Newsnational Mittwoch, 17.07.2013 |  Drucken

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„Arabischer Frühling“ als gescheiterten Versuch in der Moderne anzukommen

Westlicher Blick auf die Arabische Welt undifferenziert und ebenso ein Verhinderer - Herrschende Muslime verstehen weder den Islam noch die Moderne - Eine Ursachenforschung von Rachid Boutayeb anhand der Buchbesprechung von Thorsten Gerald Schneiders "Die Araber im 21. Jahrhundert"

Der Titel des Sammelbandes, den der Politikwissenschaftler Thorsten Gerald Schneiders herausgegeben hat, „Die Araber im 21. Jahrhundert“, erscheint zweifelsohne ein wenig interpretationsbedürftig. Zum einen erscheint die Bezeichnung „Araber“ als eine Absolutheit gesetzt, die in der Realität nicht vorhanden ist, zum anderen hat jene Arabische Welt, von der die Beiträge des Bandes handeln, vom Entwicklungsstand her noch nicht einmal das 18. Jahrhundert erreicht. Es handelt sich um eine Gesellschaft, die bis in die Gegenwart den Sprung in die Moderne noch nicht geschafft hat.

Wenn der Begriff „Moderne“ auftaucht, meint man damit vor allem ihre politischen und wissenschaftlichen Errungenschaften wie Demokratie und Menschenrechte und die rationale, unvoreingenommene Analyse eines Sachverhaltes. Die heutigen Araber sind nur als „Konsumenten der Moderne“ modern, haben jedoch keine dieser modernen Errungenschaften hervorgebracht. Sie erleben die Moderne als Entwicklung von außen und nicht von innen. Sie sind deshalb in gewisser Weise unmodern.

Der Versuch, sich die Moderne anzueignen, scheitert gerade zum dritten Mal mit dem sogenannten „Arabischen Frühling“. Beim ersten gescheiterten Versuch handelte es sich um das eklektische Projekt der Nahda (der arabischen Renaissance), welches den Islam mit der Moderne zu versöhnen bestrebt war. Der Traditionalismus mit seinen despotischen Zügen, aber auch die Kolonialmächte haben diesen Versuch im Keim erstickt. Die antikolonialen Befreiungsbewegungen, welche den zweiten Versuch darstellten, mündeten fünfzig Jahre nach der Entkolonialisierung in blutrünstigen Diktaturen. Der dritte Versuch, welcher als „Arabischer Frühling“ bezeichnet wird, führt diese Zivilisation, oder was von ihr übrig geblieben ist, in eine Sackgasse. Diese Ausweglosigkeit ist nicht darauf zurückzuführen, dass die "Islamisten" hierbei an die Macht gekommen sind, sondern weil jene nun herrschenden Islamisten weder den Islam noch die Moderne verstanden haben.

Man sollte als Ursachen dieser dauerhaften Misere, welche die Araber immer wieder daran hindert, in die Türen der Moderne einzutreten, eher die „sozio-ökonomischen Bedingungen, die globalen Finanzströme und die internationale Politik, die arabische Despoten aus Eigeninteresse über Jahrzehnte in Amt hielt“ anführen

Es ist nicht mehr erkenntnisfördernd, wie Schneiders in seiner Einleitung zurecht bemerkt, die Misere dieser Region auf ihre Kultur oder ihre Religion zu reduzieren. Diese kulturalistische Sicht hat sich schon längst als Fiasko entpuppt. Man sollte als Ursachen dieser dauerhaften Misere, welche die Araber immer wieder daran hindert, in die Türen der Moderne einzutreten, eher die „sozio-ökonomischen Bedingungen, die globalen Finanzströme und die internationale Politik, die arabische Despoten aus Eigeninteresse über Jahrzehnte in Amt hielt“ anführen. Zweifelsohne führt sich diese Misere nicht nur auf äußere Faktoren zurück. Sie ist vor allem die Folge des Scheiterns der Befreiungsideologien, welche im Endeffekt nur den alten Kolonialismus durch einen neuen ersetzten, aber dieses Mal nicht durch ausländisches Militär, sondern durch die Übernahme kulturfremder politischer Ideologien wie des Nationalismus, des Sozialismus und des Antizionismus.

Der zurecht in seiner gesellschaftsförderlichen Entwicklung umstrittene „Arabische Frühling“, den man mittlerweile, zwei Jahre nach seinem Ausbruch, eher als einen „Winter“ bezeichnen müsste, erwies sich als hilflose Reaktion auf das Scheitern des arabischen Staates auf allen Ebenen. Die Reaktion zeigt sich deshalb als hilflos und unreflektiert, weil sie nicht mit einem neuen gesellschaftlich-politischen Projekt verbunden war. Die aktuellen Bedingungen sowohl in Tunesien, in Libyen, in Ägypten als auch in Syrien liefern ein Zeugnis davon.

Wir können nicht eine Revolution führen, um in die Moderne zu gelangen, sondern wir müssen modern sein, um eine Revolution erfolgreich zu führen und vor allem, um ihre Früchte am Ende zu ernten. Marwan Abou-Taam stellt deshalb mit Recht die Frage: „ Warum wurden diejenigen Kräfte gewählt, die antiliberale Positionen vertreten und totalitäre Ideen verfolgen?“. Angeprangert wird hier der Patriarchalismus, welcher die Grundstruktur der arabischen Gesellschaften bildet, und der auch, wie der Psychoanalytiker des Islam, Fethi Benslama, zu Recht hervorhebt, eine politische Herrschaft einschließt. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, sowie den kulturalistischen und rassistischen Lektüren entgegenzuhalten, dass der Patriarchalismus im Endeffekt nur eine von vielen Symptomen der Unterentwicklung ist, und ein Phänomen, das nicht ausschließlich in den islamischen Gesellschaften zu finden ist.

