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Sonntag, 03.12.2006 | Drucken |
Der äußere Schein muss stimmen oder: Wo die Muslime heute stehen. Von Ali Boujataoui
Die muslimische Gemeinde wächst so stark, wie seit der großen Expansion in den ersten Jahrhunderten nicht mehr. Keine Katastrophe, die in Verbindung mit den Muslimen gebracht wurde, konnte diesem Wachstum schaden, nicht der 11. September 2001, nicht die Taliban in Afghanistan, nicht Saddam Hussain und auch nicht die Anschläge in Madrid und London. Im Gegenteil, es scheint, dass diese unsäglich „islamistischen“ Taten den Muslimen nur noch mehr Zulauf bringen. Jeden Tag steigen die Statistiken: Übertritte zum Islam häufen sich, Moscheegemeinden werden immer größer, Besucherzahlen auf „muslimischen“ Internetseiten schwellen an und das Selbstbewusstsein junger muslimischer Europäer wächst. Wenn man das so sieht, könnte man meinen, der muslimischen Gemeinschaft ging es nie besser. Ja, natürlich sind Muslime jeden Tag in den Medien Kritik ausgesetzt, es hagelt nur so davon: Muslime sind gewalttätig, Muslime unterdrücken ihre Frauen, es gibt bis heute keine Demokratie im Nahen Osten, in Pakistan werden Extremisten ausgebildet und in der Türkei gibt es keine Gleichberechtigung der Religionen. Es geht sogar ans Eingemachte: der Islam ist eine Religion, die die menschliche Vernunft nicht als Quelle der Erkenntnis anerkennt, mehr noch, der Gott der Muslime sei „unvernünftig“. Welche Religion ist das also, die durch den Verstand erkannt werden möchte und doch diesen verneint? Aber trotz allem, wer das Gespräch mit ihnen sucht: Muslime wissen stets aufzuklären und ihnen mangelt es selten an Erklärungen, diese sind zwar nicht immer nachvollziehbar, aber stets zitierbar.
Mangelt es den Muslimen an Selbstkritik?
Mangelnde Selbstkritik ist ein häufiger Vorwurf, dem Muslime begegnen. Wer sich jedoch ein Mal in ein ernsthaftes Gespräch mit Muslimen vertieft, nicht die Tagesaktualität als Anlass dafür nimmt und etwas Zeit mitbringt, der wird anderes hören. Muslime schämen sich geradezu für ihre Glaubensbrüder, die dem sozialen Abstieg anheim gefallen sind und sich dann bald in üblen Gegenden rumtreiben, kriminell werden und keinen Respekt den Mitmenschen gegenüber zeigen. Sie schämen sich, der gleichen Religion wie Saddam Hussain anzugehören und, wofür sie sich am meisten schämen ist, dass sie stets im Schatten und in der Gnade des westlichen Fortschritts leben. Diese Form der Selbstkritik ist dann aber häufig genau diesem Hinterhinken in Wirtschaft und Wissenschaft entsprungen: Der Rest der Welt hat es anscheinend in Dingen des Lebens und des Materiellen einfacher, auch wenn die Muslime die bessere Religion haben. Und so schwankt der Muslim immer wieder zwischen übermäßigem Stolz und versteckter Scham. Ist es das was den Muslimen fehlt? Ein guter Job und etwas mehr wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Fortschritt?
Ein dumpfes Gefühl macht sich unter den Muslimen breit
Jeder, der in der muslimischen Gemeinschaft aufgewachsen ist oder zumindest einen Teil seines Lebens in ihr verbracht hat und sich ernsthaft mit ihrer Lage beschäftigt, wird bald auf ein dumpfes Gefühl stoßen. Es ist irgendwie unbestimmt, dieses Gefühl, aber es ist da. Es geht nicht um das Gefühl der Hilflosigkeit, wenn man all die Taten sieht, die im Namen des Islams verübt werden. Es geht nicht um das Gefühl des „Das sind nicht wir“, das der Muslim oder die Muslima am liebsten zehn Mal am Tag hinausschreien möchte. Auch dieses Gefühl ist weit verbreitet unter den Muslimen, aber es gibt noch ein viel tiefer sitzendes dumpfes Gefühl. Es kommt auf, wenn sich der Muslim so umschaut in seiner Gemeinde, und in der gesamten muslimischen Gemeinschaft, die dank globaler Medien auch aus muslimisch geprägten Ländern, mit jedem Tag realer wird.
