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Dienstag, 14.02.2012 | Drucken |
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62. BERLINALE mit Motto „Umbrüche“
Waren in 2011 Filme aus Afrika und Arabien auf der Berlinale noch Exoten, sind sie diesmal viel stärker vertreten. Möglich machte es der „Arabische Frühling“
Ein Film schaffte es sogar in die Berlinale –Sparte „ Wettbewerb.“ Als einziger Film aus diesem Kontinent in die Königsklasse der Berlinale. Um ehrlich zu sein: Ein halber afrikanischer Film. Denn „Aujourd`´hui“ ist eine Co-Produktion aus dem Senegal und Frankreich. Die Filmlänge beträgt 86 Minuten. Regisseur ist der 1972 in Paris geborene Alain Gomis, dessen Vorfahren aus Afrika stammen. Gomis setzt uns nicht nur ein Drama der besonderen Art vor. Er bricht auch ein Tabu. Es geht in dieser Fiktion um ein Menschenopfer. Der junge und schlaue Satche (dargestellt von dem 1972 in New York geborenen Autor, Sänger und Schauspieler Saul Williams) hat nur noch einen Tag zu leben. Wir erleben sein Restleben mit. Satche lebte 15 Jahre in den USA, studierte dort und kommt in den Senegal zurück. Der Film beginnt mit einer Szene, wo Satche mit seiner Verwandten und Freunden fröhlich zusammen sitzt. Die Mutter ist so stolz auf ihren Sohn, dass er auserkoren wurde, ihn den Göttern zu opfern.
Dann konfrontiert uns der Regisseur mit der nächsten Szene. Einer Ziege wird die Kehle durchgeschnitten. Bald soll auch Satche die Kehle durchgeschnitten werden. Wir dürfen ihn aber noch auf seinem letzten Tag „heute“ (daher der französische Name „Aujourd`´hui“) begleiten. Gomis teilt uns nicht mit, warum Satche eigentlich geopfert werden soll und welchem Zweck die Opferung dient. Wir erleben Satche, wie er die letzten Stunden seines Lebens durch den Senegal sich aufmacht. Ein Land, wie so viele in Afrika, wo Familienclans sich Macht und Vermögen untereinander aufteilen. Wo Despoten gerne von „Freiheit“ reden, wenn es darum ging, die Kolonialherren aus dem Lande zu werfen. Bei dem Ruf nach Demokratie mit ihren Eckpfeilern Pressefreiheit, Parteienvielfalt und Versammlungsfreiheit im eigenen Land durch die Einheimischen „opfern“ die Machthaber ihr Volk. Interessiert es einen „da oben“ wirklich, wie viele Kinder täglich in „seinem“ Land verhungern, obwohl das Land reich an Bodenschätzen ist? Nur bei „denen da unten“ kommt nichts an. Machte sich jemals ein Machthaber in Kairo, Tripolis, Tunis (alle Länder im Kontinent Afrika gelegen) Gedanken, ob die Zahl der erschossenen Demonstranten heute höher war als die Zahl der Schwerverletzten?
. Bei Satche weiß man, er hat noch den heutigen Tag, darf sich hinlegen und wird am nächsten Morgen geopfert
Satche steht für die Gegensätze in Afrika. Wir sehen ihn durch ein Armen-Viertel wandern, wo ein Kleinsthändler drei Kokosnüsse vor sich liegen hat und diese verkaufen will. Dann nähert sich Satche dem Basar, wo das Warenangebot schon üppiger ausfällt. Natürlich bummelt er auch durch ein supermodernes Einkaufszentrum, wo der Sicherheitsdienst nur Leute hereinlässt, die zumindest so aussehen, als ob sie bei Kasse sind. Afrika, der Kontinent der Gegensätze durch und durch. Da zeigt uns der Filmemacher auch Arbeiter, die schwer beladen auf ihren Schultern Säcke und Steine schleppen. Hochmoderne Büros mit den allerneusten Computern sind aber auch zu erblicken. Bei seinem Bummel gerät Satche auch noch in einen Polizeikonvoi, der Demonstranten niederknüppelt.
