort,
z. B. Medina verbunden sind, gehen im Laufe der Zeit auf verschiedene Gründer
zurückgehende Rechtsschulen (Madhahib) hervor, von denen heute noch
vier existieren: Hanefiten, Malekiten[6], Schafeiten[7]
und Hanbaliten.[8]
Die Hanefiten leiten sich von Abu Hanifa (700-767)[9] ab.
Dieser zahlenmäßig bedeutendsten Rechtsschule folgt in etwa
1/3 aller Muslime.[10] Die Vorgaben dieser Schule werden auch
im ursprünglich schafeitischen Ägypten angewandt. Nach teils
heftigen Auseinandersetzungen in der Vergangenheit erkennen sich nun die
sunnitischen Schulen gegenseitig als orthodox an, wertet doch ein Hadith
des Propheten Meinungsunterschiede in der Gemeinde als Segen.[11]
Ferner ist es einem Muslim gestattet, formlos von einer Rechtsschule in
die andere zu wechseln und sich des weiteren sogar nur bezüglich eines
bestimmten Rechtsakt einer Schule anzuschließen.
[1] Vgl. etwa Hartmann, Die Religion
des Islam 1944, S. 65ff.
[2] Vgl. Schacht, Introduction 1964,
S.66; Nasir, Islamic Law 1990, S.17.
[3] Nasir, Islamic Law 1990, S. 20f.
[4] Nasir, Islamic Law 1990, S. 22.
[5] Die islamische Zeitrechnung beginnt
mit der Hidschra, dem Auszug des Propheten
Mohammeds aus Mekka, am 15.06.622.
[6] Malek ist der Begründer der
malekitischen Schule, die sich von Medina nach Ägypten,
ganz Nordafrika, Zentralafrika und
Westafrika ausbreitete.
[7] Die schafiitische Schule ging
ursprünglich von Kairo aus, wo Schafii seine letzten Lebensjahre verbrachte.
Nach ihr richtet sich das islamische
Recht heute im unteren Ägypten, Südarabien,
soweit dort nicht die schiitische
Schule der Zaiditen vorherrschend ist, ferner in
Ostafrika und zum Teil im Irak. Schließlich
sind die Muslime in Indonesien, Malaysia und Südostasien
vorwiegend Schafiiten.
[8] Ibn Hanbal ist der Begründer
der nach seinem Vater benannten hanbalitischen Schule, die heute in
Saudi-Arabien offiziell anerkannt
ist. Einzelne Gruppen von Hanbaliten sind auch in Süd-Indien vertreten.
[9] Die genauen Lebensdaten der Gründer
der Rechtsschulen stehen nicht fest, so dass sie hier in
christlicher Zeitrechnung angegeben
werden.
[10] Rauscher, Familienrecht, 1987,
S.8.
[11] Klingmüller, Das Recht des
Islam 1988, Rn. 493.
II. Rechtliche Verankerung des Islam
Anfang 1956 wurden die religiösen Gerichtshöfe in Ägypten
abgeschafft und die ihnen noch verbliebenen Bereiche der Jurisdiktion den
weltlichen Gerichten übertragen. Seitdem ist in Ägypten die gesamte
Gerichtsbarkeit säkular. Die in Kraft befindlichen Gesetze haben ebenfalls
modern-westlichen Charakter, wenn sie sich auch insbesondere für die
Personenstandsregelungen an Sharia - Bestimmungen anlehnen. Allerdings
sind im Zuge der Akzentuierung des Islams die nie ganz gekappten Bezüge
des Rechts zur Sharia stärker betont und teilweise auch rechtlich
verankert worden. Die ägyptischen Verfassungen bestimmen seit 1923
den Islam als Religion des Staates - allein in der Verfassung der Vereinten
Arabischen Republik von 1958 fehlt eine solche Festlegung. In Art. 2 der
ägyptischen Verfassung von 1971 heißt es über die alte
Bestimmung hinausgehend: "Der Islam ist die Religion des Staates und das
Arabische seine offizielle Sprache. Die Prinzipien der Sharia sind eine
Hauptquelle der Gesetzgebung." Im Mai 1980 trat im Ergebnis eines Referendums
eine Verfassungsänderung in Kraft, die unter anderem den Wortlaut
des Artikels 2 so verschärfte, dass es nunmehr heißt: "Der Islam
ist Staatsreligion ...und die Prinzipien der Sharia sind die Hauptquelle
der Gesetzgebung." Dieser Verfassungsartikel trägt also der merkwürdigen
rechtlichen Situation in Ägypten Rechnung: Recht und Gerichtsbarkeit
haben säkularen Charakter, werden aber in Teilen des öffentlichen
Bewusstseins islamisch legitimiert und kommen daher in ihrer allgemeinen
Begründung und in manchen Einzelfällen nicht ohne Bezug auf die
Sharia aus.
III. Scheidungsrecht
In zahlreichen Staaten Nordafrikas und des nahen Ostens ist der Islam
zur Staatsreligion erklärt worden. In einigen islamischen Ländern,
die noch über kein, bzw. wie im Falle Saudi-Arabiens erst über
gewisse Ansätze zu einem eigenen Verfassungssystem verfügen,
ist die überragende Geltung des islamischen Rechts ganz selbstverständlich.
Darüber hinaus bildet das islamische Recht, das sogenannte Shariatrecht
(Sharia), nach ausdrücklicher Anweisung einer Reihe von Verfassungen
eine oder sogar die Hauptquelle für die Gesetzgebung.[12]
Zwar drängt sich in dieser Konstellation schnell die Frage auf, inwieweit
ein verfassungsrechtliches Bekenntnis zum Islam bzw. zum Shariatrecht praktische
Bedeutung hat und nicht nur einen leerlaufenden Programmsatz darstellt.
Immerhin impliziert aber die Verankerung der islamischen Glaubenslehre
in einer Verfassung zumindest eine gewisse Bindung der politischen Machthaber,
mit den grundlegenden Prinzipien und Leitsätzen der Religion nicht
in eklatanten und allzu offensichtlichen Widerspruch zu geraten. Familien-
und Erbrecht, das sogenannte Personalstatut (Qanun al- Alhwal as-Schahsiya)[13],
sind die eigentliche Domäne des islamischen Rechts. Die Lehre von
den islamischen Rechtsquellen (Usul al-Fiqh), d. h. von den schriftlich
fixierten oder mündlich überlieferten Aussagen und den auf ihnen
basierenden Methoden der Rechtsfindung, die geeignet sind, die Sharia für
den Menschen durchschau- und anwendbar zu machen, kristallisiert sich auch
für den Bereich des Personalstatuts als ein wichtiger Aspekt rechtstheoretischer
und –praktischer Beschäftigung heraus. Das islamische Personalstatut
im Sinne des Personalstatuts für die muslimische Bevölkerung
setzt generell das islamische Bekenntnis der Personen, sozusagen als die
conditio sine qua non, voraus. Somit steht nicht die staatliche Identität,
sondern die religiöse Identität im Vordergrund. In allen islamischen
Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, aber auch Afrikas und Südostasiens
werden die beiden Rechtsgebiete des Familien- und Erbrechts selbst in politisch
extremen Staaten noch eindeutig vom islamischen Recht bestimmt. Wegen der
weitreichenden Geltung des islamischen Rechts im Bereich des Personalstatuts
zeigen sich hier die Spannungen zwischen dem traditionellen religiösen
Recht und den Erfordernissen des modernen Lebens besonders deutlich. Nicht
zuletzt wegen der Anpassung des islamischen Rechts an die heutigen Lebensverhältnisse
vor allem im Bereich des Familienrechts, weniger im Erbrecht, ist eine
deutliche Tendenz zur Kodifizierung festzustellen. Gelegentlich beschränkt
sich der Gesetzgeber auf die gesetzliche Regelung einzelner reformbedürftiger
Rechtsfragen, wie das in Ägypten wiederholt geschehen ist. Die Zahl
der im Koran verankerten Verse mit Bezug auf das Familien– und Erbrecht
ist im Gegensatz zur tatsächlichen Rolle dieses Rechtszweiges in der
islamischen Gesellschaft eher gering. Nach Abu al-Fath (gest. 1570) beziehen
sich von den insgesamt ca. 6200 Koranversen lediglich ca. 500 auf das islamische
Recht, davon die meisten auf die Ibadat (religiöse Pflichten), jedoch
nur etwa 37 auf das Eherecht und 10 auf das Erbrecht.[14]
Das islamische Recht (Sharia) sieht verschiedene Gründe und Möglichkeiten
vor, die zu einer Auflösung der Ehe führen können. So beinhaltet
beispielsweise das ägyptische Familienrecht, welches - wie gesehen
- stark von dem islamischen Recht beeinflusst ist, die folgenden Scheidungsvarianten.
[12] Vgl. o. S.4
[13] Gleichbedeutend wird auch der
Begriff „Nizam“ verwendet.
[14] Löscher, H., Die dogmatische
Grundlagen des schiitischen Rechts, Köln, Berlin, Bonn, 1971, S. 76;
R. Zakaria beziffert die Anzahl der
auf das Personalstatut bezogenen Koranverse (nach A. al-W. I. Hallaf)
auf ca. 70: Zakaria, R. , The Struggle
within Islam. The Conflict between Religion and Politics.
Harmondsworth 1989, S. 33 Vgl. auch
Nagel, T., Der Koran, Einführung – Texte- Erläuterungen.
München 1991 (2.Aufl.), S. 299-318.
1) Der Talak:
Unter den vielfältigen Möglichkeiten ist der sogenannte "Talak"
die Gängigste. Da die Ehe nach islamischem Recht ein Privatvertrag
ist, der durch den Willen des Mannes mit Zustimmung der Frau zustande kommt,
kann sie auch durch den einseitigen Willen des Mannes gelöst werden.[15]
Talak im engeren Sinne wird in der Regel mit "Verstoßung", "Freigabe",
oder "Entlassung" ins Deutsche übersetzt. Definieren lässt sich
Talak als die auf Scheidung, d. h. auf Beendigung des ehelichen Lebens
in Gegenwart und Zukunft, hinweisende Formel (Sarih), die vom dazu Berechtigten
ausgesprochen wird. Der Berechtigte ist im konkreten Fall der Ehemann.
Damit die Erklärung wirksam wird, muß der Ehemann volljährig
und zurechnungsfähig (Art. 1/1929) sein, muslimischen Glauben haben
und zudem nach h. M. mit Scheidungswillen (Niya) handeln (Art. 2und 4/1929).
Des weiteren wird gefordert, dass eine gültige Ehe im Sinne des Gesetzes
besteht, ohne dass ein Nichtigkeitsgrund vorhanden ist. Nichtigkeitsgründe
liegen in der persönlichen Qualifikation der Ehewilligen, bei deren
Existenz die Heirat nicht gestattet ist und die weder durch Zeitablauf
(so z. B. Minderjährigkeit) noch durch Maßnahmen der Betroffenen
geändert werden können. Die Ehe wird in solchen Fällen allgemein
als nichtig (Batil) eingestuft. So unterscheidet man drei Arten von Ehehindernissen:
a) Die Verwandtschaft in gerader Linie – Blutsverwandtschaft (Qaraba)
Das Hindernis besteht in aufsteigender und absteigender Linie in allen
Graden, in der Seitenlinie zwischen Bruder und Schwester, Onkel und Nichte,
Großonkel und Großnichte, Neffe und Tante, Großneffe
und Großtante. Die Ehe zwischen Geschwisterkindern ist erlaubt (Cousine
und Cousin).
b) Die Schwägerschaft (Musahara)
c) Die Milchverwandtschaft (Rida)
Das Verhältnis von Amme und Kind wird dem von Mutter und Kind gleichgestellt.