Irgendetwas stimmt nicht. Und es ist müßig sich ständig die Predigten von zweitklassigen Imamen und wiedererweckten „Sündern“ anzuhören. Predigten darüber, dass die Muslime nur zu ihren Wurzeln zurückkehren müssen, dass man nur den jahrhundertealten Rost, der sich über die muslimische Gemeinschaft gelegt hat, loswerden muss, um die ideale Gemeinschaft um den Propheten Muhammad zu erkennen und diese wiederherzustellen. Muslime sind es leid diese Versprechen zu hören. Natürlich war die damalige Gemeinschaft etwas Besonderes, etwas Einzigartiges, ihre Überzeugungskraft riss Tausende, Millionen mit. Innerhalb von weniger als 100 Jahren war ein Großteil der Bevölkerung zwischen Marokko und Indien muslimisch, und dass dabei sozialer und kultureller Druck manchmal eine Rolle gespielt haben, nicht aber Zwang, wissen auch die Muslime. Aber es ist zu einfach dies nur ständig zu wiederholen und nie eine Lösung für die Zukunft zu präsentieren. Was nützt es ständig davon zu sprechen, dass Muhammad den Wucher verabscheut hat, ohne zu erklären, wie man in einer Welt, die ohne Zinsgeschäft nicht möglich ist, leben soll? Was nützt es ständig über die Kopfbedeckung der Frau und ihre vielen Rechte zur Zeit Muhammads zu sprechen ohne die eigentliche Situation der Frauen in vielen muslimischen (und nichtmuslimischen Ländern) zu erkennen? Was nützt es ständig den Westen bei seiner Forderung nach Demokratie auf die schon damals fortschrittliche „sich beratende Gemeinschaft Muhammads“ zu verweisen und blind zu sein für die erstickende Decke der despotischen und unmenschlichen Herrschaften in den muslimischen Ländern? Am Ende vermitteln und benutzen diese Prediger auch nur ein Bild, das ihrer Ideologie dienlich ist, nicht mehr und nicht weniger – und die Darstellungen über die damalige Zeit sind viel gefärbter und selektierter als sie wahrhaben möchten. Wahrscheinlich steckt, zumindest beim einfachen, nicht nach politischer Macht greifenden Prediger, nicht einmal Heimtücke dahinter. Es ist meistens frommer Eifer, gepaart mit einer Portion Einfältigkeit.
Muslime liefern einfache Antworten, wo richtige Fragen nötig wären
Es ist da, das dumpfe Gefühl des „Irgendetwas stimmt hier nicht“ und die gängigen Antworten helfen nur wenig oder zumindest für den ernsthaft Suchenden bestenfalls nur zeitweilig. Ohnehin ist es selten richtig mit den Antworten anzufangen, ohne die richtigen Fragen zu stellen, z.B.: Warum gibt es mehr Aufsätze von Muslimen über das Kopftuch, als über die himmelschreienden Ungerechtigkeiten, die in Schwarzafrika geschehen? Warum gibt es mehr Abhandlungen über die Empfehlung an den guten Muslim, einen Bart zu tragen, als über die weltweite Umweltverschmutzung? Warum achten die Muslime peinlich darauf, nur von Muslimen geschächtetes Fleisch zu essen, während sie tagtäglich in Kinderarbeit produzierte Kleidung kaufen? Warum werden ständig die Gelder und die Unterstützung der CIA für das Taliban-Regime herausgestellt jedoch nicht deutlich die Taten dieser naiven „Glaubensschüler“ verurteilt, mit denen sie die Zerstörung der afghanischen Gesellschaft mitverschuldet haben?