In den Arabischen Winter

Eine andere Folge der Unterentwicklung und Korruption der Arabischen Welt zeigt sich in der Unterdrückung der Minderheiten, ausgerechnet in einer Zivilisation, die jahrhundertelang den Unterdrückten Zuflucht geboten hat, nicht zuletzt nach den Massakern an den Armeniern oder an den Juden. Martin Tamcke erinnert uns in seinem Beitrag über die christlichen Minderheiten in der Arabischen Welt daran, dass sich die Lage der christlichen Minderheiten in den Arabischen Staaten Tag für Tag verschlechtert. Es steht zu befürchten, dass sich das irakische Szenario in Ägypten oder in Syrien wiederholen wird.

In Ägypten hat sich die Lage der Kopten nach der Revolution eher verschlechtert, obwohl die koptische Jugend in hohem Maße an der Revolution teilnahm und sich damit sogar gegen den Willen der eigenen kirchlichen Autoritäten im Lande stellte. Die Agitation der Islamisten gegen die Kopten in Ägypten zeugt vor allem von großer Ignoranz, nicht nur gegenüber der eigenen Religion, welche im Christentum eine Bruderreligion sieht, sondern ebenso der ägyptischen Geschichte, in der die Kopten eine bedeutende Rolle spielten - und spielen konnten – im Dienste der Modernisierung des Landes.

Das Schicksal der jüdischen Minderheit in Marokko unterscheidet sich zweifelsohne von jenem der Christen im Vorderen Orient. Dieser Unterschied liegt vor allem in der Tatsache begründet, dass man in Marokko bis heute ein anderes Verständnis der Religion pflegt und darüber hinaus eine andere Sicht auf den Westen hat. Juden sind nicht nur sichtbarer Teil der marokkanischen Gesellschaft, sondern vor allem ein zentraler Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses. Der Aufsatz des Politikwissenschaftlers und Marokkoexperten Mohammed Khallouk ist reich an Informationen über das jüdische Leben und die jüdische Geschichte in Marokko, aber auch über die engen Beziehungen zwischen den marokkanischen Juden in der Diaspora und ihrem Ursprungsland.„Die Juden in Marokko identifizierten sich generell so stark mit ihrer muslimisch geprägten Umgebung, dass sie nicht nur die dortigen Sprachen und Lebensgewohnheiten annahmen. Muslimische Heilige Marokkos wurden von dort lebenden Juden ebenso verehrt wie jüdische Heilige des Landes von der muslimischen Mehrheitsbevölkerung“. Zurecht wird deshalb hervorgehoben, dass die marokkanische Monarchie sich gegen das Vichy-Regime auflehnte und die geforderte Auslieferung der marokkanischen Juden an Nazideutschland verweigerte.

Sowohl die marokkanischen Juden, als auch die christlichen Minderheiten im Orient spielten eine bedeutende Rolle in der Verbreitung der modernen Werte und im gemeinsamen Befreiungskampf mit den Muslimen gegen die Kolonialherrschaft. Sie nahmen auch nach der Unabhängigkeit politische Verantwortung wahr. Khallouk lässt in seinem Aufsatz auch die Rolle der marokkanischen Monarchie in Verbindung mit den marokkanischen Juden in den Friedensverhandlungen im Nahen Osten zwischen Arabern und Israelis nicht unerwähnt, welche 1978 zum Abkommen von Camp David zwischen Israel und Ägypten führten.

Insgesamt gibt Schneiders Sammelband einen umfassenden Überblick auf die verschiedenen Aspekte der gegenwärtigen Arabischen Welt. Die Beiträge sind in der Lage, im Westen wie in der arabischen Gesellschaft selbst verbreitete Klischees zur Disposition zu stellen und einen differenzierteren Blickwinkel auf den Islam und die arabische Kultur zuzulassen. Dabei dürfen jedoch nicht die Augen für die Tatsache verschlossen werden, dass in der Arabischen Welt seit der Periode, die man in Europa als „die Aufklärung“ kennt, und erst recht seit die Europäer die arabischen Staaten zu kolonialisieren begannen, gesellschaftlicher Fortschritt nahezu ausgeblieben ist, beziehungsweise auf kleine prowestliche Eliten beschränkt war.

Die Partizipation dieser Region an der Moderne erscheint allein aus sich selbst heraus gegenwärtig illusorisch und bedarf folglich auch in Zukunft der Erkenntnisse und Unterstützung aus dem Westen. Damit diese Unterstützung sich jedoch nicht erneut als Aufforderung zur unreflektierten Nachahmung westlicher Konzepte erweist, sondern als Wegweiser eines eigenständigen arabischen Modernisierungskonzeptes dienen kann, ist es bedeutsam, dass die Gesellschaft des Okzidents umfangreiche Informationen über die Wurzeln der gegenwärtigen Probleme, aber auch über den kulturellen Reichtum des Orients besitzt, wozu der Sammelband einen wertvollen Beitrag leistet.

Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.): Die Araber im 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2013

Der Autor Dr. Rachid Boutayeb ist Philosoph und Islamwissenschaftler. Er promovierte bei Axel Honeth von der Frankfurter Schule und publiziert u.a. bei Merkur und Lettre International.





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