Das Milchverwandtschaftsverhältnis entsteht rechtlich, wenn das Kind,
bevor es das Alter von zwei Jahren erreicht hat, von der Amme, wenn auch
nur vorübergehend, gestillt worden ist. Die Milchverwandtschaft hat
die gleichen Wirkungen wie die Blutsverwandtschaft.
Die Erscheinungsformen des Talak lassen sich nun danach differenzieren,
ob die Auflösung der Ehe widerruflich ist oder nicht. Die einfache
Trennung kann bis zum Ablauf der drei Menstruationsperioden dauernden Wartezeit
(Idda) von Seiten des Mannes widerrufen werden (Art. 5/1929). Von der einfachen
Trennung unterscheidet man den sogenannten dreifachen Talak. Wenn dieser
auf einmal ausgesprochen wird, ist die Scheidung unwiderruflich (ba´in).
Diese Regelung ergibt sich direkt aus dem Koran. So wird in Sure 2, Vers
229 gesagt: "Die Scheidung ist zweimal erlaubt, dann aber müsst ihr
sie mit Güte behalten oder im Guten entlassen." Dieser Vers spricht
somit die widerrufliche Scheidung an. Aus einem Vers weiter, in dergleichen
Sure (2, 230) ergibt sich: "Und so er sie (ein drittes Mal) entlässt,
so ist sie ihm nicht mehr erlaubt, ehe sie nicht einen anderen Gatten geheiratet
hat."
Ferner bleibt festzuhalten, dass solange der Talak einfach ausgesprochen
wurde, die Ehe fortbesteht; erst der dreifache Ausspruch hat demnach auflösende
Wirkung. Die an eine Bedingung gekoppelte Verstoßung (Talik at-Talak)
ist in Ägypten expressis verbis untersagt (Art. 2/1929).[16]
Fraglich und umstritten ist in der islamischen Literatur, ob die Scheidung
grundsätzlich als etwas Erlaubtes, oder als verwerflich anzusehen
ist.
Eine Auffassung beruft sich auf die verschiedenen Rechtsquellen des
Islams. So entnimmt Sie dem Koran in Sure 2, Vers 236 folgendes Zitat:
"Es ist keine Sünde für euch, wenn ihr Frauen nach der Eheschließung
entlasst, solange ihr sie noch nicht berührt habt, es sei denn ihr
habt für sie einen Pflichtteil ausgesetzt". Ferner wird aus der Sunna
(Tradition des Propheten) überliefert, dass der Prophet sich von Hafsa
trennte und sie dann wieder zurücknahm. Da aus dieser Überlieferung
keine Gründe für die Scheidung ersichtlich waren, der Prophet
jedoch nichts Verbotenes tun wird, gilt dies als Indiz, dass die Scheidung
grundsätzlich als erlaubt anzusehen sein könnte.
Die ganz herrschende Meinung der islamischen Rechtsgelehrten geht jedoch
davon aus, dass die Scheidung negativ zu beurteilen ist. Auch Sie berufen
sich erneut auf die Quelle des Koran, welcher zugegebenermaßen die
Scheidung, wie gesehen zulässt, ohne eine positive oder negative Wertung
diesbezüglich abzugeben. Jedoch wird in Sure 4, Vers 34 von den Muslimen
verlangt, sich nach einem Disput so schnell wie möglich wieder zu
versöhnen. Hieraus lässt sich der Auffassung der Rechtsgelehrten
folgend, ersehen, dass die Scheidung in jedem Falle die ultima-ratio darstellen
soll. Auch die h. M. stützt sich in ihrer Argumentation auf die Sunna
und führt an, dass der Prophet die Scheidung zwar anerkannt hat, diese
Gott jedoch gleichwohl verhasst sei. Belegt wird diese Behauptung durch
eine Überlieferung des Propheten: "Das Erlaubte, das Gott am Verhasstesten
ist, ist die Scheidung".[17]
Bei dieser Kontroverse ist jedoch einem allgemeingültigen Ausspruch
des Propheten immer Beachtung zu schenken: "Es soll keinen Schaden und
keine Schädigung geben." Daher bedeutet die Scheidung dann ein Unrecht,
wenn der Frau dadurch ein Schaden zugefügt wird. Im ägyptischen
Recht liegt die Macht bezüglich der Auflösung der Ehe in erster
Linie in der Hand des Mannes. Die Ehe ist mit der eindeutig auf die Scheidung
gerichteten Willenserklärung aufgelöst. Durch diesen recht formlosen
Vorgang besteht stets Gefahr, dass unüberlegte Scheidungen leichtfertig
ausgesprochen werden. Ferner wird es nicht leicht sein, eine die Zurechnungsfähigkeit
ausschließende Gefühlsregung nachzuweisen, um auf diese Weise
die Scheidungserklärung als nichtig betrachten zu können.[18]
Um jedoch auch bei Bestehen derartiger Konstellationen dem Mann die Möglichkeit
zu bieten, sich seinen Schritt nochmals zu überlegen, ist, von wenigen
Ausnahmen abgesehen, die Scheidung grundsätzlich widerrufbar. Begründet
wird diese Möglichkeit mit einer Stelle im Koran. So wird aus Sure
II, 231 entnommen, dass der Mann vor Ablauf der Wartezeit die Möglichkeit
hat, seine Frau wieder zurückzunehmen, oder durch Verstreichenlasssen
einer bestimmten Wartezeit, die Scheidung endgültig werden zu lassen.
Bedenkt man jedoch, dass wie bereits gesehen, die Scheidung grundsätzlich
als etwas Negatives anzusehen ist, ist die Widerrufung der endgültigen
Trennung vorzuziehen. Die Widerruflichkeit bedeutet im Einzelnen, dass
der Mann innerhalb einer festgesetzten Wartezeit die Möglichkeit hat,
die Ehe auch nach ausgesprochener Scheidung fortzusetzen, ohne dass es
dazu eines erneuten Ehevertrages bedarf oder der Vereinbarung einer weiteren
Morgengabe. Ein Widerruf ist somit nur bis zum Ablauf der gesetzlichen
Wartefrist möglich. Verstreicht diese Frist, ohne dass der Mann die
Willenserklärung abgegeben oder das eheliche Leben erneut aufgenommen
hat, so wird die Scheidung endgültig. Dem Mann ist es dann nur gestattet
die Frau nach einem neuen Ehevertrag und der Entrichtung einer weiteren
Morgengabe erneut zu heiraten.
[15] Prader, Bergmann/Ferid, S. 16.
[16] In Jordanien ist diese laut Art.
96 erlaubt.
[17] Die Echtheit dieser Überlieferung
wird teilweise in Frage gestellt, da es unerklärlich
scheint, dass eine Gott verhasste
Sache überhaupt erlaubt sein kann.
[18] Vgl. o. S.6.
2) Talak-i Tafwid:
Zum Schutz der muslimischen Frau haben sich im traditionellen muslimischen
Recht Möglichkeiten hervorgetan, wodurch sich die Frau ein vertraglich
von den Rechten des Mannes abgeleitetes Recht einräumen lassen kann,
wodurch sie den Talak selbst vornehmen kann ("Talaq-i Tafwid).[19]
In Ägypten ist die Trennung grundsätzlich noch ohne die Angabe
von Gründen auf Grund des nicht kodifizierten islamischen Rechts möglich.
Der Mann muß jedoch innerhalb von 30 Tagen eine amtliche Bescheinigung
über die Trennung ausstellen lassen. Der Urkundenbeamte muss sodann
die geschiedene Frau benachrichtigen, falls die Scheidung in ihrer Abwesenheit
stattgefunden hat (Art. 51/1929). Zum Schutz der Frau treten die vermögens-
und erbrechtlichen Wirkungen der Scheidung im Verhältnis zur getrennten
Ehefrau erst ab dem Zeitpunkt ihrer Kenntnis ein (Art. 5a Gesetz Nr. 25/1929
in der Fassung des Gesetzes Nr. 100/1985). Ist somit wie in Ägypten
die Scheidung noch ohne größere Beschränkungen zulässig,
sollen häufig finanzielle Sanktionen einen gerechten Ausgleich bewirken.
Gleichzeitig stellen sie eine bedeutsame Erschwerung dar. In Ägypten
soll der Abfindungsanspruch wenigstens dem Unterhalt von zwei Jahren entsprechen
(Art. 18a Gesetz Nr. 25/1929 in der Fassung des Gesetzes Nr. 100/1985).
Dem Ziel einer ungebremsten und willkürlichen Verstoßungspraxis
entgegenzuwirken, dienen auch die in den Familiengesetzen festgeschriebenen
Anforderungen an die Form des Talak. Dabei handelt es sich um vier wesentliche
Elemente: Gerichtliche Mitwirkung, Zeugenbeweis, amtliche Registrierung
und Informationspflicht.
[19] Vgl. Art. 142 ZGB.
3) Die gerichtliche Scheidung (Talak Amam al-Qada)[20]:
Abgesehen von dem oben betrachteten Recht der Frau, wonach sie den Talak
selbst aussprechen kann, was jedoch eher selten Anwendung findet, besteht
nach islamischem Recht für die Frau die Möglichkeit, unter eng
umrissenen Voraussetzungen im Einzelnen eine richterliche Scheidung zu
bewirken. Diese Erweiterung der Scheidungsformen im islamischen Recht durch
die gerichtliche Scheidung gründet sich in erster Linie auf malikitische
Auffassungen, welche zunächst in die ursprünglich hanefitischen
Familienkodifikationen des Osmanischen Reiches 1917 und Ägyptens 1920
und 1929, später auch in die modernen Familiengesetze arabischer Länder
eingeflossen sind. Voraussetzung für eine solche gerichtliche Scheidung
ist jedoch, dem Gesetz folgend (Art. 6-11/1929), dass zwei Schiedsrichter
(Hakaman) sich zunächst bemühen sollen, die Streitigkeiten zwischen
den Eheleuten zu schlichten und eine voreilige Scheidung auf Grund eines
Zerwürfnisses (Hilaf), einer Zwietracht (Siqaq) oder der Abneigung
gegen den Ehemann (Karahiya) zu verhindern. Als Anhaltspunkt werden im
Koran Sure 4, 39 sowie 4, 127 herangezogen:[21] " Und so ihr
einen Bruch zwischen beiden befürchtet, dann sendet einen Schiedsrichter
von ihrer Familie und einen Schiedsrichter von seiner Familie. Wollen sie
sich aussöhnen, so wird Allah Frieden zwischen ihnen stiften". "Und
so eine Frau von ihrem Ehemann rohe Behandlung oder Abneigung befürchtet,
so begehen sie keine Sünde, wenn sie sich versöhnen, denn Versöhnung
ist das Beste".