Muslime begegnen den ernsthaften Problemen mit einfachen Antworten, wie z.B. „Die Anderen sind schuld“, meist dicht gefolgt von „Bei uns ist das anders“. Oder auch häufig anzutreffen: „Wenn die das einfach so und so machen würden, wie es der Prophet damals gemacht hat, dann würde es allen besser gehen“ - und man achtet peinlichst darauf, dass die Äußerlichkeiten stimmen. Das Kopftuch muss getragen werden, das rituelle Gebet muss bis auf das letzte Bewegungsdetail exakt verrichtet werden, Männer und Frauen sollten nicht zu häufig beobachtet werden, wie sie sich unterhalten, und, wer sich in der Szene auskennt, wird verstehen, was damit gemeint ist: Die Hose darf nie länger sein, als bis zum Knöchel. Für den Außenstehenden, der diese Sätze liest, muss dies befremdlich klingen. Aber es ist leider so. Wer in die Szene abtaucht, wird diesen Themen immer wieder und wieder begegnen. Das eigentlich befremdliche für Muslime, die dieses dumpfe Gefühl in der Magengegend spüren, ist aber, dass dies schon seit einigen Jahrhunderten so geht und es scheint keinem aufzufallen. Schon vor fünfhundert Jahren, war die größte geistige Leistung, den zwanzigsten Kommentar zum zwanzigsten Kommentar der theologischen Abhandlung von XY, der vor dreihundert Jahren gelebt hat, zu schreiben. Und in den Humor der verbrieften Geschichte vom muslimischen Rechtsgelehrten, der sich mit den theologischen Folgen beschäftigt hat, für den hypothetischen Fall, dass ein Mann ein Kind mit seiner eigenen Brust die Milch geben könnte, schleicht sich auch eine tiefe Scham ein. Heute wie früher scheint ein Großteil der muslimischen Elite mehr Techniker als Inspirierende zu sein und ein Großteil der Muslime mehr Muslime des äußeren Anscheins als der tiefen Überzeugung.
Was nun?
Welcher Weg führt hinaus? Wer auf diese Eine-Million-Euro-Frage eine Antwort hat, der befreit die Muslime vom dumpfen Gefühl in der Magengegend und gibt ihnen einen klaren Kopf für die Zukunft. Aber auch die Antwort auf diese Frage wird nicht einfach sein. Mehr noch, sie könnte für die Muslime schmerzlich sein, denn Sie beginnt bei einer kritischen und schonungslosen Aufnahme der derzeitigen Situation. Und sie endet beim harten Ankommen in der heutigen Realität und in der heutigen Weltgemeinschaft mit allem, was sie an Errungenschaften aber auch an Missständen, Ungerechtigkeiten, Fehlentwicklungen und Scheinwelten zu bieten hat.
Zwischen diesem Anfang und Ende liegen viele Gedanken und Ideen. Es liegt an den Muslimen ihren Glauben zu leben und die „gottgegebene Vernunft“ zu nutzen. Und neu wäre den Muslimen diese Vernunft bestimmt nicht, auch wenn manch einer ihnen das weismachen möchte. Muslime haben Vernunft stets als Mittel zum Gewinn von Erkenntnissen anerkannt und genutzt, mal mehr, mal weniger. Die gesamte theologische Rechtslehre wäre ohne die großen Philosophen der Antike heute wahrscheinlich eine andere. Ihre Ideen und Konzepte fanden Eingang in die Geisteswelt und die geistige Welt der frühen muslimischen Gemeinschaft. Die Analytik, Logik und strukturierte Betrachtung der Phänomene von Philosophen wie Platon und Aristoteles sind Teil des Fundaments der islamischen Scholastik. Eine Lehre der „Grundlagen der Rechtstheologie“ des großen Theologen Aschafii wäre ohne sie nur schwer denkbar oder würde sich zumindest anders darstellen. Es war die gottgegebene Vernunft, die den großen Philosophen, Mystiker, Theologen und Skeptiker Al Ghazali zu seiner Jahrhundertschrift „Die Wiederbelebung der Religionswissenschaften“ bewegte. Der Koran selbst ruft immer wieder dazu auf über die Dinge nachzudenken, den eigenen Verstand zu benutzen, mehr noch, er spricht davon, dass es die Wissenden sind, die eine besondere Frömmigkeit erreichen. Es gibt keinen Gedanken, keine Frage, die verboten ist - auch wenn das manchen Muslimen neu erscheinen könnte - es gibt nur Ungewissheit darüber, ob die Antwort wirklich eine Erkenntnis bringt.
Eine gottgegebene Vernunft: Wie könnte sie aussehen in unserer Welt?
