Newsnational Dienstag, 25.04.2006 |  Drucken

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Innenpolitisch von den USA lernen

Zwischen der Forderung nach mehr Sicherheit und dem Bedürfnis nach mehr Integration - Kommentar

Die US-Regierung erhob vor einigen Tagen schwere Vorwürfe gegen westeuropäische Länder. Durch die Unfähigkeit, Muslime zu integrieren, gefährde sich Europa nicht nur selbst, sondern auch die Sicherheit der USA. Das erklärte Daniel Fried, US-Staatssekretär für Europa im amerikanischen Außenministerium vor einem Komitee des US-Senats. In der EU entstehe ein gefährlicher Mix: Hohe Arbeitslosigkeit und Diskriminierung drängten muslimische Bürger an den Rand der Gesellschaft.

Im Gegensatz zur USA habe Europa versäumt, eine bewusste Integration zu verfolgen und behandle die Nachkommen muslimischer Einwanderer weiterhin als Ausländer, sagte Fried.

Zwar sehen die USA ähnlich wie europäische Experten nur in einer absoluten Minderheit ein extremistisches Potenzial der in der EU lebenden Muslime. Aber schon "eine Handvoll Extremisten kann verheerende Anschläge begehen", heißt es in Washington. Fried übernimmt in seiner Argumentation eine Hypothese des französischen Experten Olivier Roy, die schon länger in US-Denkzirkeln kursiert. Demnach gedeiht die Terrorideologie dort besonders gut, wo ein "entwurzelter Muslim" ungebremst mit der Moderne zusammenprallt. Auftrieb erhielt die Theorie nach den Anschlägen in Madrid und London; die Attentate gingen allesamt auf das Konto von Migranten der ersten oder zweiten Generation.

Natürlich ersetzt eine intelligente Sicherheitspolitik keine vernünftige Integrations- und Islampolitik, die wir gerade in Deutschland wiederholt schmerzlich vermissen. Der Idee zu einem Islam- und Integrationsgipfel der Bundeskanzlerin ist es auch zu verdanken, dass nun dieses Thema auf die gesellschaftspolitische Agenda kommt.

Aber auch die bisherigen ordnungspolitischen Maßnahmen und sicherheitspolitischen Vorschläge laufen größtenteils in Leere - siehe die Forderung nach Panzern zur WM. Zudem hat man nicht selten den Eindruck, dass viel populistisch für die Kulisse getan wird, aber kaum etwas, was den Extremismus nachhaltig bekämpft.

Denn nur wenn man das Vertrauen der Muslime in den Staat und in die Gesellschaft nachhaltig stärkt, nur wer mit den Muslimen und nicht gegen sie opponiert und versucht, ihre Köpfe zu gewinnen und dabei partnerschaftlich vorgeht, besitzt eine Strategie, die überhaupt Aussicht auf Erfolg hat.

Bei aller Kritik im Hinblick auf die US-Außenpolitik kann Deutschland dennoch von Amerika lernen. In den USA gibt es bereits seit langem vertrauensbildende Maßnahmen zwischen dem FBI und den muslimischen Organisationen, wie z.B. die „Grassrosts Campaign to Fight Terrorism“ des Muslim Public Affairs Council, wo es ausdrücklich um die Unterstützung und Erleichterung von Programmen zwischen Polizei und Moscheegemeinden vor Ort geht und nicht wie von einigen behauptet, um die Aushorchung derselben.

Die vor einem halben Jahr angefangenen Sicherheitsgespräche mit dem Zentralrat der Muslime in Deutschland und der DITIB mit dem BKA sind da ebenfalls ein wichtiger Anfang. In diese Gespräche, deren Fortsetzung nun stattfindet, sollten in Zukunft auch die restlichen Verbände, wie der Islamrat und VIKZ, eingebunden werden.

Von den USA lernen heißt aber auch, die Integration von Muslimen nicht alleine im Lichte sicherheitspolitischer Maßnahmen zu sehen. Denn die alleine schaffen kein Klima des Vertrauens.

Wie bereits erwähnt, kann man zu Recht genug Kritisches über die USA im Hinblick auf ihre Kriegspolitik im Nahen Osten und ihre Menschenrechtspolitik sagen. Der Umgang mit Minderheiten im eigenen Lande ist hingegen vorbildlich und sollte gerade vor dem Hintergrund einer verschärften Integrationsdebatte in Europa nicht unter den Tisch fallen und eher zur Nachahmung anregen.

Die kulturelle und wirtschaftliche Anziehungskraft ist in den USA, dem Land „der unbegrenzten Möglichkeiten“, besonders auch für Muslime nicht zu übersehen. So war es denn auch nicht verwunderlich, dass ein Großteil der muslimischen Einwanderer in den USA in den 70er und 80er ankamen und – ohne die leidvolle Erfahrung auf halbgepackten Koffern zu leben, wie dies die meisten Migranten in Europa bis in die 90er Jahre hinein getan haben - für immer auch dort leben wollen.

