Newsnational Donnerstag, 27.10.2011 |  Drucken

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Almanya, das neue Deutschland - Von Heribert Prantl

Wie 50 Jahre türkische Gastarbeiter am Wirtschaftswunder Deutschlands beteilgt waren und wie viel zu wenig heute über den Reichtum, die Schätze und die Erfahrung, die diese Menschen mitgebracht haben, gesprochen wird - Weitere Beiträge u.a. von Andrea Dernbach

Zwei Seiten Papier reichten aus, um das deutsch-türkische Anwerbeabkommen zu schließen, das Deutschland für immer verändert hat. Türkische Einwanderer und ihre Kinder haben seit jenem 30. Oktober 1961 die Bundesrepublik geprägt - und das Wirtschaftswunder mitgestaltet. Bis heute wird viel zu wenig über den Reichtum, die Schätze und die Erfahrung gesprochen, die Deutschland dabei gewinnt.

Als staatsrechtlich bedeutsamen Akt verstand es niemand, dass da zwei Seiten Papier hin- und hergeschickt wurden. Im Text dieser zwei Seiten ging es ja nur um eine Art Liefervertrag: Das Auswärtige Amt in Bonn gab in einem kurzen Schreiben an die türkische Botschaft eine Bestellung auf - und die Botschaft beehrte sich mitzuteilen, dass sie gerne liefern werde. Es handelte sich nicht um die Lieferung von Haselnüssen für bundesdeutsche Kantinen, sondern um die Lieferung von billigen Arbeitern für die bundesdeutsche Wirtschaft, genannt "Vermittlung von türkischen Arbeitnehmern nach der Bundesrepublik Deutschland".

Dieser Tag hat Deutschland verändert; Es war ein historischer Tag ohne tagesaktuelle Bedeutung. Im Auswärtigen Amt hatte man andere Sorgen. Es war der letzte Tag des Außenministers Heinrich von Brentano, der zwei Tage vorher beim 85-jährigen Kanzler Konrad Adenauer seinen Rücktritt eingereicht hatte. Adenauer hatte soeben in der Bundestagswahl gegen Willy Brandt die absolute Mehrheit verloren und musste Koalitionsverhandlungen mit der FDP führen.

"Der Islam gehört zu Deutschland", sagt der Bundespräsident, aber viele Leute wollen das immer noch nicht glauben

Deutschland hat sich verändert, mindestens so sehr wie das Ruhrgebiet im 19. Jahrhundert, als dort die polnischen Einwanderer kamen und blieben. Deutschland ist, ob man das Wort mag oder nicht, multikulturell geworden, multireligiös - und multiverstört. Es gab furchtbare Ausschreitungen; 1993 setzten Rechtsextreme in Solingen das Haus einer türkischen Familie in Brand; fünf Menschen starben.

Bis heute redet man sehr viel über die Probleme von Einwanderung und Integration, aber zu wenig über den Reichtum, die Schätze und die Erfahrung, die Deutschland dabei gewinnt. "Der Islam gehört zu Deutschland", sagt der Bundespräsident, aber viele Leute wollen das immer noch nicht glauben, so wie die Politik jahrzehntelang nicht glauben wollte, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden war. Deshalb gab es auch keine Einwanderungspolitik.

Mehr als zweieinhalb Millionen Türken bewarben sich zwischen 1961 und 1973 auf der Basis des Anwerbeabkommens um eine Arbeitserlaubnis; jeder vierte erhielt sie. Sie sollten hier zwei, drei, vier Jahre arbeiten, sparen, und wieder nach Hause gehen; so sahen es die Deutschen, so sahen es die Türken. Aber es kam alles anders. Die Türken arbeiteten, sie sparten, sie kauften sich ein Auto, sie arbeiteten weiter, sie sparten noch mehr, nicht wenige kauften sich sogar ein Häuschen - in Deutschland. "Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen." Diese sieben Wörter des Schriftstellers Max Frisch beschreiben alle Probleme der vergangenen fünfzig Jahre, auch die schrecklichen Versäumnisse der Politik, die erst 2005 ein einigermaßen vernünftiges Gesetz zustande brachte.

Diese zweite Einheit ist nicht nur eine Sache von Gesetzen und sehr viel mehr als die Addition aller Dönerbuden in den Fußgängerzonen

Als die Bundesregierung, mitten in der ersten Wirtschaftskrise, die Anwerbung stoppte, kamen trotzdem weiter Türken, nun als Flüchtlinge. In der Türkei putschte 1980 das Militär, und vor allem Kurden und Flüchtlinge aus der intellektuellen Oberschicht baten um Asyl.

Aber mit dem Begriff "Einwanderung" begann sich Deutschland erst anzufreunden, als es schon ein Auswanderungsland war; seit 2006 kehrt sich die Migrationsbilanz um, es ziehen mehr Menschen aus Deutschland in die Türkei als umgekehrt. Aus dem Entwicklungsland Türkei ist ein Industriestaat geworden und aus der Bundesrepublik ein wiedervereinigtes Land, das noch eine zweite deutsche Einheit schaffen muss: die Vereinigung von Bürgern deutscher und ausländischer Herkunft ohne Abwertung der Neubürger, die sich in Ausdrücken wie "Papierdeutscher" zeigt.

Diese zweite Einheit ist nicht nur eine Sache von Gesetzen und sehr viel mehr als die Addition aller Dönerbuden in den Fußgängerzonen. Integration ist ein demokratisches Miteinander: Gemeinsame Zukunft miteinander gestalten. (Quelle: Süddeutsche Zeitung, Erstveröffentlichung vom 22.10.11 mit freundlicher Genehmigung des Autors)



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ZDF-Interview: Über 20 Jahre nach der Wiedervereinigung ist der Osten für viele Muslime ein weißer Fleck auf der Landkarte. Gleichzeitig gibt es gerade dort Islamfeindlichkeit. Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrates der Muslime, über dieses Thema
Am 31. Oktober 2011 jährt sich das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei zum 50. Mal. Zu diesem Anlass hat das SPD-Präsidium am 24. Oktober 2011 einen Beschluss gefasst.
Kein Denkmal wird feierlich enthüllt, kein Einwanderungsmuseum eröffnet. Die Party zu 50 Jahren Anwerbeabkommen ist abgesagt. Andrea Dernbach wünscht sich dennoch etwas - für die Zukunft. Ein Kontrapunkt.

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