Unberührt setzt der tragische Held seinen Spaziergang an seinem letzten Tag im Leben fort. Hatten sich die Demonstranten soeben nicht gegen die Globalisierung erhoben? Wie steht es um unseren Intellektuellen? In den USA studiert, dort nicht heimisch geworden, ein gestrandeter Rückkehrer in den Senegal. Ein Opfer der Globalisierung? Aber nicht auch ein Symbol für Feigheit? Wenn schon die gut ausgebildeten Menschen, die Intellektuellen des Landes, die in anderen Ländern Demokratie erfahren haben, sich nicht erheben gegen Vetternwirtschaft, Korruption, Unterdrückung im eigenen Land, wer soll es dann tun? Der „kleine Mann“ etwa? Satche ist als „Opfer“ auserwählt worden, er fügt sich in sein Schicksal. Nur einmal, ein winziges Mal, scheint er aufzubegehren. Sein Onkel ist als Leichenwäscher tätig. Er zeigt Satche schon mal heute, wie er bald gewaschen werden wird. Da wagt es doch der „kleine Junge“ den „großen Onkel“ zu fragen: „Warum ausgerechnet ich?“ Der Onkel hat nur eine Antwort parat: „Das ist eine abwegige Frage. So eine Frage stellt man gar nicht.“ Also fügt er sich in sein Schicksal. Auch niemand im Lande, egal ob Verwandter, Nachbar oder Freund, kämpft gegen die bald stattfindende Opferung an. Vielleicht auch deshalb nicht, will es ja einen schmackhaften Totenschmaus geben wird? Machen etliche „Untertanen“ eines Despoten nicht schon deshalb im Unrechtssystem mit, weil Kuchenkrümel von der Torte, die „ganz oben“ gespeist wird, für sie „unten“ abfallen? Eines sagt der Film auch aus, etwas sehr profanes, dass oft vergessen wird: Normalerweise kündigt sich der eigene Tod nicht an. Bei Satche weiß man, er hat noch den heutigen Tag, darf sich hinlegen und wird am nächsten Morgen geopfert. Gomis stellt klar, zufällig wissen wir, wann Satche von uns geht. Wann „die anderen“ gehen, bleibt weiterhin unklar. Da werden am Morgen von mehreren Freunden Verabredungen für den heutigen Abend getroffen, doch kommt wirklich jeder zum Termin? Nicht, weil er/sie es sich anders beispielsweise überlegt hat, sondern weil der Tod einen Teilnehmer des geplanten Zusammentreffens abgeholt hat-egal wie alt bzw. jung man ist.
Alain Gomis wirft viele Fragen auf. Er ist ein verlangender Künstler. Der Zuschauer soll sich seinen eigenen Reim machen. In der Pressekonferenz sagte Gomis: „Das ist kein James-Bond-Film, wo am Ende der Schurke gestellt wird. Obwohl, das muss ich gestehen, ich Bond-Filme sehr mag. Nicht alle Filme sind halt James-Bond-Filme. Meiner zählt dazu.“ Er ist auch ein ehrlicher Künstler! Gab er doch unumwunden zu: „Wir hatten nur einen ganz, ganz kleinen Etat für die Erstellung des Films. Ich hatte bei Saul Williams angefragt in den USA, ob er als namhafter Schauspieler, der kein Wolof spricht, bereit ist, im Senegal einen Film zu drehen in Wolof. Zur Pariser Bank bin ich gegangen und habe erzählt, Saul Williams hat zugesagt. Dann wurde der Kreditrahmen etwas erhöht.“ Hauptdarsteller Saul Williams stand in Sachen Ehrlichkeit dem Regisseur in Nichts nach. Er wies daraufhin, ein Schauspieler kann sich normalerweise immer auf eine Rolle vorbereiten. „Sollst Du einen Fabrikarbeiter spielen, gehst Du halt ein paar Wochen dort arbeiten. Da haben Kollegen wochenlang im Rollstuhl gesessen, auch nur in der Behinderten-Badewanne gebadet, um ein Gefühl sich zu erarbeiten, wie ein körperbehinderter Mensch leben muss. Als Darsteller eines Blinden kannst du dir die Augen verbinden und tagelang so herumlaufen. Wie willst Du dich aber auf die Rolle vorbereiten, du stirbst am nächsten Tag?“ Unumwunden gab der Darsteller zu, er habe anfangs nicht gedacht, dass es einem Schauspieler so viel abverlangen wird, so „zu tun, morgen ist man tot.“
Nebenbei sei angemerkt: Die Zulassung zur Berlinale hat Alain Gomis alle finanziellen Schwierigkeiten beseitigt. „Als die Bank von der Zulassung zur Berlinale erfuhr, beglückwünschte man unser Filmteam nicht nur. Man räumte uns einen Kreditrahmen ein, der sich im 6-stelligen Bereich bewegte.“ (Volker-Taher Neef; Berlin).
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