Der Deutsche Bundestag
Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht nur eine repräsentative und liberale Demokratie, sondern auch eine parlamentarische Demokratie. Wie der Name schon sagt, steht in diesem Typ von Demokratie – etwa im Unterschied zu einem präsidentiellen System – das Parlament im Mittelpunkt. Das Parlament der BRD ist der Bundestag. Er bildet das Zentrum unserer Demokratie.
Das ist der Fall, weil: 1) er das einzige Verfassungsorgan ist, das direkt von den Bürgern gewählt wird und damit höchste demokratische Legitimation besitzt; 2) er im politischen System der BRD die zentrale Gewalt im Staat innehat, nämlich die Gesetzgebung, die Legislative; 3) er aus seinen Reihen die Person wählt, die die Regierungsgeschäfte der BRD steuert, den Kanzler oder die Kanzlerin, und diese Person unter bestimmten Umständen durch die Wahl eines Nachfolgers auch wieder absetzen kann.
Im Folgenden werden diese drei Gründe, warum der Bundestag – zumindest dem Grundgesetz nach – eine so herausragende Stellung im politischen System der Bundesrepublik Deutschland einnimmt, genauer erläutert. Der Beitrag endet 4) mit einer kurzen Einschätzung, wie es um die tatsächliche Bedeutung des Bundestags im Prozess der politischen Entscheidungsfindung bestellt ist.
1) Höchste demokratische Legitimation
Höchste demokratische Legitimation hat der Bundestag insofern, als er das einzige Verfassungsorgan ist, das direkt von den Bürgern gewählt wird. Der Bundestag besteht aus mindestens 598 Abgeordneten, die in der Regel alle vier Jahre nach dem personalisierten Verhältniswahlrecht (dazu unten mehr) gewählt werden (Art. 39 GG).
Wahlrechtsgrundsätze
Für die Wahl gilt: sie muss allgemein, frei, geheim, gleich und unmittelbar sein (Art. 38 GG). - "Allgemein" bedeutet, dass der Kreis der Wahlberechtigten nicht willkürlich eingeschränkt werden darf. Religionszugehörigkeit, Geschlecht oder Hautfarbe sind z. B. keine guten Gründe, um eine Person von der Wahl auszuschließen, Mündigkeit und Betroffenheit hingegen schon. Deshalb sind in der BRD alle Personen wahlberechtigt, die mindestens 18 Jahre alt sind und die deutsche Staatsangehörigkeit haben (und keine so schwerwiegenden Straftaten begangen haben, dass ihnen die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt wurden). - Des Weiteren hat jede wahlberechtigte Person das Recht, frei zu entscheiden, wem sie ihre Stimme gibt. - Um sicherzustellen, dass sie diese Freiheit nicht nur "auf dem Papier" hat, sondern tatsächlich frei entscheiden kann, ohne Angst davor haben zu müssen, wegen der Wahlentscheidung Unannehmlichkeiten zu erleiden, findet die Wahl geheim statt. Darüber hinaus wird durch das Grundgesetz gewährleistet, dass die Wahlberechtigten auch eine ( Aus-) Wahl aus einer Vielzahl von Parteien (und Kandidaten) haben: In Art. 21 GG ist verankert, dass die politischen Parteien ein besonderes Privileg gegenüber anderen Vereinen genießen, denn ihre Gründung ist frei, und sie können nur durch das Bundesverfassungsgericht verboten werden. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass jede politische Strömung, solange sie die Prinzipien der freiheitlich demokratischen Grundordnung nicht aggressiv bekämpft, um die Stimmen der Bürger werben und ihre Positionen gegebenenfalls in den politischen Entscheidungsprozess einbringen kann. - Die Wahl ist gleich insofern, als jede Stimme genauso viel zählt wie jede andere, und - sie ist unmittelbar; das bedeutet, dass das Ergebnis der Wahl tatsächlich über die Verteilung der Bundestagsmandate entscheidet, es also nicht so etwas wie ein Wahlmännerkollegium gibt, das das letzte Wort hat und von der mehrheitlichen Entscheidung der Bürger abweichen kann.
