Artikel Donnerstag, 15.07.2010 |  Drucken

Antwort auf eine Polemik der Hessischen FDP zur Islamischen Charta. Von Ayyub Köhler

Vor einigen Wochen hat sich die Hessische FDP auf dem Wege eines Parteitagsbeschlusses mit einer Polemik gegenüber der Islamischen Charta zu Wort gemeldet. Anlässlich der dort verbreiteten Falschinformationen drucken wir einen Text, den der Vorsitzende des ZMD Ayyub Axel Köhler bereits 2007 entwarf, heute ab:

Am 20. Februar 2002 hat der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) mit der Veröffentlichung der Islamischen Charta einen Markstein in seinem Verhältnis zur Gesellschaft, Politik und Staat gesetzt. Grundsätze der Beziehung zwischen der muslimischen Bevölkerung in Deutschland auf der einen Seite und dem Staat und der Mehrheitsgesellschaft auf der anderen Seite sollten aus der Sicht des ZMD erläutert und definitiv festgelegt werden. Die islamische Charta der Muslime des Zentralrats ist damit Angebot und Verpflichtung der Mehrheitsgesellschaft und dem Staat gegenüber.

Die Islamische Charta ist Angebot an die deutsche Gesellschaft, die aus verschiedenen Gruppen (z.B. Kirchen, Gewerkschaften, Weltanschauungsgemeinschaften u.s.w.) besteht (pluralistische Gesellschaft). Die Muslime möchten auch als solche respektiert und behandelt werden.

Die Muslime in Deutschland – auf jeden Fall aber die, die sich um den Zentralrat gescharrt haben, wollen nun als Teil der deutschen Wertegemeinschaft auch aktiv, d. h. konstruktiv am gesellschaftlichen Leben und im Staat teilnehmen und Teil haben. Mit seiner Charta ist der ZMD der Gesellschaft und dem Staat gegenüber Verpflichtungen eingegangen. Denn nach alledem, was man über den Islam liest und hört, scheinen Unvereinbarkeiten und Gegensätze das Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen und in einem säkularen, freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat sehr problematisch, wenn nicht gar unmöglich zu sein. Indem sich der ZMD verpflichtet, möchte er auch Misstrauen abbauen und eine Vertrauensbasis schaffen. Staat und Gesellschaft sollen wissen – und die Gesellschaft hat ein Recht darauf, zu wissen – woran sie bei uns sind (Außenwirkung der Charta). Darüber hinaus beabsichtigt der ZMD auch Anstöße für einen Selbstfindungsprozess der islamischen Gemeinden und der einzelnen Muslime zu geben (Innenwirkung der Charta). Bei der Beurteilung der Charta sollten diese beiden Aspekte immer beachtet werden!

Und auch das ist zu bemerken: die Charta ist keine Reaktion auf den 11. September. Sie fasst allerdings auch das zusammen, was wir schon immer als Aussagen zu den verschiedensten Anlässen gemacht haben. Die Charta ist einstimmig von den Mitgliedern des ZMD so beschlossen worden und stützt sich auf eine breite Basis.

Die Charta ist auf die Zukunft gerichtet. Sie ist ein Papier der Integration. Die Charta ist eine Diskussionsgrundlage. Die Charta ist kein theologisches Papier.

Der erste Teil der Charta enthält die Definition der Glaubensgrundsätze auf die sich der ZMD mit seinen Mitgliedern beruft. Mit der Charta soll auch deutlich werden, dass der Islam keine Religion im engeren Sinne ist, sondern auch eine Lebensweise.
Im zweiten Teil wird das Verhältnis des ZMD zum Staat beschrieben und, wie in der ganzen Charta in aller Kürze auch zu Themen, wie den Menschenrechten, islamischer Rechtspositionen, der Aufklärung, der Kultur, der eigenen Identität in Europa und stellt Beispiele für die konstruktive Mitwirkung in Staat und Gesellschaft vor.

Der dritte Teil enthält – wieder in der gebotenen Kürze - eine Selbstdarstellung des ZMD und sein verpflichtendes Verhältnis zur deutschen Gesellschaft und zum deutschen Staat und einen Forderungs- und Aufgabenkatalog sowie eine Erklärung zur parteipolitischen Neutralität.

Der neuesten Stand der Entwicklung: die Charta ist Teil der Satzung des ZMD geworden. Die Resonanz in der islamischen bzw. arabischen Welt lässt keine Kritik an den Grundlinien der Charta erkennen und reicht bis zur Zustimmung. In Deutschland hat das Interesse an der Charta bis heute nicht nachgelassen. Während die erst Auflage noch 5000 Exemplare betrug liegt sie in der zweiten Auflage schon bei 10 000. Die Charta liegt derzeit in einer türkischen, arabischen, englischen, französischen und spanischen Fassung vor.

Der Schritt des ZMD, mit einer Charta auf Staat und Gesellschaft zuzugehen, war nicht nur mit Zustimmung sondern auch Kritik und leider auch mit vielen Verdächtigungen und Unterstellungen begleitet. Die Kritik aus den Reihen einzelner Muslime artikulierte sich gegen das vom ZMD - und sicher von der überwiegenden Mehrheit der Muslimen Deutschland angestrebte harmonische Verhältnis zur deutschen Gesellschaft und der Anerkennung des (“nichtislamischen“) deutschen Staates.

