Newsnational Donnerstag, 28.01.2016 |  Drucken

Gefahr vor verstärktem Antisemitismus und einer wachsenden Islamfeindlichkeit in Europa

Muslime werden immer mehr zum Sündenbock gemacht - Human Rights Watch sieht Menschenrechte auch in Europa gefährdet - Von Paula Konersmann

Istanbul/Berlin (KNA) Der Bericht findet klare Worte. Die westlichen Regierungen bewegten sich «rückwärts», schreiben die Autoren. Aus lauter Furcht vor Terror und Flüchtlingsströmen habe Europa seinerseits eine «Politik der Angst» entwickelt. Von ihr gehe eine Gefahr für die Rechte aller Menschen aus, «ohne dass sie nachweislich einen effektiven Schutz für die Bürger» biete. Zu diesem Schluss kommt der Geschäftsführer von Human Rights Watch (HRW), Kenneth Roth, in einem Essay zum am Mittwoch veröffentlichten «World Report 2016».  

Die Organisation untersucht alljährlich die Entwicklung der Menschenrechte in mehr als 90 Ländern, inzwischen zum 26. Mal. Viele Regierungen versuchten, mit einer Einschränkung der Menschenrechte mehr Sicherheit zu erreichen, so das ernüchternde Fazit.  

In Europa seien schon heute ein verstärkter Antisemitismus und eine wachsende Islamfeindlichkeit zu beobachten, heißt es in dem fast 700 Seiten langen Bericht. Viele europäische Regierungen erfassten weder Hassverbrechen gegen Juden noch gegen Muslime auf sinnvolle Weise. Auch Sinti und Roma litten in mehreren EU-Ländern unter anhaltender Vertreibung.  

Gerade Muslime müssen laut HRW nach den Pariser Anschlägen der Terrormiliz «Islamischer Staat» (IS) immer wieder als Sündenbock herhalten. «Eine polarisierende Wir-gegen-sie-Rhetorik hat sich von den politischen Rändern in den Mainstream verlagert», beklagt Roth - eine Beobachtung, die auch deutsche Politiker zuletzt immer wieder geschildert haben.  

Extremisten haben dadurch in doppelter Hinsicht leichtes Spiel: Einerseits nutzen sie die Not der Menschen in Konfliktregionen aus. Andererseits halte eine «Fixierung auf die potenzielle Bedrohung durch Flüchtlinge» die europäischen Regierungen davon ab, «hausgemachten terroristischen Bedrohungen entgegenzutreten und die notwendigen Maßnahmen einzuleiten, um die soziale Ausgrenzung desillusionierter Bevölkerungsgruppen zu verhindern», kritisiert HRW - und erinnert daran, dass die Mehrheit der Attentäter von Paris aus Belgien und Frankreich stammten.  

Gegen diesen «homegrown terrorism», den auch der Terrorismus-Experte Peter Neumann oder der Islamwissenschaftler Gilles Kepel beschreiben, braucht es laut HRW entschiedene Maßnahmen: gegen Arbeitslosigkeit und Ungleichheit, gegen soziale Ausgrenzung und Hoffnungslosigkeit. Dass stattdessen ganze Bevölkerungsgruppen aufgrund der Taten Einzelner verunglimpft würden, verletze nicht nur die vielen friedlichen Muslime, schreibt Roth. Zugleich sei diese westliche Reaktion Wasser auf die Mühlen der Terroristen: Wegen einer Spaltung der Gesellschaft könnten sie neue Anhänger gewinnen.  

Insofern bezeichnete HRW auch den europäischen Umgang mit der Flüchtlingskrise als «kontraproduktiv»: Die EU konzentriere sich auf eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen und Grenzkontrollen, während sich die Asylsuchenden einer «Schutz-Lotterie» gegenüber sähen.  

Anerkennungsraten von Asylanträgen, Maßnahmen zur Unterbringung und Integration schwanken von EU-Land zu EU-Land. Engstirnige nationale Interessen stünden vernünftigen Lösungen im Weg, so formulieren es die Menschenrechtler. Für ein einheitliches Verteilsystem werben immer mehr Politiker, zuletzt etwa der schwedische Justiz- und Migrationsminister Morgan Johansson in der «Zeit». HRW fordert zudem sichere Einreisewege - die es nebenbei erleichtern könnten, mögliche Gefährder abzufangen.  

Mit Blick auf die weltweite Menschenrechtslage beklagt HRW Repressionen gegen zivilgesellschaftliche Gruppen. Besonders drastisch sei die Lage in Russland, China und der Türkei. Kritische Organisationen würden geschlossen, Aktivisten und Anwälte verhaftet. In mehreren Ländern sei der Einsatz für Menschenrechte per Gesetz eingeschränkt worden, darunter Ägypten, Kambodscha und Sudan.  

Die USA und europäische Länder reagierten allerdings ebenfalls mit Überwachungsmaßnahmen auf die erhöhte Terrorgefahr. «Bei den jüngsten Anschlägen in Europa waren die Täter den Strafvollzugsbehörden oft bekannt», mahnt HRW. Auch hier lautet der Vorwurf der Organisation: Instrumentalisierung - und Schüren von neuer Angst



Ähnliche Artikel

» Gotteshäuser brennen in Deutschland
» Hassverbrechen sichtbar machen
» ZMD arbeitet in der „Projektgruppe Hasskriminalität“ der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte mit
» 18.09.08 Stellungnahme des Vorsitzenden des Zentralrates der Muslimen in Deutschland (ZMD) Dr. Axel Ayyub Köhler zur Anti-Islamkonferenz in Köln
» Dresden gedenkt islamfeindlichen Mord an Marwa El-Sherbiny

Wollen Sie einen
Kommentar oder Artikel dazu schreiben?
Unterstützen
Sie islam.de
Diesen Artikel bookmarken:

Twitter Facebook MySpace deli.cio.us Digg Folkd Google Bookmarks
Linkarena Mister Wong Newsvine reddit StumbleUpon Windows Live Yahoo! Bookmarks Yigg
Diesen Artikel weiterempfehlen:

Anzeige

Hintergrund/Debatte

Extreme bis extremistische Einstellungen in Deutschland auf dem Vormarsch mit Spiegelung in der Politik und Medien
...mehr

Langes KNA-Interview: Der neue Vorsitzende des Zentralrats der Muslime über sein Amt
...mehr

Bochum ehrt Ahmed Aweimer zum 70. Geburtstag
...mehr

Aiman Mazyek kommentiert das Verbot der Imam Ali Moschee: "Blaue Moschee - Islamisches Zentrum in Hamburg
...mehr

Medienanalyse: Rassismus in Medien, Recht und Beratung
...mehr

Alle Debattenbeiträge...

Die Pilgerfahrt

Die Pilgerfahrt (Hadj) -  exklusive Zusammenstellung Dr. Nadeem Elyas

88 Seiten mit Bildern, Hadithen, Quran Zitaten und Erläuterungen

Termine

Islamische Feiertage
Islamische Feiertage 2019 - 2027

Tv-Tipps
aktuelle Tipps zum TV-Programm

Gebetszeiten
Die Gebetszeiten zu Ihrer Stadt im Jahresplan

Der Koran – 1400 Jahre, aktuell und mitten im Leben

Marwa El-Sherbini: 1977 bis 2009