Personalisiertes Verhältniswahlrecht
Die Abgeordneten werden auf der Grundlage des personalisierten Verhältniswahlrechts gewählt. Dieses Wahlrecht verbindet die Vorzüge von zwei verschiedenen Wahlsystemen, der Mehrheits- und der Verhältniswahl. Deshalb hat jeder Bürger zwei Stimmen: - Mit ihrer Erststimme wählen die Wahlberechtigten nach den Regeln der Mehrheitswahl einen Kandidaten oder eine Kandidatin aus ihrem Wahlkreis. Die BRD ist in 299 Wahlkreise aufgeteilt; in jedem Wahlkreis stehen mehrere Kandidierende zur Wahl, und der- oder diejenige mit den meisten Stimmen im Wahlkreis gewinnt einen Sitz im Bundestag, auch „Bundestagsmandat“ genannt. Dies sind folglich die Abgeordneten, die direkt in den Bundestag einziehen. - Mit ihrer Zweitstimme wählen die Wahlberechtigten nach dem Verhältniswahlrecht eine Partei. Die 598 Sitze im Bundestag verteilen sich auf die Parteien im Verhältnis zu ihrem Anteil an gültigen Zweitstimmen. Damit ist die Zweitstimme die wichtigere Stimme, denn sie entscheidet darüber, welche Partei oder Koalition von Parteien die Mehrheit im Bundestag bildet und in Folge dessen auch den Regierungschef (oder die -chefin) wählt.
Nach der Auszählung der Zweitstimmen weiß man, wie sich die Sitze im Bundestag auf die Parteien verteilen, und von 299 dieser Sitze weiß man auch, wer die Personen sind, die sie einnehmen – nämlich die direkt gewählten Abgeordneten. Was ist aber mit den übrigen 299 Sitzen? Welche Personen nehmen sie ein? Das entscheidet sich nicht auf Bundes-, sondern auf Landesebene: Zu ihrer Besetzung stellen die Parteien nämlich für jedes Bundesland Listen von Personen auf, die als Abgeordnete in Frage kommen. Jetzt wird festgestellt, wie viele Sitze im jeweiligen Bundesland einer Partei zustehen nach dem Anteil an gültigen Zweitstimmen, die sie dort erhalten hat. Diese Sitze werden dann, wie oben gesagt, zuerst mit den in den Wahlkreisen dieses Bundeslandes direkt gewählten Personen besetzt. Die übrigen Sitze werden mit den Kandidaten auf der Liste gefüllt. Deshalb hat die Person auf Listenplatz 1 eine sehr viel bessere Chance in den Bundestag einzuziehen als die Person auf Listenplatz 10.
Überhangmandate und 5%-Hürde
Es kann nun vorkommen, dass eine Partei in einem Bundesland mehr Sitze direkt gewinnt, als ihr nach dem Anteil ihrer Zweitstimmen in diesem Land zustehen. Das sind die sogenannten Überhangmandate. Davon gab es 2009, bei der letzten Bundestagswahl, 24. In Rheinland-Pfalz z. B. erhielt die CDU 35% der gültigen Zweitstimmen. Das entsprach elf Bundestagsmandaten. Allerdings hatte sie 13 der 15 Wahlkreise von Rheinland-Pfalz direkt gewonnen. Folglich erhielt sie in Rheinland-Pfalz zwei Überhangmandate.