Die Kritik aus nichtislamischer Seite zeigte, dass die Muslime wohl noch viel Aufklärungsarbeit in Bezug auf Abbau von Missverständnissen in Bezug auf den Islam zu leisten haben.

Allerdings gab es auch Kritiker, die hinter jeder unserer Formulierungen das Gegenteil unterstellten und dem ZMD Doppelzüngigkeit und der pragmatischen Ausnutzung des freiheitlich-demokratischen Systems bezichtigten. Sie sehen in den Muslimen Fundamentalisten, die auf Warteposition stehen und auf die trotz Beteuerung auf die Errichtung eines islamischen Gottesstaates in Deutschland hoffen oder sogar schon darauf hinarbeiten. Diese Kritiker sind von so tiefgründigem Misstrauen erfüllt, dass es unmöglich erscheint, sie im Dialog von der Aufrichtigkeit unserer Aussagen überzeugen zu können.

Wir müssen allerdings bei beiden Kritikern (Muslimen und Nichtmuslimen) auch Missverständnisse und Irritationen ausräumen die entstehen konnten, weil es ihnen nicht bewusst war, dass sich, das sei hier noch einmal betont, die Charta an zwei Adressen richtet: an Muslime der islamischen Basis und an Nichtmuslime der Mehrheitsgesellschaft.

Es war nämlich wichtig und notwendig, in der Charta unsere theologischen Grundüberzeugungen darzulegen. Unsere Lehre ist ja immer unser Ausgangspunkt und unser Maßstab. Worte wie: „Der Koran untersagt jede Gewaltausübung in Sachen des Glaubens“ (§11), „Das islamische Recht verpflichtet Muslime...“ (§10) und „Muslime dürfen sich in jedem beliebigen Land aufhalten..“ (§10) sind als solche islamische Grundüberzeugungen zu verstehen.

Im zweiten Schritt haben wir die Projektion dieser Lehre auf die Situation der Muslime als Minderheit vorgenommen. Hier versuchen wir die Muslime da zu holen, wo sie sind, nämlich in ihrer islamischen Überzeugung, und versuchen sie, mit islamischen Begriffen, die in ihrer islamischen Bildung tief verwurzelt sind und die manchmal bei Nichtmuslimen eine andere Akzentuierung haben, zu überzeugen.

Doch zunächst ein Wort zu den immer wieder von Muslimen gebrauchten Begriffen wie „Kernbestand der Menschrechte“(§13) und „Gleiches gleich behandeln und Ungleiches ungleich zu regeln“(§13):

Mit "Kernbestand" der Menschenrechte sind die gegen Staatswillkür gerichteten klassischen Menschenrechte der abendländischen Rechtstradition ("freedom from") gemeint, nicht jedoch sog. modische Rechte im Bereich des "freedom to" wie ein behauptetes "Recht auf Angst" oder ein ebenso behauptetes "Recht auf Rausch" (d.h. Freigabe von Rauschgiften). Der Kernbestand ist denn auch das, was 1949 auf der UN-Vollversammlung in Bezug auf die Menschenrechte beschlossen wurde und wozu wir selbstverständlich stehen und wofür uns nach all unseren Kräften bemühen.
Mit der Aussage, dass grundsätzlich Gleiches gleich und Ungleiches ungleich geregelt werden sollte, stellen wir uns in die deutsche Rechtstheorie und Rechtskultur. Nur so ist der arbeitsrechtliche Kinderschutz möglich oder die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit, ob durch Mann oder Frau. Das deutsche Recht nimmt vielfach auf die besonderen Belange von Frauen und Mädchen Rücksicht. Ein gutes Beispiel: Frauen sind von der Wehrpflicht befreit. Ist dies etwa grundgesetzwidrig ?
Im Hinblick auf unsere Innenwirkung und Überzeugungsarbeit bei unseren Glaubensschwestern und Glaubensbrüdern verwenden wir den ihnen bekannten Begriff der „lokalen Rechtsordnung“ (§10). Sie bedeutet nach islamischer Lesart jede zivile Umsetzung des Rechts. Auch in einem islamischen Staat wurde die zivile Umsetzung der Scharia „lokale Rechtsordnung“ genannt.