Amerika hat sich diesen Einwanderern nie verschlossen. Im Gegenteil, angesichts der oft ideologischen wie auch wirtschaftlichen Gegensätze innerhalb der Bevölkerung und Schichten, hat man das stete Gefühl, diese Menschen brauchen Amerika und Amerika braucht sie. Vergleichbar wie Symbiosen in der Tierwelt, wo die jeweiligen Parteien scheinbar so gar nichts miteinander zu tun haben und dennoch eine erfolgreiche Lebensgemeinschaften bilden.
Das klingt vielleicht ein bisschen pathetisch, aber man kann es auch so sagen: Die USA können es sich leisten, Einwanderer aufzunehmen, deren Glaubensbekenntnisse und Aktivitäten zulassen und sich multikulturalistisch geben, weil fast alle, die hierher kommen, Amerika "cool" finden -von den Turnschuhen bis zu den Filmstars, von den religiösen Fundamentalisten bis zu den Agnostikern.

Die erfolgreiche Integration ist aber auch teuer erkauft worden. Sie begann mit der Vertreibung der indianischen Ureinwohner. Flüchtlinge aus Europa, die bereits im 17. Jahrhundert im neuen Amerika das „gelobte Land“ erblickten, darunter waren viele Christen, die in Europa von ihren eigenen Kirchen verfolgt worden sind, zog es dort hin. Später kamen dann die Juden, die vor dem Nazi-Regime flüchteten und alles hinter sich gelassen haben. Die Unabhängigkeitserklärungen, als unermesslich wichtige Basis für die spätere demokratischen Gesellschaft, sind weitere wichtige Baumaterialien.

Muslime kamen recht spät in die USA. Sie fanden ein „open land“ - Amerikas Chance, Herausforderung und gleichzeitig größtes Kapital - und konnten sich in diesem System nahtlos einfügen. Die Muslime waren demnach lange Jahre ausschließlich Profiteure dieser Community. Selbst das Kopftuch oder irgendeine andere Kopfbedeckung, sei es die Kippa, der Turban oder eine bestimmte Ordenstracht wird als etwas Merkwürdiges erachtet, sondern gehört wie selbstverständlich – da ohnehin das amerikanische Volk starke religiöse Wurzeln hat und dies auch öffentlich stets zur Schau trägt - zum Straßenbild mit dazu.
Man kann an dieser Entwicklung auch deutlich sehen: Lässt man erst einmal die Muslime freiheitlich ihren individuellen Weg gehen, wirkt sich ihre Verwurzelung in die neue Gesellschaft in jeder Hinsicht für alle Seiten profitabel aus.

Und obwohl gerade nach dem 11. September eine erstmalige starke Belastung für das Zusammenleben zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in den USA sich einstellt – der Rat für Amerikanisch-Islamische Beziehungen (CAIR), des bekanntesten Muslimverbandes der USA sprach vor kurzem alarmierende Zahlen aus: 46 Prozent aller US-Bürger haben nach einer Umfrage der "Washington Post" eine negative Wahrnehmung des Islam.

Die Antwort der US-Regierung ließ nicht lange auf sich warten. Sie war nicht etwa wie man es hierzulande gewohnt ist, ein Statement, welches eher den Stammtisch als Adressat im Blickwinkel hatte; nein, es war eine staatsmännische Aussage, die den Kitt zwischen Muslimen und Mehrheitsgesellschaft nachhaltig stärken sollte. "Mit ihrer Großzügigkeit, ihrem Mitgefühl und ihrer Hingabe zum Glauben haben die amerikanischen Muslime geholfen, unser Land stärker zu machen“.

Solange dieses Gefühl bei der Mehrheit innerhalb der Minderheiten vorhanden ist, wird der soziale Frieden in den Staaten erhalten bleiben. Um diesen geht es in erster Linie, dieser sollte auch unseren Politikern und auch unseren Medien hierzulande am Herzen liegen.

Die Gefahren, verkleidet in der Forderung nach mehr Sicherheit und Zurückdrängung von Grundfreiheiten, lauern an allen Orten. Jeder Terroranschlag, jeder neue Krieg ist Wasser auf die Mühlen von Hardlinern jeder Couleur, die den berühmten Satz des großen amerikanischen Politikers und Philosophen Benjamin Franklin: „Wer grundlegende Freiheiten aufgibt, um vorübergehend ein wenig Sicherheit zu gewinnen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit“, am liebsten vergessen machen wollen.

Wenn die Gesellschaft kühlen Kopf behält, wenn die Muslime ihrerseits - nun auch als Betroffene – besonnen reagieren und die Möglichkeiten der Verwurzelung, die ihnen dieses Land bietet, erkennen und nutzen, dann besteht ein reelle Chance, dass sie als Gewinn und Bereicherung, in welchem Land sie auch immer leben mögen, angesehen werden. (Aiman A. Mazyek)





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