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Christlich-jüdische Tradition ist „gewaltige Heuchelei“ - Von Heribert Prantl
Gedenken an die Pogromnacht: Im Namen christlich-jüdischer Kultur werden Muslime ausgegrenzt und die Juden durch die Politik missbraucht
So innig wie heute war die Beziehung zwischen Christen und Juden in Deutschland noch nie. Die neue Innigkeit ist nicht von Theologen und Pastoralklerikern ausgerufen worden, sondern von Politikern. Im Jahr 72 nach der Reichspogromnacht haben sie etwas entdeckt, was es nicht gibt: eine christlich-jüdische Tradition, eine gemeinsame Kultur. In Kürze soll diese auf dem CDU-Parteitag halbamtlich dekretiert werden. Das ist ein bemerkenswerter Vorgang, weil die nun beschworene Gemeinsamkeit über Jahrhunderte hin die Gemeinsamkeit von Tätern und Opfern war.
Die christliche-jüdische Geschichte besteht vor allem in der Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Juden und in der Verketzerung des Talmud. Und wo es gemeinsame Wurzeln gab, hat die Mehrheitsgesellschaft sie ausgerissen. Wenn Juden anerkannt wurden, dann nach ihrem Übertritt zum Christentum. Und dieses Christentum hat bis in die jüngste Vergangenheit nicht die Gemeinsamkeit der Heiligen Schrift, sondern den Triumph des Neuen über das Alte Testament gepredigt. Die christlich-jüdische Geschichte ist also eine bittere, furchtbare Geschichte. Erst nachdem die Nationalsozialisten sechs Millionen Juden erschlagen, erschossen und vergast hatten, begann (auf amerikanischen Druck hin) das, was christlich-jüdische 'Versöhnung' heißt.
„Die christliche-jüdische Geschichte besteht vor allem in der Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Juden und in der Verketzerung des Talmud“ - Heribert Prantl
Ist die Geschichtsvergessenheit des Gemeinsamkeitgeredes womöglich ein neuer Akt der Wiedergutmachung, eine philosemitische Fiktion aus schlechtem Gewissen? Handelt es sich um den Versuch, nachträglich alles richtig zu machen? Es wäre schön, wenn es nur so wäre. Beim Reden von der christlich-jüdischen Tradition handelt es sich aber um eine gewaltige Heuchelei. Die deutsche Politik drückt die alte, früher stigmatisierte Minderheit der Juden an die Brust, um die neue Minderheit, die Muslime, zu stigmatisieren. Die Juden werden missbraucht, um die Muslime als unverträglich zu kennzeichnen. Zum 72. Jahrestag der Reichspogromnacht wird eine neue Kategorisierung der Minderheiten propagiert (nicht nur von scharfen Islamkritikern wie Geert Wilders und Thilo Sarrazin): in gute und schlechte, in kluge und dumme Minderheiten. Diese Sortierung wird nicht dadurch besser, dass muslimische Milieus oft sehr antisemitisch sind. Weil aber dieser Antisemitismus von der deutschen Mehrheitsgesellschaft lange kaum beachtet wurde, gibt es in jüdischen Gemeinden Sympathien für die gesellschaftliche Ausgrenzung deutscher Muslime.
Juden sind in jüngerer Zeit immer wieder genötigt worden, Selbstverständliches einzuräumen: Dass man, ohne als Antisemit zu gelten, Israel kritisieren dürfe. Ähnliches wird nun von den Muslimen verlangt: Sie sollen und müssen erklären, dass sie sich vom Terrorismus distanzieren. Ausdruck eines vertrauensvollen Miteinanders ist das nicht. Es muss nicht eine ominöse christlich-jüdische Tradition gegen Muslime verteidigt werden, sondern die offene Gesellschaft gegen neue Formen der Ausgrenzung.
Erstveröffentlichung in der Süddeutschen Zeitung vom heute (09. November 2010) mit freundlicher Genehmigung des Autors Prof. Dr. Heribert Prantl (Ressortleiter Innenpolitik der SZ)
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