Aus diesen Versen und dem im Koran mehrfach erwähnten Grundgedanken,
dass der Mann seiner Frau keinen Schaden zufügen darf[22]
und dass er ihr die Wahl geben kann die Ehe fortzusetzen oder nicht,[23]
entwickelte sich die Lehre, nach welcher die Frau sich in bestimmten Fällen
mit dem Antrag auf Scheidung an den Richter wenden kann. Derartige Scheidungsgründe
können folgender Natur sein:
a) Körperliche Defizite des Ehemannes
Nach einhelliger Meinung findet die Vorschrift auf alle Krankheiten
Anwendung, die nicht oder erst nach langer Zeit zu heilen sind und die
den Ehegatten bei weiterem Zusammenleben gefährden (Art. 9-11/1929).
b) Trennung wegen Schadenszufügung
Hierunter fällt ein der Ehefrau zugefügter Schaden oder Nachteil
(Darar), der physische oder psychische Folgen hervorruft, die das Zusammenleben
künftig unmöglich machen (Art. 6-11/1929). Der Koran ermahnt,
wie festgestellt, verschiedentlich die Männer, ihre Frauen gut zu
behandeln. Als Umkehrschluss hat demnach die Frau das Recht von ihrem Ehemann
eine gute Behandlung zu verlangen. So hat auch der Koran die Möglichkeit
einer Trennung auf Initiative der Frau genannt, wenn der Mann seinerseits
seinen Pflichten der Frau gegenüber nicht nachkommt. So steht in Sure
IV, 128 geschrieben: "Und wenn eine Frau (ihrerseits) fürchtet, dass
der Mann (ihr) dauernd Schwierigkeiten bereitet, oder (ihr) abgeneigt ist,
ist es für beide keine Sünde, sich friedlich zu einigen. Es ist
besser sich friedlich zu einigen, (als im Unfrieden zu leben)". Wenn eine
solche friedliche Einigung nicht möglich ist, kann die Frau ihren
Fall dem Richter vortragen. Bei diesem Vorgang sind sodann zwei Fälle
zu unterscheiden:
aa) Streit zwischen den Ehegatten, wobei es gleichgültig ist, von
wem der Streit ausgeht;
bb) Schädigung der Frau durch den Mann;
Zu aa)
Der zuständige Richter, bei welchem die Trennungsklage der Frau
wegen Streits erhoben wird, hat einen Schlichtungsversuch vorzunehmen.
Er hat je einen Schiedsrichter aus der Familie des Mannes und aus der Familie
der Frau zu ernennen, die den Versuch der Aussöhnung der Ehegatten
zu unternehmen haben. Dieser Vorgang, beruhend auf den Vorschriften des
Koran, ist ein unumgängliches Erfordernis. Nicht aus dem Koran ersichtlich
ist, was bei Misslingen der Schlichtung zu geschehen hat. Aus dem Bedürfnis
heraus, der Frau in der Ehe größeren Schutz zu gewähren,
folgt heute die moderne Rechtslehre und Gesetzgebung der malekitischen
Rechtsschule. Diese geben den bestellten Schiedsrichtern, bzw. dem Richter
das Recht, die Ehe zu trennen, wenn keine Aussöhnung der Ehegatten
gelingt.
Zu bb) Die Schädigung der Frau durch ihren Ehemann unterliegt denselben
Regeln, die zur Frage des Streits entwickelt wurden.
c) Trennung wegen Nichterfüllung der Unterhaltspflicht[24]
(Adam al-Infaq)-(Art. 4-6/1920)
Bei der Bestreitung des Unterhalts handelt es sich um eine Schuld des
Mannes der Frau gegenüber. Allein der Mann ist zum Unterhalt
verpflichtet, wobei es keine Rolle spielt, ob die Frau wohlhabend oder
mittellos ist. Diesbezüglich herrscht Einigkeit in der gesamten Rechtslehre.
Nicht einig sind sich die Rechtsgelehrten jedoch darüber, ob die Frau
bei mangelndem Unterhalt ein Scheidungsrecht besitzt, wobei erneut zwei
Konstellationen zu betrachten sind. Ist der Mann nicht gewillt Unterhalt
zu zahlen, oder kann er es schlicht nicht.
aa) Die Hanafiten wollen der Frau kein Scheidungsrecht wegen finanzieller
Mittellosigkeit des Mannes geben. Sie stützen sich dabei auf folgenden
Koranvers aus der Sure 65, 7:" Wer über genügend Mittel verfügt,
soll die Ausgaben dementsprechend reichlich bemessen. Wer dagegen in seinem
Lebensunterhalt beschränkt ist, soll von dem Wenigen ausgeben, was
Gott ihm gegeben hat. Gott verlangt von niemand mehr, als was er ihm gegeben
hat".
bb) Die Mehrheit der Rechtsgelehrten[25] gibt der Frau das
Recht, die Scheidung zu beantragen, wenn ihr der Mann den Unterhalt nicht
gewährt, egal welchen Grund er dafür aufführt. Gestützt
wird dieses Urteil auf die Koranverse der Sure 2, 229 und 231:" Dann (sind
die Frauen entweder) in rechtlicher Weise (zu) behalten, oder auf ordentliche
Weise frei (zu) geben..."und"...Behaltet sie (d. h. die Ehefrauen) nicht
aus Schikane, um (auf diese Weise die Gebote Gottes) zu übertreten..."
Heute ist der Frau nach ägyptischen Recht gestattet unter den folgenden
Umständen die Scheidungsklage einzureichen:
d) Trennung wegen langer Abwesenheit des Mannes (Ghaiba)[26]
Im islamischen Recht hat jede Ehefrau ein Recht auf Sympathie und Zuneigung
ihres Mannes, sowie auf die eheliche Lebensgemeinschaft. Versagt ihr der
Mann diese, indem er sich von ihr abwendet oder indem er sich längere
Zeit von ihr trennt, kann dies als ein Schaden angesehen werden, der die
Frau zur Erhebung der Scheidungsklage berechtigt. Auch bezüglich dieses
Scheidungsgrundes besteht innerhalb der Rechtsschulen keine Einigkeit (Art
12/1929).
aa) So lehnen die Hanafiten und Schafiiten die Abwesenheit des Mannes
als einen Scheidungsgrund ab.
bb) Die Hanbaliten und Malikiten hingegen, lassen bei unentschuldigter
und längerer Abwesenheit des Mannes die Scheidung zu, wenn sich die
Frau dadurch als geschädigt betrachtet.
Auch eine mehrjährige [27] Gefängnisstrafe (Habs)
des Ehemannes berechtigt die Frau zur Beantragung einer gerichtlichen Scheidung,
gemäß Art. 14/1929.
e) Trennung wegen Polygamie
Die Polygamie wird heutzutage weithin gesetzlich stark eingeschränkt.
Bisher ist sie allerdings nur in Tunesien ausdrücklich verboten worden
(Art. 18 PStG). Grundsätzlich ist es somit in den meisten islamischen
Ländern[28] dem Mann gestattet vier Frauen zu heiraten,
wenn und nur solange er bestimmte Voraussetzungen erfüllt. Rechtsgrundlage
hierfür ist erneut der Koran, welcher zu diesem Thema in Sure 4, 4
Stellung nimmt: "Überlegt gut und nehmt nur eine, zwei, drei oder
höchstens vier Ehefrauen. Fürchtet ihr jedoch ungerecht zu sein,
so nehmt nur eine..." Zu beachten bleibt aber, dass sich die Ehefrau bei
ihrer Hochzeit mittels eines Ehevertrages auch zusichern lassen kann, dass
sie das Recht auf eine gütliche Scheidung hat, falls sich ihr Mann
ein weiteres Mal verheiratet. So wurde als eine praktisch revolutionäre
Neuerung in den dreißiger Jahren der § 130 gesehen, welcher
der Ehefrau gestattet die Scheidung dann zu beantragen, wenn ihr Mann ohne
ihr Einverständnis eine weitere Frau heiratet. § 130 lautet:
aa) Vertraglicher Ausschluss der Mehrehe:
Die Frau, deren Gatte eine andere Frau hinzuheiratet, kann auch, wenn
sie sich im Ehevertrag nicht ausbedungen hat, dass er keine andere Frau
dazuheiraten werde, die Trennung zwischen ihr und ihm innerhalb von zwei
Monaten nach Kenntnisnahme der zweiten Ehe verlangen, wenn sie sich nicht
tatsächlich oder stillschweigend damit abgefunden hatte.
bb) Ständiges Recht:
Ihr Recht, die Scheidung zu verlangen, steht ihr jedes Mal von neuem
zu, wenn er eine andere Frau hinzuheiratet.
cc) Offenlegung des Personalstandes:
War die neue Gattin der Meinung, dass ihr Mann mit keiner anderen verheiratet
ist, so kann sie, wenn sich herausstellt, dass er schon verheiratet war,
die Trennung verlangen.
Zudem trifft den Mann, welcher eine Mehrehe anstrebt, seit 1979 gesetzlich
die Pflicht, seinen Personenstand offenzulegen, damit der zuständige
Urkundenbeamte die erste Ehefrau des Mannes über die beabsichtigte
weitere Eheschließung unterrichten kann (Art. 11a Gesetz Nr. 100/1985).
f) Trennung wegen Änderung des Glaubens
Als sechster Trennungsgrund zu Gunsten der Frau kennt das islamische
Recht die Änderung der Religion des Ehegatten. Zwei Grundprinzipien
sind hierfür maßgebend.
aa) Rechtsfolge der Apostasie:
Nach islamischem Recht ist der Abfall vom Islam eine so schwerwiegende
Verfehlung, dass dem Apostaten aufgetragen wird, seine Abwendung vom Islam
geheim zu halten und somit nicht an die Öffentlichkeit zu tragen.
Wenn diese Person jedoch dazu übergeht, weitere Muslime dazu zu veranlassen,
sich von ihrer Religion abzuwenden, so soll dieses Verbrechen mit der Todesstrafe
geahndet werden. Die Rechtsgelehrten berufen sich auf die Koranstelle in
Sure 4, Vers 88-89, in der befohlen wird, irregeführte Heuchler als
Gefahr für die Gemeinschaft der Gläubigen zu betrachten, und
wenn sie sich abkehren, sie zu greifen und zu töten, wo immer sie
die Gläubigen finden. Das islamische Gesetz, wie schon der Koran selbst,
hält die Apostasie für die schwerste Sünde überhaupt
und für einen Angriff gegen Gott und die Gemeinschaft.
bb) Absolutes Hindernis der Eheschließung:
Die arabischen Familiengesetze erlauben direkt oder indirekt die Ehe
zwischen einem Muslim und einer Angehörigen einer Buchreligion (Kitabiya),
jedoch wird das auf den Koran (Sure 2, 220) gestützte Verbot der Heirat
einer muslimischen Frau mit einem nichtmuslimischen Mann als absolutes
Hindernis deklariert und die Ehe daher im Allgemeinen als nicht gültig
eingestuft. Eine Muslima darf somit nicht mit einem Nicht-Muslim verheiratet
sein
Fällt ein Ehepartner vom Islam ab, so muss die Ehe geschieden werden.
Diesbezüglich herrscht Einigkeit innerhalb der vier Rechtsschulen.
Auch in den Fällen der gerichtlichen Scheidung ist heute häufig
eine angemessene Entschädigung von demjenigen zu zahlen, der das Scheitern
der Ehe verschuldet hat. Der Ehemann muss etwa eine Entschädigung
in Höhe des Unterhalts von bis zu einem Jahr zahlen, während
die Frau zu einer Entschädigung bis zur Höhe ihrer Morgengabe
(Mahr) verurteilt werden kann. Die Festsetzung des angemessenen Ersatzes
(Badal Munasib), der je nach den Umständen zu zahlen ist, kann auch
ganz dem Gericht übertragen sein (Art. 10f. Gesetz Nr. 25/1929 in
der Fassung des Gesetzes 100/1985 in Ägypten).
[20] Z.T. auch unter fash (Aufhebung,
Annulierung) erfasst.
[21] Rauscher, Familienrecht 1987,
S. 111.
[22] Siehe Sure 2, 231; 4, 19.
[23] Siehe Sure 33, 28f.
[24] Fehlende Unterhaltsleistungen
müssen jedoch nicht unmittelbar zur Eheauflösungen führen.
[25] Malekiten, Schafeiten, Hanbaliten.
[26] Im allgemeinen länger als
ein Jahr. Dies steht im Zusammenhang mit der dadurch nicht geleisteten
Nafaqa.
[27] Mehr als drei Jahre.