Durch die Überhangmandate wird ein Wahlrechtsgrundsatz verletzt, nämlich der des gleichen Zählwerts jeder Stimme: Nehmen wir an, eine andere Partei hätte in Rheinland-Pfalz ebenfalls 35% der gültigen Zweitstimmen erhalten, aber nur zwei Wahlkreise direkt gewonnen: Dann hätte sie bei der gleichen Anzahl von Zweitstimmen weniger Mandate erhalten als die CDU, nämlich nur elf, nicht 13. D. h. die Zweitstimmen für die CDU zählten mehr als die Zweitstimmen für die konkurrierenden Parteien, die keine Überhangmandate erhielten. Wegen dieser Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes beschäftigt sich das Bundesverfassungsgericht immer wieder mit den Überhangmandaten, zuletzt 2008.
Nicht die Gleichheit des Zählwerts, aber die Gleichheit des Ergebniswerts wird verletzt durch eine weitere Besonderheit des Wahlsystems der BRD: Es dürfen nämlich nur solche Parteien in den Bundestag einziehen, die mindestens 5% der gültigen Zweitstimmen erhalten oder aber drei Direktmandate erzielen. Nur dann erhält eine Partei so viele Sitze, wie es ihrem Anteil an gültigen Zweitstimmen entspricht. Damit soll verhindert werden, dass es zur sogenannten „Parteienzersplitterung“ kommt. Damit ist gemeint, dass viele kleine Parteien in das Parlament einziehen, die sehr unterschiedliche Positionen vertreten und sich deshalb nur schwer oder gar nicht mehrheitlich auf eine gemeinsame Politik einigen können. Dadurch würde der Bundestag handlungsunfähig. Parteienzersplitterung war eines der Probleme, die zum Scheitern der Weimarer Republik und zur Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933 führte. Vor diesem Hintergrund gilt diese Einschränkung des Gleichheitsgrundsatzes als gerechtfertigt.
Die Stellung des Abgeordneten
Die Abgeordneten einer Partei, die mindestens 5% der gültigen Zweitstimmen erhalten hat, bilden eine Fraktion; wenn eine Partei weniger als 5% der gültigen Zweitstimmen, aber drei Direktmandate errungen hat, dann bilden ihre Abgeordneten im Parlament eine Gruppe. Die zentralen politischen Akteure im Parlament sind die Fraktionen. Zwar sind die Abgeordneten nach Art. 38 GG in ihren Entscheidungen frei und einzig und allein ihrem Gewissen verpflichtet. Tatsächlich richten sie sich aber in der Regel nach den Beschlüssen der Fraktion, der sie angehören, denn die Stabilität eines parlamentarischen Systems hängt davon ab, dass in der Regel Fraktionsdisziplin herrscht. Das bedeutet, dass sich die Abgeordneten bei der Abstimmung im Bundestag daran halten, was in den Fraktionen beschlossen wurde. Dazu unten aber mehr.
Der einzelne Abgeordnete genießt allerdings einen besonderen Schutz. Er kann seine Fraktion verlassen, ohne seinen Sitz im Bundestag, also sein Mandat zu verlieren; er hat das Zeugnisverweigerungsrecht (Art. 47 GG); er genießt Immunität und Indemnität (Art. 46 GG). Diese letzten beiden Schutzrechte stammen aus der Frühzeit des Parlamentarismus, als verärgerte Monarchen die Neigung hatten, Abgeordnete ins Gefängnis werfen zu lassen, wenn sie sich weigerten Steuererhöhungen zu bewilligen, damit der König Krieg führen konnte. Immunität garantiert dem Abgeordneten nämlich Schutz vor Verhaftung ohne Zustimmung des Parlaments (außer er wird gerade „auf frischer Tat erwischt“); Indemnität schützt ihn vor Verfolgung wegen der politischen Position, die er vertritt (außer er verwechselt Meinungsäußerung mit Beleidigung oder Verleumdung).