Die Vernunft ist ohnehin ein Feld, auf dem Muslime die Menschengemeinschaft inspirieren könnten. Viel zu häufig ist die Vernunft ein Dogma geworden, ein Prinzip ohne Inhalt. Der Zweifel des Skeptikers ist nicht mehr inspiriert von der Suche nach Erkenntnis, wie sie Descartes antrieb. Für ihn war es essentiell auf Gott zu vertrauen und die gottgegebene Vernunft zu nutzen, um zu wahren Erkenntnissen zu gelangen und sich aus dem menschlichen Dilemma des Skeptikers zu befreien. Heute jedoch, ist es häufig nur ein Zweifel, um des Zweifels willen. Ein Zweifel, der einem stets alle Optionen offen lässt. Man muss sich nicht festlegen, so lange man zweifelt, und muss nicht Stellung beziehen. Genauso wenig muss man sich seiner eigenen Erkenntnis, die man durch den Zweifel gewinnen könnte, konsequent unterordnen und sein Leben danach ausrichten. So wird der Skeptiker zum selbstgefälligen Zauderer.
Die Vernunft ist ein mächtiges Instrument des Menschen, doch letztlich nur ein Instrument. Ein Instrument, um den Geheimnissen dieser Welt auf die Spur zu kommen, nicht um ihrer Selbst willen existiert sie, sondern, um den Menschen erkennen zu lassen. Und sie kann genauso missbraucht werden, wie andere mächtige Instrumente, wie z.B. der Glaube der Menschen. Der Sozialdarwinismus, der Kolonialzeit, der die Menschen ganz kalt und arrogant klassifizierte, ist ein trauriges Beispiel für den Missbrauch des Instrumentes „Vernunft“. Wenn jedoch die Vernunft ausnahmslos erkenntnisgerichtet ist, dann wird der Mensch, der sich ihrer bedient erkennen, dass sie nur das besagte Instrument ist und ihre Grenzen erkennen, und es wird deutlich, das neben der Vernunft auch andere Maxime und Quellen der Erkenntnis existieren, wie z.B. die Intuition des Menschen (oder die „intuitive Erkenntnis“).
Es geht nicht darum, einfach nur das zu tun, was andere erwarten
Eines dürfen aber die Fragen und Antworten der Muslime nie sein: Fremdbestimmt. Es ist wahr, dass es viele Errungenschaften gibt – mit Sicherheit nicht nur wirtschaftliche –, die den Muslimen gut tun könnten, wie z.B. das Recht auf persönliche Entfaltung oder die Rechtsstaatlichkeit (jedem Muslim, der hier wieder die Stimme erhebt, soll gesagt sein, dass, auch wenn die Rechtsstaatlichkeit hin und wieder gebeugt wird in manchen westlichen Staaten, sie jedoch zumindest da ist). Doch genauso wahr ist die Geschichte der unseligen Missionierung fremder Völker durch den Westen. Bis heute leiden die zerrissenen Gesellschaften unter der Kolonialisierung. Die Kolonialisierung, die stets wirtschaftliche Interessen hatte und doch auch Ideen transportierte und sie ohne Rücksicht den „rückschrittlichen“ Völkern überstülpte. Sie weckt immer wieder schmerzhafte Reflexe bei vielen Muslimen und sie wird es auch noch lange tun, auch wenn die Muslime inzwischen selbst Teil der anderen Welt geworden sind, Engländer, Franzosen oder Deutsche. Und es ist diese Kolonialisierung, die ein mahnendes Beispiel für die vielen Eiferer sein sollte, die die „gute Botschaft“ überbringen möchten.
Doch auch Muslime sollten diesen Weg selbstbestimmt beschreiten und nicht nur, um anderen zu gefallen. Der Zeitpunkt scheint verlockend endlich anderen nach dem Mund zu reden, endlich dazuzugehören. Es geht jedoch nicht darum und darf auch nie darum gehen, das Muslime einfach nur das tun und sagen, was andere von ihnen erwarten. Das wäre nicht aufrichtig und würde zwangsläufig nicht zu wahren, am wenigsten zu eigenen Erkenntnissen führen. Niemand lässt sich zu seinem Glück zwingen und niemand sollte sich dazu überreden lassen. So steht es auch im Koran.
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Hintergrund/Debatte
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