[28] Außer Tunesien.
IV. Aktuelle Neuerungen im ägyptischen Familienrecht:
Die Khula- Scheidung
Das ägyptische Parlament verabschiedete Ende Januar 2000 ein neues
Personenstandrecht. Kern des neuen Ehe- und Familiengesetzes ist eine erleichterte
Scheidung, sowie ein vereinfachtes Regelwerk. Das neue Gesetz ist am 29.02.2000
in Kraft getreten. Die Vielzahl der Gesetze des ägyptischen Familienrechts,
welches aus 6 Bänden und über 600 Artikeln bestand, wurde im
Zuge dieser Veränderungen auf ein Gesetzesbuch reduziert, mit jetzt
nur noch 81 Artikeln. Die Anrufung des neuen Familiengerichts erfolgt kostenfrei.
Anwälte werden für diesen Vorgang in Zukunft nicht mehr benötigt,
da beide Ehepartner vor Gericht persönlich erscheinen müssen
oder einen Vertreter bestimmen können. Zur Zeit sind in Ägypten
etwa 1,5 Mio. Scheidungsklagen anhängig (geschätzte Bevölkerung
65 Mio.). So wurde in der Vereinten Arabischen Republik Ägypten eine
Uno-Konvention ratifiziert, welche sich zum Ziel gemacht hat, jegliche
Diskriminierung gegen Frauen zu unterbinden. Im Bereich des Familienrechts
soll in erster Linie die Möglichkeit der Scheidung von Seiten der
Frau erleichtert werden. So wird in das Familienrecht das Institut der
Khula aufgenommen, eine alte islamische Regelung, welche auf den Propheten
selbst zurückgeht. Inhalt der Khula ist es, dass sich eine Frau scheiden
lassen kann, indem sie quasi als Kompensation die Morgengabe zurückgibt
und auf alle weiteren Ansprüche verzichtet. Bisher waren in Ägypten
Scheidungen für Frauen nur auf gerichtlichen Wege zu erreichen. In
einem solchen Verfahren, welches sich nicht selten über einen Zeitraum
von Jahren erstreckte, musste die Frau triftige Gründe vorlegen, die
eine Scheidung möglich machten[29], so beispielsweise der
Nachweis von Grausamkeit oder Gewalttätigkeit des Ehemannes. Mit der
Einführung der Khula- Scheidung versuchte das Justizministerium dem
Wunsch von scheidungswilligen Frauen zu entsprechen, ohne Begründung
und Beweise geschieden zu werden und dennoch das islamische Recht, die
Sharia, zu respektieren. So soll in Zukunft ein neuzuschaffendes Familiengericht
einen prozessökonomischeren Weg schaffen, der die Möglichkeit
der herkömmlichen Scheidung jedoch nicht abschneidet.
Wie nach einer Scheidung vor Gericht, muß der Vater auch nach
einer Khula-Scheidung Alimente für die aus der Ehe hervorgegangenen
Kinder bezahlen. Tut er dies nicht, so kann sich die Mutter an die Nasser-Bank
wenden, bei der ein spezieller Fonds eingerichtet wurde, wodurch die Unterhaltszahlungen
vorgeschossen werden und sich die Bank anschließend das Geld bei
dem Vater wieder zurückholen kann.
Um die Widerstände konservativer Gegner auszuräumen, brachte
Groß-Sheikh Mohammed Sayyid Al-Tantawi (oberste religiöse Autorität
der Al-Azhar Moschee in Kairo) zu Beginn der parlamentarischen Debatte
vor, dass "nur ein Mann ohne Würde seine Frau zwingt, gegen ihren
Willen bei ihm zu bleiben". Weiterhin führte er an, dass die Khula,
wie gesehen, im islamischen Recht verankert und der Frau somit eine Scheidung
gegen "Entgeld" erlaubt sei. Er begründete dies mit mehreren Aussagen
aus den Ahadithen, aus welchen hervorgehe, dass die Frau nur verpflichtet
sei, ihrem Ehemann die vor der Ehe festgesetzte Morgengabe zurückzuerstatten.
[29] Vgl. o. S.9.
B.
I. Islamisches Prinzip der Hisba
Der Beklagte Nasir Hamid Abu Zaid, Dozent für Islamstudien und
Rhetorik an der Universität in Kairo, stand zu der Zeit, als er noch
in Ägypten lebte, unter anderem dafür ein, dass der Islam alleine
mit dem Koran gelebt werden könne, ohne die Sunna miteinzubeziehen.
Die Lebensweise des Propheten sei Idjtihad (selbstständige Rechtsfindung)
des Propheten als Staatsmann gewesen und beziehe sich lediglich auf die
medinensische Zeit. Die Befolgung der Sunna sei somit nicht nötig.
Darüber hinaus seien die heiligen Texte des Koran von den entsprechenden
historischen und gesellschaftlichen Veränderungen nicht ausgenommen.
Nicht der bloße Wortlaut, sondern der den Worten innewohnende Sinn
müsse Orientierung für eine moderne Koraninterpretation sein.
Diesen Sinn könne man aber nur auf der Grundlage des jeweiligen historischen
und sozialen Kontextes, der hinter dem Text liege, verstehen. Abu Zaid
betonte desweiteren, dass diese Form von historisch-kritischer Annäherung
an den koranischen Text, die göttliche Offenbarung in keiner Weise
in Frage stelle. Das wiederum bedeute jedoch nicht, dass die heiligen Texte
des Koran von den entsprechenden historischen und gesellschaftlichen Veränderungen
ausgenommen seien. Desweiteren müsse man, eine Methodik der Koraninterpretation
finden, die den Erfordernissen der modernen Zeit entspreche. Durch diese
Entwicklung bedingt werden sodann Fragestellungen aufgeworfen, die den
folgenden Hintergrund aufweisen: Grundlage aller gängigen theologischen,
politischen und wissenschaftlichen Interpretation des Korans sei das orthodoxe
Konzept des koranischen Textes. Dies zu hinterfragen sei tabu. Die Vorherrschaft
der orthodoxen Theologie, die politische Instrumentalisierung des Korans
und das feierliche, prahlerische Reden vom Islam und seiner Offenbarung,
das seinen Hintergrund in der politischen und kulturellen Schwäche
der islamischen Welt hat, sind kennzeichnend für unseren modernen
religiösen Diskurs. Weshalb steuert die islamische Welt so wenig bei
zur weltweiten wissenschaftlichen Forderung? Die Antwort des religiösen
Diskurses lautet einfach, der Bezugsrahmen der islamischen Wissenschaft
sei der Koran. Das ist eine bloße Worthülse, um die offenkundige
Überlegenheit des Westens zu kaschieren, ein Phantasieprodukt, das
nichts erklärt und mit Wissenschaft nichts zu tun hat. Bei uns wird
so viel über die Koranwissenschaften gesprochen. Aber das Gerede verbirgt
nur die Angst, dass dieses Fach als wirkliche Wissenschaft betrieben werden
könnte und wir die Prämissen entwickelten, die Voraussetzung
für eine neue Hermeneutik des Korans wären, für eine Theorie
der Interpretation, die den Koran als sprachlichen Text behandelt.[30]
Verständlicherweise lösten diese Aussagen Abu Zaids in der
arabischen Welt, und dort insbesondere in seinem Heimatland Ägypten,
nicht gerade Begeisterungsstürme aus. Zudem brachte Abu Zaid vor,
dass die Interpretation des Koran durch den Propheten vollzogen wurde,
somit menschlich und fehlbar sei, bedenkt man, dass der Prophet auch "nur"
ein Mensch war.[31] Damit ergibt sich für ihn eine vollkommen
freie Interpretationsfähigkeit des Koran. Dieser Ansatz widerspricht
jedoch, nach der Ansicht der meisten Rechtsgelehrten der islamisch wissenschaftlichen
Auseinandersetzung mit Fiqh, d. h. der Wissenschaft von der Sharia. Dem,
für Muslime sakralen Wissen des Koran, der Grundquelle der islamischen
Lehre, liegt ein statischer Wahrheitsbegriff zugrunde. Dieser steht, nach
einer Formulierung des Islamwissenschaftlers Gustave von Grunebaum im Gegensatz
zum "dynamischen Begriff einer relativen, provisorischen, im Verlauf der
Geschichte sich ändernden Wahrheit" des westlichen Menschen. Für
den gläubigen Muslim gilt einvollständig im Einklang mit der
Sharia, d. h. mit dem Gesamtkorpus der islamischen Lebensregeln, verlaufendes
Leben als die höchste Stufe der Daseinsentfaltung im Sinne der göttlichen
Erwartungen.
Abu Zaids Aussagen blieben in seinem Heimatland nicht ohne Folgen. Auf
Antrag einer Gruppe kairener Rechtsanwälte um den ehemaligen Staatsbeamten
und Schahin[32]-Schüler Muhammed Samida Abu Samada wurde
beim Familiengericht in Kairo-Gizeh eine Scheidungsklage der Eheleute Abu-Zaid
eingereicht. Die Anklage lautete: Glaubensabfall vom Islam, Apostasie.
Da eine Muslima nicht mit einem Nicht-Muslim verheiratet sein darf [33],
war es im konkreten Fall möglich, die Scheidung ohne Einwilligung
der Betroffenen zu vollziehen. Doch zunächst musste sich die Gruppe
um Samida zunächst eine Niederlage eingestehen: Nach einem Verfahren
mit internationaler Medienpräsenz und teilweise tumultartigen Szenen
im Gerichtssaal wurde die Klage am 27.01.1993 mit deutlichen Worten abgewiesen-
mit der Begründung, die Kläger hätten "kein legales Interesse"
an der Klage. Zwar kündigten diese rasch an, in Berufung zu gehen,
jedoch spielte sich das Verfahren von nun an jenseits der internationalen
Medienberichte ab. Zu aussichtslos erschien jetzt die Klage. Hinzu kam,
dass sich die Gerichtsverhandlungen fast ausschließlich um formale
Fragen drehten. Auch als der Richter ausgetauscht wurde und der als gemäßigt
geltende Faruq Abdelalim Mousa den Vorsitz übernahm, erregte das kaum
Argwohn. Doch am 14.06.1995 verkündete Richter Abdelalim Mousa die
Scheidung der Eheleute. Somit wurde in zweiter Instanz die Ehe des Professors
für nichtig erklärt. Der ägyptische Kassationshof hat diese
Entscheidung im August 1996 bestätigt.[34] Das Gerichtsurteil
wurde vom Westen, wie von namhaften islamischen Gelehrten, wie dem Publizisten
Muhammad Ammara scharf kritisiert: "Was gewinnt der Islam durch die Trennung
eines verheirateten Ehepaares?", fragte er in der islamisch geprägten
Wochenzeitung Asch-Schaab.
Aus deutscher Sicht betrachtet, liegt das Hauptaugenmerk auf der Frage,
der rechtlichen Voraussetzungen der Klageerhebung, der sogenannten "Prozessvoraussetzungen".
Hierin schreibt der deutsche Gesetzgeber aus Ordnungsinteressen, allgemeine
Zweckmäßigkeits- und Gerechtigkeitserwägungen vor, die
vorhanden sein müssen, bevor das Gericht sich inhaltlich und materiell
mit dem Klagbegehren befasst. Zu den Prozessvoraussetzungen zählt
auch die Prozessführungsbefugnis bzw. die Prozessstandschaft, welche
die Möglichkeit beinhaltet, ein fremdes Recht im eigenen Namen geltend
machen zu dürfen. Ob eine zulässige Prozesstandschaft vorliegt,
ist eine Frage der Zulässigkeit der Klage und damit Prozessvoraussetzung.