2) Der Bundestag als Inhaber der Legislative
Die zentrale Gewalt im Staat ist die gesetzgebende, die Legislative. Sie wird in der BRD durch den Bundestag gebildet. Der Bundestag ist nicht allein für die Gesetzgebung zuständig: Auch der Bundesrat und die Bundesregierung haben Gesetzesinitiativrecht, dürfen also Gesetzesvorschläge machen (Art. 76 GG). Der Bundesrat kann zudem gegen Gesetzesbeschlüsse des Bundestags Einspruch einlegen; es gibt sogar eine ganze Reihe von Gesetzen, die nicht ohne die Zustimmung des Bundesrates beschlossen werden können, nämlich solche, die die Verfassung ändern (Art. 79 GG) oder die Angelegenheiten der Länder (Finanzen, Verwaltungs- und Organisationshoheit der Länder) betreffen. Generell gilt aber, dass die Gesetzesvorschläge im Bundestag in drei „Lesungen“ beraten werden (dazu unten mehr) und kein Gesetz verabschiedet werden kann, ohne dass es der Bundestag beschlossen hat. Der Bundestag ist damit der zentrale Akteur im Gesetzgebungsprozess; der Bundesrat ist zwar die zweite gesetzgebende Kammer, aber in der Gesetzgebung nicht gleichberechtigt.
Plenum und Ausschüsse
Über die Gesetzesvorschläge entscheidet das Plenum des Bundestags. Das sind maximal alle gesetzlichen Mitglieder des Bundestags plus alle Inhaber von Überhangmandaten. Sie entscheiden, je nach dem, um welche Art von Gesetz es sich handelt, - mit der einfachen Mehrheit der Anwesenden, d. h. der Stimmen (Normalfall), oder - mit der Mehrheit der Mitglieder ("Kanzlermehrheit", weil sie nötig ist, um eine Person zum Kanzler oder zur Kanzlerin zu wählen) oder - mit Zweidrittelmehrheit der Stimmen (etwa um einen entsprechenden Einspruch des Bundesrates zu überstimmen) oder gar - mit Zweidrittelmehrheit der Mitglieder (sie ist erforderlich, um das Grundgesetz zu ändern; zudem muss, wie oben gesagt, der Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit zustimmen).
In der Regel befinden sich im Plenum aber sehr viel weniger Abgeordnete als der Bundestag Mitglieder hat. Das liegt aber nicht daran, dass die Abgeordneten faul oder desinteressiert wären. Der Bundestag ist nicht nur ein Redeparlament wie das von Großbritannien, dessen Hauptaufgabe darin besteht, Gesetzesvorhaben der Regierung öffentlich zu debattieren, sondern auch ein Arbeitsparlament, in dem die Gesetzesvorschläge ausgearbeitet werden: "Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es eingebracht wurde", so das "Strucksche Gesetz" des früheren SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck. Und diese Arbeit wird nicht im Plenum erledigt, sondern in den Ausschüssen.
Derzeit hat der Bundestag 22 ständige Ausschüsse, die, wie die Ministerien der Regierung, für verschiedene Politikbereiche zuständig sind. Es gibt also etwa Ausschüsse für Auswärtiges und für Verteidigung (Art. 45 a GG), für den Haushalt und für innere Angelegenheit, aber auch für Sport und für Tourismus sowie für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. Die Ausschüsse sind nach Fraktionsstärke besetzt, d. h. die größte Fraktion stellt die meisten Mitglieder in den Ausschüssen. Gruppen sind in den Ausschüssen vertreten, haben aber kein Stimmrecht.
Gesetzgebungsverfahren
Nachdem ein Gesetzesentwurf in den Bundestag eingebracht wurde, wird er in der "ersten Lesung" vorgestellt und dann an die zuständigen Ausschüsse überwiesen. Dort wird der Entwurf von den Ausschussmitgliedern auf der Grundlage der Beschlüsse ihrer Fraktionen diskutiert. Ihre Ergebnisse werden dann dem Plenum in der "zweiten Lesung" vorgetragen, das darüber in einer "dritten Lesung" abstimmt.