Voraussetzungen der Prozessstandschaft:
Im deutschen Recht hat die Prozessstandschaft im allgemeinen zwei Voraussetzungen:
a) Einverständniserklärung:
Der Inhaber des konkreten Rechts muss mit der Rechtsverfolgung durch
einen anderen einverstanden sein.
b) Berechtigtes Interesse:
Ferner muss für eine Prozessstandschaft ein berechtigtes Interesse
nachgewiesen werden.[35]
In Ägypten wurde nun versucht, das Recht zur Unwirksamkeitserklärung
der Ehe im Wege der Popularklage geltend zu machen. Diese Möglichkeit
sollte aus dem islamischen Prinzip der Hisba abgeleitet werden. Der islamische
Jurist Al-Mawardi[36] definiert Hisba als "die Pflicht, das
Gute zu befördern, sollte bekannt werden, dass von ihm abgewichen
wird und das Schlechte zu verhindern, sollte bekannt werden, dass es begangen
wird". Im Allgemeinen obliegt diese Aufgabe jedem Muslim, so dass jeder
das Recht, aber auch die Pflicht zur Hisba hat. Auch wenn einige Gelehrte[37]
davon ausgehen, dass die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit
und Ordnung eine staatliche Aufgabe und somit der Disposition des Einzelnen
entzogen sei, so hat sich doch in der ägyptischen Rechtsprechung der
letzten Jahre ein entgegengesetztes Bild abgezeichnet. Bezüglich der
fraglichen Konstellation, ob es überhaupt noch in der Hand eines Einzelnen
liegen kann, die Hisba auf gerichtlicher Ebene für sich in Anspruch
zu nehmen, hat die ägyptische Judikatur wiederholt bestätigt,
dass dies grundsätzlich als rechtlich zulässig anzusehen ist.[38]
Wie oben bereits festgestellt, richtet sich das Familienrecht in Ägypten
weiterhin im Grundsatz nach islamischen Recht.[39] Das Ehehindernis
der Religionsverschiedenheit ist ein allgemeiner Grundsatz des islamischen
Familienrechts, der auch heute noch in der ägyptischen Rechtsprechung
Anwendung findet.[40] Diese Anwendung gilt gleichermaßen
für das Verbot des Religionswechsels.[41] Wie bereits dargelegt
erscheint aus juristischer Sicht nun die Frage nach der Zulässigkeit
der Klage von Relevanz. Wie kann es den Klägern gestattet sein, auf
Feststellung der Nichtigkeit der Ehe des Rhetorikprofessors zu klagen?
Beachtet werden muss hierbei, dass das Prozessrecht sich auch in familienrechtlichen
Streitigkeiten nach der Zivilprozessordnung richtet. Art. 3 der ägyptischen
Zivilprozessordnung (Gesetz Nr. 13/ 1968) bestimmt wiederum: "Eine Klage
ist nur dann zulässig ... wenn der Kläger mit ihr ein rechtlich
anerkanntes Interesse verfolgt." Das von der Zivilprozessordnung proklamierte
Rechtsschutz- und Feststellungsinteresse, so der Kassationshof, folge hier
jedoch aus dem oben erwähnten islamischen Prinzip der Hisba: Das allgemeine
Rechtsschutzinteresse als Sachurteilsvoraussetzung, so das Gericht, sei
eine Frage des Prozessrechts. Insoweit finde die Zivilprozessordnung Anwendung.
Ob hingegen ein Interesse vorliege, sei eine Frage, die mit dem klagweise
geltend gemachten Anspruch zusammenhänge. Dies sei daher eine Frage
des materiellen Rechts, die bei einer familienrechtlichen Streitigkeit
nach islamischen Recht zu beurteilen sei. Das Prinzip der Hisba sei ein
anerkannter Grundsatz des islamischen Rechts. Das islamische Recht gestattet
es einem jedem Muslim Klage zu erheben, wenn die "Rechte Gottes" verletzt
werden. Zu diesen im Interesse der Allgemeinheit bestehenden Vorschriften,
so dass Gericht weiter, gehöre insbesondere auch das Ehehindernis
der Religionsverschiedenheit.[42] Bei dieser vom ägyptischen
Kassationshof entwickelten "Hisba-Rechtsprechung" handelt es sich um einen
anerkannten,[43] wenn auch nicht vollkommen unangefochtenen
Grundsatz des ägyptischen Zivilprozessrechts.[44] Erst
durch die Heranziehung der Hisba zur Begründung des Interesses i.
S. v. Art. 3 äg. ZPO eröffnete sich das Gericht die Möglichkeit,
über die vom Fall aufgeworfenen materiell-rechtlichen Fragen zu entscheiden.
Jedoch hat auch das ägyptische Parlament erkannt, dass das Institut
der Hisba eine Tendenz zur Missbräuchlichkeit aufweisen kann. Durch
dieses Rechtsmittel könnte sich in islamischen Ländern eine Entwicklung
abzeichnen, durch welche Gerichte für politische Zwecke und Meinungen
in Anspruch genommen werden, indem man die Rechtgläubigkeit einzelner
Bürger einer gerichtlichen Nachprüfung unterzieht. Um einem derartigen
Fortgang vorzubeugen, erließ das Parlament in Ägypten im Januar
1996 ein neues Gesetz zur "Regelung des Verfahrens der Hisba – Klage in
Personalstatusangelegenheiten".[45] Mit dieser Neuregelung sollte
sogenannter "geistiger Terrorismus" (Al Irhab al Fikri) unterbunden werden,
titelte jedenfalls die Tageszeitung "Al – Ahram."[46] So bestimmt
dieses neu eingebrachte Gesetz, dass ab Erlaß der Regelung die Befugnis
zur Erhebung der Hisba-Klage alleine bei der Staatsanwaltschaft liegt,
welche den Sachverhalt von Amts wegen ermittelt und über eine Klageerhebung
entscheidet. Desweiteren ist die Klage nur noch dann als zulässig
anzusehen, wenn der Kläger mit ihr ein "eigenes und unmittelbares"
Interesse verfolgt. Missbräuchliche Klageerhebung stehen seitdem unter
Strafe. Durch diese gesetzlichen Neuerungen wurde die Hisba als Möglichkeit
der Popularklage abgeschafft. Bei diesem Vorgang ist nun weiterhin zu beachten,
dass auch die Definition der durch die Hisba zu wahrenden Ordnung einer
unmittelbaren staatlichen Kontrolle unterworfen wird. So liegt es von nun
an allein im Aufgabenfeld der Staatsanwaltschaft zu bestimmen, welche Verstöße
gegen die islamische Ordnung Anlass zu Interventionen geben.
[30] Vgl. S. 108f, Nasr Hamid Abu Zaid,
Ein Leben mit dem Islam.
[31] Vgl. Islam und Politik, S. 87,
Z.26.
[32] Abdussabur Schahin- Professor
an der Kairoer Dar al-Ulm Hochschule;
Schahin ist zudem Freitagsprediger
in der größten Moschee Kairos, bekannter „Islamexperte“
im ägyptischen Fernsehen, Autor
diverser ägyptischer Zeitungen und führendes Mitglied der regierenden
Nationaldemokratischen Partei und
ihr Sprecher in religiösen Angelegenheiten.
[33] Siehe oben S.11.
[34] Ägyptischer Kassationshof,
Urteil vom 05.08.1996, E. 475, 478, 481/65.
Vorinstanzen: Gericht der ersten Instanz
Giza, Urteil vom 27.01.1994, E. 591/1993;
Appellationsgericht Kairo, Urteil
vom 14.06.1995, E. 287/111.
[35] Vgl. BGH, NJW 1995, 1282; BGH
NJW 1995, 3186.
[36] Al-Mawardi, Al-Ahkam al-Sultaniyya,
zit. N. Ausgabe Dar. Al-Kutub al´-Illmi, Beirut, o. D., S. 299.
[37] Vgl. Baber Johansen, Eigentum,
Familie und Obrigkeit im hanafitischen Strafrecht.
Das Verhältnis der privaten Rechte
zu den Forderungen der Allgemeinheit in hanafitischen
Rechtskommentaren, Welt des Islam
19 (1979), S. 1- 73.
[38] Vgl. Insbes. Urteil v. 30.03.1966,
Majmu´at Mahkamar al-Naqd 17, S. 782-791.
[39] Dies folgt aus Art. 280 Gesetz
Nr. 78/1931 i. V.m. Art.6 Abs. 1 Gesetz Nr. 462/1955.
Danach unterliegen familienrechtliche
Streitigkeiten unter Muslimen dem islamischen Recht der hanefitischen Schule,
soweit dies nicht spezialgesetzlich
geregelt ist.
[40] Vgl. Kassationshof, Urteil vom
24.12.1975, in: M.´Abd al Tawwab,
Al-Mustahdath fi Qada al Ahwal al
Shakhsiyya, Alexandria, 1991, S. 50-51;
[41] Vgl. Kassationshof, Urteil vom
29.05.1968, Majmuat Mahkamat al-naqd 19, 1034-1037;
Oberstes Verwaltungsgericht, Urteil
vom 25.01.1971, E.599/ 19, in: Na´im´Attiyya/ Hasan al-Fakahani,
Al-Mawsu´a al Idariyya al Haditha,
Kairo, 1986-1987, Bd. 13, S. 395-397; Appelationsgericht Kairo,
Urteil vom 07.02.1992, in: Dawoud
Sudqi El Alami, The Marriage Contract in Islamic Law- in the Sharia and
the
Personal Status Laws of Egypt and
Morroco, London et al. 1992, S. 45-46.
[42] Kassationshof, Urteil vom 29.05.1968,
S. 788-789.
[43] Vgl. z.B. Mustafa Majdi, Al Mawsu´a
al-Quadaiyya fil Murafa´at al-Madaniyya wa´l Tijariyya,
Alexandria, 1995, Bd. 1, S. 53; Antwar
Tulba, Mawsu´at al-Murafa´at al- Madaniyya wal Tijariyya, Alexandria,
1993, Bd. 1, S. 50.
[44] Im Gegensatz zum Kassationshof,
der in der Hisba ein Institut des materiellen Rechts sieht,
das daher auch von der Verweisungsvorschrift
Art. 280 Gesetz Nr. 78/ 1931 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 Gesetz Nr. 462/ 1955
umfasst wird, stellt die Gegenansicht
darauf ab, hierbei handele es sich um ein Institut des Prozessrechts.
In der Zivilprozessordnung (Gesetz
Nr. 13/ 1968) sei dieses Institut – im Gegensatz zur früheren Zivilprozessordnung
– nicht geregelt.
[45] Gesetz Nr. 3/ 1996, Al-Jarida
al Rasmiyya (Gesetzesblatt) Nr. 4 vom 29.01.1996.
[46] Al – Ahram, 30.01.1996.
II. Wie kann ein staatliches Gericht darüber entscheiden, ob
jemand vom Glauben abgefallen ist?
In der ägyptischen Rechtsprechung[47] und Literatur[48]
wird einstimmig die Auffassung vertreten, dass die gerichtliche Konstatierung
der Apostasie einer richterlichen Nachprüfung nicht zugänglich
ist. Die konkrete Abwendung vom Islam kann lediglich anhand äußerlich
erkennbarer Anzeichen festgestellt werden. Jedoch liegt nicht etwa eine
Art Katalog vor, anhand dessen eine Konkretisierung dieser Frage vorgenommen
werden kann. Das ägyptische Kassationsgericht vertritt die Ansicht,
dass der Abfall vom Islam ausschließlich anhand eines Anerkenntnisses
des Betroffenen oder einer Urkunde, aus der sein Übertritt zu einer
anderen Religion bzw. Glaubensgemeinschaft hervorgeht, festgestellt werden
kann. Das jeweils zuständige Gericht ist somit auf die Aussagen der
Parteien angewiesen.[49] Jedoch hat Abu-Zaid im vorliegenden
Fall stets größten Wert darauf gelegt, auch während der
laufenden Kontroverse nicht als "Nicht-Muslim" diffamiert zu werden. Aber
für einen derartigen Fall verweist das Kassationsgericht auf die Ansicht,
dass es für die Feststellung der Apostasie ausreicht, dass eine Person
nachweislich die Handlungen einer anderen Glaubensgemeinschaft verrichtet.[50]
Dieser Auffassung zufolge liegt es in der Kompetenz des Gerichtes selbst,
das Vorliegen der Apostasie festzustellen. Im Fall "Abu- Zaid" folgte das
Gericht der zweitgenannten Meinung. Die sachliche Zuständigkeit[51]
liegt bei dem Familiengericht (Gericht erster Instanz) für Klagen
auf Auflösung der Ehe. In diesen Sektor fällt auch die Auflösung
der Ehe auf Grund des Abfalls vom Islam. Die konkrete Feststellung der
Apostasie ist somit eine Vorfrage, für deren Klärung das Gericht
zuständig ist. Das zuständige Appellationsgericht räumt,
wie gesehen, ein, dass das Bekenntnis als eine Frage des "forum internum"
einer richterlichen Kontrolle nicht zugänglich ist. Jedoch verweist
das Gericht des weiteren darauf, dass es sich in Fällen des Abfalls
vom Islam, nach islamischem Recht um ein Verbrechen handelt, das somit
einen objektiven Tatbestand aufweist. Durch diesen Umstand bedingt stehe
einer gerichtlichen Kontrolle der Apostasie Abu- Zaids´ kein rechtliches
Hindernis entgegen. Ein Vorbringen der Parteien sei somit im konkreten
Fall entbehrlich. Das Appellationsgericht war somit berechtigt anhand der
von Abu-Zaid veröffentlichten Schriften und Bücher den von den
Klägern vorgetragenen Abfall vom Islam einer eigenen Nachprüfung
zu unterziehen.
[47] Kassationsgericht E. 44 / 40,
Urteil vom 25.01.1975; KassG E. 51/ 52 (14.06.1983), zit.
In al-Bakri, Bd. 1, S. 235,
Mawsu´a al-Fiqh wa´l –Quada fi´l –Ahwal al-Shakhsiyya,
3 Aufl. Kairo 1994;
vgl. Auch KassG; Urteil vom 03.12.1936,
zit. In al- Sabuni, Bd. 2, S. 112, Sharh Quanun al- Ahwal al- Shakhsiyya,
5. Aufl. Damaskus 1990/ 1991.
[48] Al-Bakri o. Fußn. 27, Bd.
1 S. 234 (Rdnr. 125).
[49] KassG., (03.12.1936), zit. In
al-Sabuni o. (Fußn. 27), Bd. 2, S. 112. KassG. E. 44/ 40 (25.01.1975);
KassG. E., 51/52, (14.06.1983).
[50] Appellationsgericht Kairo, Urteil
E. 31/ 107, vom 07.02.1991, zit. In Al Alami,
The Marriage Contract in Islamic Law,
London/Dordrecht/Boston 1992, S. 45-46.
[51] Siehe Art. 8 G 462/ 1955.
III. Grundrechtsproblematik des Rechtstreits
Umfassend, mit dem vorliegenden Streit in Verbindung gebracht wurde
ferner das Thema der Menschenrechte in Ägypten, deren Existenz und
darüber hinaus deren Einhaltung.
So ging auch das ägyptische Appellationsgericht zu Ende seines
Urteils auf das Verhältnis der an die Apostasie geknüpften Rechtsfolgen
zu den in der ägyptischen Verfassung vom 12.09.1971 i. d. F. v. 22.05.1980
gewährleisteten Grundrechten der Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit
und Wissenschaftsfreiheit ein. Art. 46 der äg. Verfassung besagt:
"Der Staat gewährleistet die Freiheit des Bekenntnisses und die Freiheit
der Ausübung des religiösen Kultes."
Art. 47 äg. Verfassung führt weiter aus: "Die Meinungsfreiheit
wird gewährleistet. Jeder Mensch hat das Recht in den Grenzen des
Gesetzes seine Meinung zu äußern und durch Wort, Schrift und
Bild oder sonstige Mittel der Äußerung zu verbreiten..."
Art. 49 äg. Verfassung: "Der Staat gewährleistet den Bürgern
die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung." Wie aus dem Gesetzestext
ersichtlich ist die Religionsfreiheit in Art. 46 äg. Verfassung als
schrankenloses Grundrecht ausgestaltet. Unter Religion im Sinne der Verfassung
fallen nach allgemeiner Ansicht jedoch nur die Buchreligionen, d. h. Judentum,
Christentum und Islam.[52] Ferner bleibt hier zu beachten, dass
nach h. M.[53] der Religionswechsel vom Gewährleistungsanspruch
der Religionsfreiheit nicht umfasst wird. Die im islamischen Recht an den
Religionswechsel geknüpften Rechtsfolgen im Bereich des Familien-
und Erbrechts, so die h.M., sind "Rechtsfolgen der Apostasie" und berührten
daher die "Freiheit des Bekenntnisses" nicht. Im Ergebnis wird hierdurch
der Gewährleistungsanspruch der Religionsfreiheit auf das "forum internum"
beschränkt. Dieser Argumentation folgte auch das Appellationsgericht.
Ferner könnte noch ein Verstoß gegen die Meinungsfreiheit
vorliegen, welche durch Art. 47 äg. Verfassung gewährleistet
wird. Doch auch hier kann vom Appellationsgericht kein Grundrechtsverstoß
festgestellt werden. Die Meinungsfreiheit wird ausgeführt, findet
ihre Grenzen in der Rechtsordnung.
Art. 2 äg. Verfassung, erkläre den Islam zur Staatsreligion.[54]
Ägypten, so wird betont, sei aufgrund dieser Manifestation der Staatsreligion
kein säkularer Staat. Ein Angriff auf "den Islam" folgerte das AppG
sei somit zugleich ein Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung.
Endlich kann auch ein Verstoß gegen die Wissenschaftsfreiheit (Art.
49 äg. Verf), nach Ansicht des äg. AppG nicht konstatiert werden.
Als Argument wird vorgebracht, dass von der Verfassung nur wissenschaftliche
Tätigkeiten umfasst werden, welche sich an den "Regeln des Fachs"
orientieren. Sowohl bei Koranstudien als auch bei juristischem- Idjtihad,
begründet das AppG, stelle der Wortlaut die Grenze der zulässigen
Interpretation der religiösen Texte dar. Abu Zaid hat sich jedoch
nach Ansicht des Gerichtes mit seiner textkritischen Analyse über
diese Grenze hinweggesetzt. Seine Publikationen fallen nach Ansicht des
AppG daher nicht unter den Begriff der Wissenschaft i. S. d. Art. 49 äg.
Verfassung.
Betrachtet man im Vorliegenden die Vorgehensweise des AppG im Bezug
auf die Auslegung der Grundrechte, so liegt es nahe die Vermutung aufzustellen,
dass Spannungen zwischen islamischem Recht und verfassungsrechtlich verankerten
Prinzipien europäischen Ursprungs zugunsten der Vorgaben der Religion
entschieden werden. Man trifft somit auf recht restriktive Bestimmungen
des Gewährleistungsbereiches der einzelnen Grundrechte und einer damit
einhergehenden extensiven Auslegung der teilweise immanenten Grundrechtsschranken.
Bedenkt man nun aber, dass der Islam zur Staatsreligion erklärt wurde,
so dürfen auch die Menschen, welche in dem jeweiligen Land leben,
in keinem zu offensichtlichen bzw. zu krassem Widerspruch zu den aufgestellten
Grundsätzen des Islams stehen. Jedoch sollten auf der anderen Seite
schrankenlos gewährte Grundrechte, wie die der Meinungs-, Religions-
oder Wissenschaftsfreiheit von vorneherein nicht als solche dargestellt
werden. Vielmehr sollte jeder Bürger erkennen, dass diese Verfassungsgarantien
ihre Schranken in der Religion und somit in der verfassungsmäßigen
Ordnung finden. Dies sollte jedoch nicht erst bei einer Klage vor Gericht
zum Ausdruck gebracht werden, weil sonst der Anschein entsteht, dass die
Religion jeweils zur Ablehnung verschiedener oppositioneller Ansichten
missbraucht werde. So würden letztendlich die in der Verfassung garantierten
Freiheiten der Religion, Meinungsäußerung und Wissenschaft im
Ergebnis leer laufen.
[52] Aldeeb Abu-Sahlieh, L´impact
de la religion sur l´ordre juridique, Fribourg
1979, S. 139-246 ; Menhofer, Religiöses
Recht und Internationales Privatrecht, 1995, S. 41-107.
[53] KassG E. (30.03.1966), S. 266-267;
Menhofer, S. 96, jeweils mit Nachweis
in der äg. Rspr. und Lit.; Kass.GE
(30.03.1966), S. 790-791;
[54] Vgl. o. S. 4.
IV. Eheauflösung aufgrund von Apostasie und Vorliegen des
Tatbestandes der Apostasie
In diesem Abschnitt soll erörtert werden, ob Abu Zaid, durch die
Veröffentlichung verschiedner islamwissenschaftlicher Werke bedingt,
als Apostat einzustufen ist. Obschon vergleichbare Fälle in der ägyptischen
Rechtsprechung schon seit längerer Zeit für heftige Diskussionen
sorgten, ist der Fall "Abu Zaid" als ein juristisches Novum zu bezeichnen.
So hat bis zu der damaligen Entscheidung noch kein ägyptisches Gericht
im Familienprozess das Vorliegen des Tatbestandes des Abfalls vom Glauben
anhand von wissenschaftlichen Werken festgestellt. Apostasie wird unter
Bezugnahme auf das islamische Recht als "Abwendung von der islamischen
Religion" definiert.
Aber wie kann man den Tatbestand der Apostasie einwandfrei feststellen?
Betrachtet man das angedrohte Strafmaß (Todesstrafe), welches der
Abfall vom Glauben nach sich zieht, so fordern die Rechtsgelehrten, dass
die Apostasie eindeutig und zweifelsfrei festgestellt wird.[55]
Dazu dienen deutliche, rechtsrelevante Tatsachen. Darunter versteht man
eindeutige, nicht anders interpretierbare Aussagen, z. B. die Lästerung
Gottes, das Beschimpfen des Propheten Mohammed, die Leugnung unstrittiger
religiöser Pflichten usw.
Bedenkt man nun, dass sich der Tatbestand der Apostasie, sowie deren
Verwirklichung, für einen Menschen, der sich nicht weiter mit den
Lehren des Islams beschäftigt, auf den ersten Blick wie eine Absage
an die Meinungsvielfalt erscheinen muss, bleibt folgendes festzuhalten:
Der Koran schreibt religiösen und kulturellen Pluralismus geradezu
vor. Anders seien, so die Meinung der Gelehrten, drei wichtige Maximen
des Korans nicht zu verstehen: "In der Religion gibt es keinen Zwang...."(2/256),
"jeder hat eine Richtung, auf die er eingestellt ist. Wetteifert nun nach
den guten Dingen. Wo immer ihr sein werdet, Gott wird euch allesamt bringen.
Er hat zu alledem die Macht." (2/148) und "... wenn Gott gewollt hätte,
hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber er wollte
euch in dem, was Er euch gegeben hat, auf die Probe stellen. Wetteifert
nun nach den guten Dingen..."!(5/48).