Danach wird der Beschluss dem Bundesrat zugestellt, und jetzt hängt der weitere Verlauf der Gesetzgebung davon ab, ob der Bundesrat mit dem Beschluss einverstanden ist oder nicht. Stimmt er zu, ist das Gesetz zustande gekommen und muss nur noch vom Bundespräsidenten unterschrieben und im Bundesgesetzblatt veröffentlicht werden, so dass sich die Bürger prinzipiell fortlaufend über die aktuelle Gesetzeslage informieren können. Stimmt der Bundesrat allerdings einem Bundestagsbeschluss nicht zu, hängt sein Schicksal davon ab, ob es sich um ein Einspruchsgesetz oder um ein zustimmungspflichtiges Gesetz handelt.
Gesetze des ersten Typs, gegen die der Bundesrat Einspruch erhebt, kommen zustande, wenn sich genügend Abgeordnete im Bundestag finden, die den Einspruch überstimmen. Gesetze des zweiten Typs hingegen sind gescheitert, wenn der Bundesrat seine Zustimmung verweigert (Art. 77 und 78 GG). Letzteres passiert allerdings nicht allzu oft – dank dem Vermittlungsausschuss: der Vermittlungsausschuss besteht aus einer gleichen Anzahl von Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates, die geheim beraten und darin geübt sind, Kompromisse zu erarbeiten. Er kann bei zustimmungspflichtigen Gesetzen dreimal einberufen werden (bei Einspruchsgesetzen nur einmal, und zwar durch den Bundesrat), nämlich je einmal von den drei an der Gesetzgebung beteiligten Institutionen, d. h. von der Regierung, dem Bundestag und dem Bundesrat. Wenn der Vermittlungsausschuss mit seinem Vorschlag den ursprünglichen Beschluss des Bundestags ändert, muss der Bundestag erneut darüber abstimmen, denn er hat in Gesetzesdingen, wie gesagt, das letzte Wort.
3) Die Regierung als Steuerungsorgan des Parlaments
Das zentrale Merkmal eines parlamentarischen Systems ist die Abhängigkeit der Regierung vom Parlament. Das heißt in der BRD, dass der Kanzler oder die Kanzlerin von der Unterstützung durch die Mehrheit der Mitglieder des Bundestags abhängig ist. Diese Abhängigkeit äußert sich darin, dass der Kanzler zum einen durch den Bundestag gewählt wird und zum anderen durch den Bundestag auch gestürzt werden kann:
Kanzlerwahl
Zwar ist es der Bundespräsident, der eine Person für das Amt des Kanzlers vorschlägt. Tatsächlich aber richtet sich dessen Vorschlag danach, welche Person im Bundestag mehrheitsfähig ist, denn sie benötigt die Stimmen der absoluten Mehrheit der Bundestagsmitglieder – zumindest im ersten Wahlgang und allen anderen, die sich in den darauf folgenden 14 Tagen anschließen; danach genügt u. U. eine relative Mehrheit (Art. 63 GG). Nach der Bundestagswahl von 2009 mussten also bei 598 gesetzlichen Mitgliedern und 24 Inhabern von Überhangmandaten mindestens 312 Abgeordnete dem Vorschlag des Bundespräsidenten folgen. Der damalige Bundespräsident Köhler hatte Angela Merkel vorgeschlagen, und sie wurde im ersten Wahlgang mit 323 Stimmen zur Kanzlerin gewählt.
Konstruktives Misstrauensvotum
Der Kanzler oder die Kanzlerin kann außerdem durch den Bundestag gestürzt werden, nämlich dann, wenn der Bundestag im Rahmen eines konstruktiven Misstrauensvotums eine andere Person mit absoluter Mehrheit zum Kanzler wählt (Art. 67 GG).