So wies auch Abu Zaid stets auf die Vielzahl und Relativität möglicher
Koraninterpretationen hin: "Wer für seine Auslegung eine ultimative
Gültigkeit beanspruche und anderen Interpretationen ihre Berechtigung
abspreche, maße sich nicht nur ein Wissen an, über das Gott
allein verfüge, sondern stehe auch im Widerspruch zum ´Interpretationspluralismus`
der seit jeher die islamische Geschichte geprägt habe."[56]
1) Grenzen des Tafsir (Koraninterpretation)
Selbst bei der oben erwähnten, wissenschaftlich sicherlich haltbaren
Argumentation muß stets beachtet werden, dass es sich bei dem Koran
für die Muslime, um ein sakrales Werk direktem göttlichen Ursprungs
handelt, bei dem auch immanente Schranken bezüglich der Exegese geboten
sind. Derartige Vorgaben, welche einer vollkommen freien Koraninterpretation
entgegenwirken sollen, liegen beispielsweise in der arabischen Sprache
und der genauen Kenntnis der Herleitung einzelner Wörter begründet.
Ferner werden verschiedentlich[57] drei Vorgaben für den
Tafsir (Koranauslegung) aufgezeigt, anhand deren eine Interpretation stattfinden
darf:
a) Die Auslegung von einer bestimmten Stelle des Koran, soll mittels
einer weiteren Fundstelle belegt und gestützt werden, so dass die
primäre Quelle der Auslegung der Koran an sich ist.
b) Die Heranziehung der Sunna. Dies wird damit begründet, dass
erst die Sunna den Koran teilweise für den Menschen verständlich
macht, da diese Ihn auslegt und verdeutlicht. Es darf demnach keine Auslegung
betrieben werden, welche im Gegensatz zur Tradition des Propheten steht.
c) Die Einbeziehung der Aussagen der Gefährten des Propheten Mohammed.
Auf diese tertiäre Quelle soll zurückgegriffen werden, da diese
Menschen in direktem Kontakt zum Propheten standen und es demnach keinem
Gelehrten in der Gegenwart mehr gelingen wird, so nahe an die richtige
Interpretation heranzugelangen.
Beachtung verdient auch der Umstand, dass die Offenbarungen schon dem
Propheten selbst galten und für Muslime als unmittelbares Wort Gottes
verpflichtend sind. So unterschied der Prophet sehr klar und präzise
zwischen den ihm eingegebenen Offenbarungen und seinen eigenen Aussagen.
Entsprechend wird ein Koranzitat stets mit den Worten: "Gott hat gesagt..."
o. ä. eingeführt. Ein Ausspruch, der als Wort des Propheten zitiert
wird, kann also nie für einen Koranvers gehalten werden, sondern stets
als Ausspruch der Überlieferung.[58] Damit hat selbst der
Prophet, als "Empfänger" des heiligen Textes, sehr stark darauf geachtet,
seine Ansichten nicht mit den Ihm eingegebenen Offenbarungen zu vermischen,
um so eine klare Trennung der Aussagen zu vollziehen. Diese Vorgehensweise
wurde auch bei der Auslegung des Koran beibehalten. Fraglich ist demnach,
wie ein Mensch in der heutigen Zeit, der verständlicherweise nicht
in so engen Kontakt zum Koran steht, wie der Prophet Mohammed, für
sich in Anspruch nehmen kann eine vollkommen neue, von den herkömmlichen
Interpretationsarten abweichende Exegese vorzunehmen. So geht Abu Zaid
zwar in seinen Werken davon aus, dass der Koran in seinem Wortlaut göttlich
ist. Darüber hinaus gibt er jedoch zu bedenken, dass durch das Relative
und Veränderliche, in Form des Menschlichen, der Koran zu einem Begriff
wird. Durch diesen Vorgang bedingt, verwandele er sich in einen "menschlichen
Text", er "vermenschliche" sich. Jedoch kann von einem solchen Vorgang
keineswegs, mit der von Abu Zaid proklamierten Selbstverständlichkeit
ausgegangen werden. Wie soll sich ein göttlicher Text dadurch, dass
er dem Menschen zugänglich gemacht wird, in einen einfachen, simplen
menschlichen Text verwandeln. Durch diesen Prozess spricht Abu Zaid dem
Koran sein Wesen, seine Bedeutung und seine allgemeine Stellung für
jeden Muslim ab, er stellt die Autorität des Textes in Frage und erachtet
eine Kontroverse darüber als zulässig. Bei dieser Handlungsweise
drängt sich notgedrungen die Frage auf, warum sich der Muslim noch
an einen Text halten sollte, welcher sich durch einen einfachen menschlichen
Akt, in ein humanes Skript verwandelt. So wird seine Autorität nicht
bloß in Frage gestellt, sondern mehr oder minder negiert.
Ferner ist der Aussage Abu Zaids bezüglich der Fehlbarkeit des
Propheten Mohammed anzumerken, dass Mohammed zwar als Mensch fehlbar, jedoch
in seiner Eigenschaft als Prophet und somit in der ihm gesandten Offenbarung
unfehlbar war. Eine bedingte Fehlbarkeit des Propheten ist aber nicht vollkommen
ausgeschlossen. Jedoch wurde Mohammed bei religiösem Fehlverhalten
stets durch die Offenbarungen Gottes korrigiert. Ein Beispiel für
eine derartige Gegebenheit ist in Sure 9, Vers 80 vorzufinden, als der
Prophet den Heuchlern ihre unbegründete Kriegsdienstverweigerung verzieh
und Gott dafür um Vergebung bat. So besagt der Vers: "Bitte um Vergebung
für sie, oder bitte nicht um Vergebung für sie. Wenn du auch
siebzigmal um Vergebung für sie bittest, Gott wird ihnen niemals vergeben.
Dies, weil sie Gott und seinen Gesandten verleugneten. [...]" Hingegen
wurde der Prophet nicht durch die Offenbarung korrigiert, als er den Bauern
einen falschen landwirtschaftlichen (nicht religiösen) Rat gab und
ihre Ernte dadurch ausfiel. Er sagte darauf hin, die Menschen vor Ort wüssten
am besten, was in ihren alltäglichen Belangen richtig für sie
sei (vgl. Muslim, Hadith Nr. 2363 - 43/38/141). Der Prophet war somit als
Mensch sicherlich fehlbar, jedoch wurden falsch Aussagen mit religiösem
Bezug stets von Gott durch darauffolgende Offenbarungen korrigiert.
1) Weitere Kontroversen:
Ferner sind auch im ägyptischen Recht, und hier erneut primär
auf dem Sektor des Familienrechts, Diskussionen über die Wahrhaftigkeit
einiger überlieferter Hadithe (Aussprüche des Propheten) aufgekommen.
So ist für das Gebiet des Personalstatus die Untergliederung der einzelnen
Hadithe, auf Basis der Vertrauenswürdigkeit und Vollständigkeit
der Überlieferungskette[59], gleichermaßen relevant.
In den Kutub al- Maudu´at (Bücher über Hadtih- Fälschungen)
wird die islamische Beschäftigung mit der Hadith- Kritik deutlich.[60]
Die jüngst in Ägypten gelaufene Debatte um die Kodifizierung
und Modernisierung des islamischen Familien- und Erbrechts räumt der
kritischen Sichtung der Traditionen einen hohen Stellenwert ein. Zwei hauptsächliche
Quellen sind hierbei zu konstatieren:
a) Die Bestätigung oder Wiederbelebung einer Bid´a (Neuerung,
Häresie)
b) Die Unterscheidung zwischen einer Sunna tasri´iya und einer
Sunna ghair tasri´iya, d. h. einer Sunna die Gesetzeskraft erlangt
und einer, die keine Gesetzeskraft erlangt, weil sie keinen allgemeingültigen
(amm), sondern einen zeitlich- konkreten (waqti oder zamani) Bezug aufweist.
Andere Gelehrte (v. a. A. al- Karim) klassifizieren die gesamte Sunna als
ewig gültige (da´im) und zudem unwiderrufliche (lazim) Gesetzgebung.[61]
Es sind also auch, abgesehen von dem Fall Abu-Zaids´ Diskussionen
geführt worden, welche jedoch nicht dieselben rechtlichen Konsequenzen
mit sich brachten. Abzustellen ist bei den hier geführten Diskussionen
darauf, dass die verschiedenen Gelehrten bzw. Wissenschaftler zwar auch
Neuansätze und verschiedene Denkanstöße geboten haben,
sich jedoch bisweilen in den Grenzen einer zulässigen Interpretation
des Korans und vorliegend insbesondere der Sunna gehalten haben. So unterscheiden
auch diese Gelehrten zwischen zwei Arten der Sunna, einer die Gesetzeskraft
erlangt hat und einer der dieses abgesprochen wird. Differenziert wird
zwischen einer Aussage, die sich auf einen bestimmten Zeit/Raum- Kontext
bezieht und einer Aussage die sich nicht auf einen bestimmten Kontext bezieht
und damit Allgemeingültigkeit besitzt. So stellte auch Abu Zaid die
Prämisse auf, dass die Sunna des Propheten nicht vom jeweiligen politischen
und historischen Kontext losgelöst betrachtet werden dürfe. Jedoch
haftete seinen Aussagen stets der unangenehme Beigeschmack einer teilweisen
Ablehnung der Sunna ("Gültigkeit nur für medinensische Zeit")
an, wodurch die bereits geschilderten Konsequenzen auf den Plan gerufen
wurden. Bei diesen Aussagen Abu Zaids´ ist auch dem Umstand Rechnung
zu tragen, dass im Koran eindeutige Aussagen bezüglich der Befolgung
der Sunna des Propheten gemacht wurden. Die Autorität der Sunna ist
im Koran selbst verankert. Der Koran erklärt an vielen Stellen, dass
der Weg Gottes in der Offenbarung und der Weg des Propheten Mohammeds gleich
verpflichtend sind. So wird von den Gläubigen gefordert, sich der
Führung des Propheten zu unterwerfen und ihm zu folgen (Sure 26, 216;
14, 44; 60,12). In unzähligen Versen ergeht der Befehl: "Und gehorcht
Gott und seinem Gesandten!" (vgl. Sure 3, 32; 33, 33. 66. 71; 8, 1. 46
usw.). In den Fällen die Mohammed in der einen oder anderen Weise
entschieden hat, haben die Gläubigen keine Entscheidungs- und Handlungsfreiheit
mehr. Das sagt der Koran ausdrücklich und schließt mit den Worten:
"Und wer gegen Gott und seinen Gesandten ungehorsam ist, der befindet sich
in einem offenkundigen Irrtum." (Sure 33, 36)
Ferner lassen sich die folgenden Verse anführen: Sure 3/31 Sprich:
Wenn ihr Gott liebt, dann folgt mir, so wird Gott euch lieben und euch
eure Sünden vergeben. Und Gott ist voller Vergebung und barmherzig.
Sure 3/32 Sprich: Gehorchet Gott und dem Gesandten. Wenn sie sich abkehren
- siehe, Gott liebt die Ungläubigen nicht.
Sure 4/59: O ihr, die ihr glaubt, gehorchet Gott und gehorchet dem
Gesandten und den Zuständigen unter euch. Wenn ihr über etwas
streitet, so bringt es vor Gott und den Gesandten, so ihr an Gott und den
Jüngsten Tag glaubt. Das ist besser und führt zu einem schöneren
Ergebnis.
Sure 4/65: Nein, bei deinem Herrn, sie glauben nicht (wirklich), bis
sie dich (Mohammed) zum Schiedsrichter nehmen über das, was zwischen
ihnen umstritten ist, und danach wegen deiner Entscheidung keine Bedrängnis
in ihrem Inneren spüren, sondern sich in völliger Ergebung fügen.