Die Möglichkeit, den Regierungschef abzusetzen, gibt es in allen parlamentarischen Demokratien. Das Besondere in der BRD ist, dass das Misstrauensvotum nicht in der Abwahl des „alten“ Kanzlers, sondern in der Neuwahl des Nachfolgers besteht. Es handelt sich also nicht um einen „destruktiven“, sondern um einen „konstruktiven“ Akt. Auch das ist eine Lehre aus dem Scheitern der Weimarer Republik, in der es nur ein destruktives Misstrauensvotum gab, es also für den Sturz des Kanzlers ausreichte, wenn sich die Mehrheit der Abgeordneten in der Ablehnung des Regierungschefs einig war. Es ist aber, wie man bei fast allen oppositionellen Bewegungen beobachten kann, sehr viel leichter sich darauf zu einigen, wen oder was man nicht will, als sich darüber zu verständigen, für wen oder was man mehrheitlich eintritt. In der Weimarer Republik hatte das zur Folge, dass sich vor allem in ihrer Endphase die Rechts- und Linksextremisten zusammentaten, um einen Kanzler nach dem anderen zu stürzen. Sie konnten sich dann aber nicht darauf einigen, eine der Personen, die daraufhin vom Reichspräsidenten zum Kanzler ernannt wurden, gemeinsam zu unterstützen. Und das führte dazu, dass das System weitgehend handlungsunfähig wurde. Und das wiederum erlaubte es dem Präsidenten der Weimarer Republik seine Notfallbefugnisse nach Art. 48 WV zu nutzen, die ihm quasi-diktatorische Entscheidungsmacht verliehen.
4) Der Bundestag als Entscheidungszentrum des politischen Systems der BRD?
Die zentrale Position des Bundestags in der parlamentarischen Demokratie der BRD ist allerdings mindestens zwei Einschränkungen unterworfen. Eine hat mit den Funktionsbedingungen eines parlamentarischen Systems zu tun, die andere mit der zunehmenden Bedeutung der Gesetzgebung durch die Europäische Union.
Regierung als Steuerungsorgan
Das Verfassungsorgan, das die meisten gesetzgeberischen Impulse gibt, d. h. die meisten Vorschläge macht, welche Themen durch ein Gesetz geregelt werden sollen, und auch gleich ausarbeitet, wie ein entsprechendes Gesetz aussehen könnte, ist nicht der Bundestag, sondern die Regierung mit ihren diversen Ministerien. Die Regierung bringt die weitaus meisten Gesetzesinitiativen in den Gesetzgebungsprozess ein, denn sie ist das Steuerungsorgan des parlamentarischen Systems, das aus dem Parlament hervorgegangen ist. Dass die Regierung ihre Steuerungsfunktion wahrnehmen kann, ist dadurch gewährleistet, dass sie sich in der Regel darauf verlassen kann, dass die Bundestagsmehrheit ihre Gesetzesvorschläge unterstützt. Ihre Initiativen werden zwar in den Ausschüssen diskutiert und auch verändert, aber dann im Kern so beschlossen, wie es sich die Regierung vorgestellt hat. Gefahr droht ihnen nur bei zustimmungspflichtigen Gesetzen durch den Bundesrat, wenn dort andere Parteien die Mehrheit bilden als im Bundestag.
Wenn sich die Regierung nicht mehr darauf verlassen kann, dass ihre Initiativen von der Parlamentsmehrheit unterstützt werden, ist das ein Zeichen für eine Krise. Dann droht ein konstruktives Misstrauensvotum oder aber die Vertrauensfrage von Seiten des Kanzlers als Mittel, die Mehrheit der Parlamentarier wieder "auf Kurs" zu bringen. Wird ihm allerdings das Vertrauen nicht ausgesprochen, kann das u. U. (Art. 68 GG) Neuwahlen zur Folge haben.