Sure 4/80: Wer dem Gesandten gehorcht, gehorcht Gott. [...]
2) Auflösung des Hindernisses der Apostasie:
Zu beachten bleibt im konkreten Fall des weiteren, dass die gerichtliche
Scheidung und das damit im Zusammenhang stehende Heiratsverbot zwischen
einer Muslima und einem Nicht-Muslim sich von den absoluten Ehehindernissen[62]
Verwandtschaft, Schwägerschaft und Milchverwandtschaft dadurch unterscheidet,
dass es beseitigt werden kann. Um dieses Hindernis zu umgehen, können
drei Möglichkeiten ins Auge gefasst werden:
a) Der Mann tritt (gegebenenfalls erneut) zum Islam über;
b) Die Frau nimmt die Religion des Mannes an (was aber Abfall vom islamischen
Glauben mit entsprechenden Konsequenzen bedeuten würde);
c) Die Eheschließung erfolgt in einem nichtislamischen Land (was
aber Schwierigkeiten bei der Anerkennung einer solchen Ehe nach sich ziehen
kann);
Festzuhalten bleibt, dass der Ansatz Abu Zaids gewiss nicht ohne Brisanz
ist. Den Koran als Produkt der Kultur zu bezeichnen, in die er hineinoffenbart
worden ist und den Propheten als, in religiösen Fragen fehlbar zu
bezeichnen, lässt so manchen Muslim ins Grübeln geraten. Und
doch sind es zu einem nicht unerheblichen Teil nicht seine Aussagen bezüglich
des Korans, welche den Sturm der Entrüstung ausgelöst haben;
es war seine Kritik am staatlichen oder staatsnahen religiösen Übersteigerungen,
eine politische, bisweilen sogar tagespolitische Kritik. Und hier muss
ein klarer Strich gezogen werden. Es darf nicht angehen, dass sich Politiker
oder auch einfache Bürger eines Staates auf Prinzipien, wie das der
Hisba berufen, um damit eigenen politischen Ansichten Nachdruck von staatlicher
Seite zu verleihen. Bei der hier geführten Auseinandersetzung, welche
in der Regel mit den Mechanismen des ideologischen Wettstreits geführt
werden, ohne zugleich eine wissenschaftliche Wahrnehmung von der Natur
der religiösen Texte, den Methoden ihrer Lektüre und Interpretation
zu schaffen, siegt oftmals der ideologische über den rationalen Diskurs.
Der, wie im konkreten Fall erhobene Vorwurf des Unglaubens soll nicht zu
einem ständig begleitenden Element des modernen religiösen Diskurses
werden. Wenn also der Vorwurf der Apostasie einen Teil der Struktur des
gesamten religiösen Denkens bildet, so ist er auch Bestandteil der
Ideologie des Staates, sei es in der Rechtfertigung seiner wirtschaftlichen
und sozialen Ausrichtung, sei es bei der Bekämpfung der Opposition.
Sinnvoller als die oben erwähnten Vorgehensweisen der Regierung,
wäre es wohl gewesen, Schriften, wie die eines Abu Zaid, oder Nagib
Mahfuz[63] nicht zu verbieten, sondern es den gläubigen
Muslimen selbst zu überlassen, die jeweiligen Werke zu Misserfolg
zu führen oder sie einfach nicht zu lesen, wenn man dadurch negative
Auswirkungen auf seinen Glauben befürchtet. Die Logik der "Bevormundung"
sollte somit einer Sicht- und Denkweise weichen, die es den Menschen erlaubt,
sich ein eigenes Bild von Literatur und Wissenschaft anzueignen. Die Behauptung
das Monopol der Wahrheit zu besitzen, und die daraus entspringende Monopolisierung
der Entscheidung ist die theoretische Grundlage eines Herrschaftskonzepts,
welches gerade aus westlicher Sicht in keinster Weise mit einem aufgeklärten
Regierungsbild übereinstimmt, in welchem Demokratie und Pluralität
propagiert werden. Ein politisches System, welches glaubt, alles Wissen,
alle Fähigkeiten für sich in Anspruch nehmen zu können,
kann nicht mit den Grundsätzen des Islam in Einklang stehen. Der Islam
war seinem ursprünglichen Wesen nach eine Botschaft Gottes, die als
Gegenmodell zur Vorherrschaft der Willkür und der Unterdrückung
die Vernunft in der Sphäre des Denkens und die Gerechtigkeit in der
des sozialen Verkehrs etablieren wollte. Einen verbindlichen Herrschaftsbegriff
vom religiösen Standpunkt zu entwickeln, kann zu einem Deckmantel
für ein politisches System verkommen, welches von sich selbst behauptet,
die absolute und abschließende Wahrheit zu vertreten. Ein solcher
Anspruch kann jedoch unzweifelhaft niemanden außer Gott selbst zukommen.
Indem nun aber dieses Konzept von der Regierung aufgegriffen wird, wird
der Mensch jeglicher Macht zur Meinungsopposition beraubt. Noch gravierender
ist aber der Umstand, dass die politischen Machthaber den Konflikt zwischen
ihnen und den "Andersdenkenden" auf diese Art und Weise zu einem Konflikt
zwischen den "Andersdenkenden" und Gott machen. Diese Art der Politik,
wie sie in so manchem arabischen, vermeintlich islamischen Ländern
propagiert wird, führt nun dazu, dass der vom Islam ausdrücklich
geforderte Pluralismus auf eine schier unüberwindbare Blockade in
Form der verschiedenen Regierungs- und Machtinhaber trifft.
Trotz all dieser Mankos einiger politischer Systeme des Orients darf
jedoch bei aller Diskussion um freie Meinungsäußerung und dem
Recht auf Pluralismus nicht davon abgesehen werden, dass der Koran ein
unveränderlicher religiöser Text ist. Er darf diese Unveränderlichkeit
auch nicht durch einen Prozess verlieren, in welchem sich die menschliche
Vernunft mit ihm befasst. Das Menschliche ist Veränderungen unterworfen
und lediglich von relativer Festigkeit. Unveränderlichkeit ist jedoch
ein Attribut des Absoluten und des Heiligen. Der Koran ist das Wort Gottes,
welches auch nicht durch seine Herabsendung zu den Menschen seinen sakralen
Charakter verlor. Bei aller Freiheit, gibt es somit Bereiche, die einer
eigenständigen Interpretation Grenzen setzten. Behauptungen, wie sie
Abu Zaid über den Propheten Mohammed ("religiöse Fehlbarkeit")
oder die Unveränderlichkeit des Wort Gottes getroffen hat, fallen
sicherlich in einen "unantastbaren" Bereich, den jeder Muslim schon auf
Grund seines Glaubens akzeptiert und aufrechterhält. So steht im Koran
(Sure 6/ 115) geschrieben: "Und das Wort deines Herrn ist in Wahrheit und
Gerechtigkeit vollendet worden. Keiner vermag seine Worte zu ändern,
und Er ist der Allhörende der Allwissende". Dieser Vers macht deutlich,
dass die göttlichen Worte abschließend sind; so gibt es zwar
erlaubte Interpretationsmethoden, welche sich auch an den jeweiligen historischen
und gesellschaftlichen Entwicklungen orientieren können, diese haben
sich aus islamischer Sicht dennoch innerhalb des beschriebenen unantastbaren
Rahmens zu bewegen.
[55] Imam Malik habe gesagt:
„Wenn jemand etwas sagt oder tut, was auf 99 Weisen als
Unglaube und auf nur 1 Weise als Glaube
verstanden werden kann, so ist die Sache als Glaube zu deuten.
[56] Islam und Politik, S. 17, Z.
29.
[57] Vgl. Sabbach, Einführung
in die Koranwissenschaften, S.129f.
[58] Hartmann, Die Religion des Islam,
S. 69.
[59] Vgl. o. S.2.
[60] Vgl. Noth, A., Gemeinsamkeiten
muslimischer und orientalischer Hadith-Kritik – Ibn al- Gawzis,
Kategorien der Hadith- Fälscher
– in: Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident,
Festschrift für A. Falaturi zum
65. Geburtstag. Herausgegeben von U. Tworuschka, Köln, Wien, 1991,
S. 40-46.
[61] Al-Karim, F., As-Sunna, Tasri
Lazim wa da´im, Al- Qahira 1985, S. 123.
[62] Vgl. o. S. 6.
[63] Ägyptischer Schriftsteller
(Romane), dessen Werke in Ägypten seit über 40 Jahren verboten
sind.
Nobelpreisträger für Literatur.
V. Zusammenfassung:
In der für viel Diskussionsstoff gesorgten Entscheidung des Appellationsgerichtes
Kairo, knüpft der Gerichtshof zu einem nicht unerheblichen Teil an
die von der ägyptischen Rechtsprechung und Lehre zur Apostasie entwickelten
Grundsätze an. Ein Novum auf diesem Sektor stellt jedoch die Art und
Weise dar, in der das AppG das vorhandene juristische Instrumentarium eingesetzt
hat. Durch diese Vorgehensweise sollte, die in der ägyptischen Öffentlichkeit
nahezu polemisch geführte Kontroverse um das wissenschaftliche Werk
und die Person Abu Zaids´, von dem zuständigen Gericht Stellung
bezogen werden. Diese Vorgehensweise gibt jedoch dem Urteil des Gerichts
den Beigeschmack eines politischen Urteils. So ist nach Kirchheimer[64]
"von politischer Justiz" zu sprechen, "wenn Gerichte für politische
Zwecke in Anspruch genommen werden", ...indem "das politische Handeln von
(...) Individuen der gerichtlichen Prüfung unterzogen wird". Man könnte
somit zu dem Schluss kommen, dass die Entscheidung auf ein Problem fehlender
Toleranz im religiös- politischen Diskurs der heutigen Zeit in Ägypten
hinweist. Jedoch muss bei dem dieser These sicherlich innewohnenden Wahrheitsgehalt
auch darauf geachtet werden, dass die Einschränkung der Diskussionsmöglichkeit
über sakrale Texte (über den Koran) lediglich dann vorliegen,
wenn sich die Kontroversen unter Muslimen abspielt. Nichtmuslime ist es
gestattet jegliche Themen in Frage zu stellen und mit Muslimen darüber
zu diskutieren. Ein Hauptproblem des Falles war somit, dass im konkreten
Fall ein Muslim an gewissen unantastbaren Bereichen gerüttelt hat
und damit in die Verlegenheit geriet, seine eigene Religionszugehörigkeit
(erfolglos) beweisen zu müssen. Bezüglich des Disputs unter Muslimen,
muss somit dem Umstand Rechnung getragen werden, dass es sich bei der vorliegenden
Kontroverse um sakrale Texte handelt, welche den, wie bereits erläutert,
"normalen bzw. alltäglichen" Diskussionsformen nicht in all ihren
Möglichkeiten und Erscheinungsformen zugänglich sind, so dass
in diesem Sektor jeweils gewisse immanente Einschränkungen impliziert
sind.
Hinzuweisen ist ferner noch auf den Umstand, dass die Ehefrau Abu Zaids´
stets zu ihm und seinen Thesen gestanden hat und seine Werken volle Unterstützung
hat zukommen lassen. Bedenkt man nun, dass auch sie schlussendlich als
Apostat einzustufen wäre, so wird dadurch die Zwangsscheidung eigentlich
ad absurdum geführt. Weder das islamische noch das ägyptische
Recht kennt die Zwangsscheidung von zwei Menschen die vom Glauben abgefallen
sind.
Ende der Bearbeitung
Osama Momen