Viele Bürger finden es befremdlich, dass das Parlament in der Regel den (Gesetzgebungs-)Wünschen der Regierung folgt. Wo bleibt denn da die Gewaltenteilung?, fragen sie. Sollten sich Bundestag und -regierung nicht gegenseitig kontrollieren, anstatt an einem Strang zu ziehen? So verstandene Gewaltenteilung besteht in präsidentiellen Systemen wie dem der USA, wo sich Präsident und Kongress gegenüber stehen und Gesetzgebungswünsche des Präsidenten an einem nicht zur Kooperation bereiten Kongress scheitern können – wie etwa die Reform des Krankenversicherungssystems, die Präsident Obama angeregt hatte –, ohne dass das ein Krisenzeichen wäre. In parlamentarischen Systemen hingegen findet die Gewaltenteilung zwischen der Regierung und der Parlamentsmehrheit einerseits und der parlamentarischen Opposition andererseits statt. Der Opposition obliegt es, das Regierungslager zu kontrollieren und Alternativen zu dessen Politik vorzutragen. Um diese Funktionen wahrnehmen zu können, verfügt die Opposition über eine Reihe von Minderheitenrechten. Sie kann die Regierung z. B. zwingen, zu bestimmten Themen öffentlich Stellung zu nehmen durch kleine und große Anfragen und durch die Anberaumung von Aktuellen Fragestunden. Sie kann des Weiteren das Bundesverfassungsgericht anrufen, wenn sie der Ansicht ist, dass ein Gesetz mit dem Grundgesetz unvereinbar ist. Ihr schärfstes Instrument ist die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses (Art. 44 GG), der einen Sachverhalt ähnlich wie ein Gericht untersucht. Ziel ist aber nicht die Verurteilung von Personen – dazu sind allein die Gerichte befugt –, sondern die öffentlichkeitswirksame Aufarbeitung vermeintlicher Missstände.
Gesetzgebung durch die EU
Der Bundestag gilt als der große „Verlierer“ im Prozess der zunehmenden Europäisierung der bundesdeutschen Politik. Heute entscheidet die EU über eine Vielzahl von Regelungen in einer Vielzahl von politischen Bereichen, ohne dass ihre Mitglieder, d. h. die einzelnen Staaten und ihre Parlamente, vorher zustimmen müssten. Wenn die Legislative der EU, d. h. der Rat der Europäischen Union und das Europäische Parlament, eine Maßnahmen beschlossen hat, bleibt dem Bundestag nur, diese Richtlinie in nationales Recht zu übertragen. Er hat aber nicht die Befugnis, diese Richtlinie zu ignorieren oder zu ändern. Sogar in Bereichen, die nach wie vor nur mit Zustimmung aller EU-Mitglieder geregelt werden können, spielt der Bundestag im Vergleich zur Bundesregierung nur eine untergeordnete Rolle. Er hat zwar einen eigenen Europa-Ausschuss (Art. 45 GG) und verfügt über umfassende Informationsrechte (Art. 23 GG), aber tatsächlich ist sein Einfluss auf die Gesetzgebung deutlich zurückgegangen. Gleichzeitig wurden mit dem Vertrag von Lissabon 2009 die Mitentscheidungsbefugnisse des Europäischen Parlaments gestärkt, so dass es jetzt in den meisten Politikfeldern eine dem Rat der Europäischen Union gleichberechtigte Gesetzgebungskammer bildet.
Umso wichtiger wird es sein, dass auch die Bürger die Bedeutung des Europäischen Parlaments erkennen und sich an der Wahl seiner Abgeordneten mindestens ebenso engagiert beteiligen wie bisher an Bundestagswahlen.
Dr. Annette Schmitt lehrt im Bereich Politische Theorie am Institut für Politikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Wissenschaftstheorie im Allgemeinen, Ökonomischer Ansatz der Theoriebildung in der Politikwissenschaft und Politische Philosophie: Analyse von Gerechtigkeitsproblemen. Sie veröffentlichte u. a. Toleranz: Tugend ohne Grenzen?, Die Umstände der Gerechtigkeit: Handlungs- und motivationstheoretische Annahmen liberaler Theorien am Beispiel von John Rawls’s A Theory of Justice. |
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Hintergrund/Debatte
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