Der Begriff „Vertrag“ (§10) hat im koranischen Gebrauch die Bedeutung des höchsten Bündnisses in den zwischenmenschlichen, aber auch in gesellschaftlichen Beziehungen. Zur Einhaltung dieser Verträge und Bündnisse wird im Koran ermahnt: „Und erfüllt die eingegangene Verpflichtung und nach der Erfüllung der Verpflichtung wird (am Jüngsten Tag) gefragt werden.“ „Und diejenigen, die ihre Verpflichtung einhalten, wenn sie eine eingegangen sind, …sind diejenigen, die wahrhaftig sind, und das sind die Gottesfürchtigen.“ Keinesfalls bedeutet „Vertrag“ für die Muslime eine bloße Vereinbarung, die man nach Belieben kündigen kann.
Was unsere Formulierungen und Aussagen über unser Verhältnis zum Grundgesetz in den Paragraphen 10-12 anbetrifft, muss auch an dieser Stelle wieder betont werden, dass sich die Formulierungen einerseits wieder an die Muslime und andererseits an die deutsche Mehrheitsgesellschaft wendet. Der Paragraph 10 ist ein Beispiel dafür:
10. Das Islamische Recht verpflichtet Muslime in der Diaspora
Muslime dürfen sich in jedem beliebigen Land aufhalten, solange sie ihren religiösen Hauptpflichten nachkommen können. Das islamische Recht verpflichtet Muslime in der Diaspora, sich grundsätzlich an die lokale Rechtsordnung zu halten. In diesem Sinne (und an die islamischen Migranten gerichtet) gelten Visumserteilung, Aufenthaltsgenehmigung und Einbürgerung als Verträge, die von der muslimischen Minderheit einzuhalten sind.

Das Wort „grundsätzlich“ ist von einigen Lesern gerne dazu genutzt worden, um Misstrauen den Muslimen gegenüber zu säen. Denkt man aber diesen Begriff in der Rechtssprache, so bedeutet „grundsätzlich" "soweit keine Ausnahmen bestehen". Der Passus, sich grundsätzlich an die lokale Rechtsordnung zu halten, bedeutet somit einerseits, dass das islamische Recht dort eintreten könnte, wo das deutsche entweder keine Regelung trifft oder abweichende Regelungen zulässt.

Dafür Beispiele:

* Das islamische Recht kann Angelegenheiten regeln, die vom deutschen Recht überhaupt nicht erfasst werden, wie z.B. die Regelung von Diätvorschriften, Etikette, Hygiene u. ä.

* Das deutsche Erbrecht bietet z.B. testamentarische Gestaltungsmöglichkeiten. So kann ein Muslim, wenn er will, dem islamischen Erbrecht bessere Geltung verschaffen, indem er bei seiner testamentarischen Erbfolge- oder Erbteilungsregelung sich daran orientiert. Diese Testierfreiheit gewährt ihm das deutsche Recht.

„Grundsätzlich“ bedeutet andererseits auch, dass im Falle fehlender Religionsfreiheit oder des Zwanges zu einer religiösen Handlung, die im Widerspruch zur eigenen islamischen Überzeugung steht, keine Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber dem Staat besteht. In diesem Fall wäre der Muslim verpflichtet, in ein anderes Land auszuwandern, wo er wieder in religiöser Freiheit seinen Glauben ausüben kann.
Da in Deutschland die Religionsfreiheit verfassungsmäßig verbürgt ist und somit es aus theologischen Gründen dann nichts gegen eine Einordnung der Muslime in eine „nichtislamische“ Rechtsordnung spricht, folgt für uns die verbindliche Konsequenz:
11. Muslime bejahen die vom Grundgesetz garantierte gewaltenteilige, rechtsstaatliche und demokratische Grundordnung
Ob deutsche Staatsbürger oder nicht, bejahen die im Zentralrat vertretenen Muslime daher die vom Grundgesetz garantierte gewaltenteilige, rechtsstaatliche und demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland, einschließlich des Parteienpluralismus, des aktiven und passiven Wahlrechts der Frau sowie der Religionsfreiheit. Daher akzeptieren sie auch das Recht, die Religion zu wechseln, eine andere oder gar keine Religion zu haben. Der Koran untersagt jede Gewaltausübung und jeden Zwang in Angelegenheiten des Glaubens.

Es geht hier also nicht nur um ein allgemeines Bekenntnis zum Grundgesetz sondern auch dezidiert zur Gewaltenteilung und auch Rechtsstaatlichkeit und Parteienpluralismus. An die Adresse mancher Muslime gerichtet betonen wir auch unsere begründete Ansicht, dass auch Frauen das aktive und passive Wahlrecht haben sollen.
Besonders haben wir uns im Zusammenhang mit der grundgesetzlich verbürgten Religionsfreiheit auf unsere, nicht von allen Muslimen in der islamischen Welt geteilten, islamisch begründeten Ansicht festgelegt, das Recht zu haben, „ ..die Religion zu wechseln, eine andere oder gar keine Religion zu haben.“

Mit unserer Verpflichtung dem deutschen Grundgesetz gegenüber haben wir uns mittelbar auch dem Schutz dieser Verfassung verpflichtet. Schließlich haben wir in der Welt – insbesondere in der islamischen Welt – mit Unfreiheit so unsere Erfahrungen gemacht. Viele sind wegen der Freiheit hier gekommen. Die verteidigen sie hier nun auch. Und
12. Wir zielen nicht auf Herstellung eines klerikalen "Gottesstaates" ab
„Wir zielen nicht auf Herstellung eines klerikalen "Gottesstaates" ab. Vielmehr begrüßen wir das System der Bundesrepublik Deutschland, in dem Staat und Religion harmonisch aufeinander bezogen sind, Wobei durch die Nennung der Eigenschaft „klerikal“ andere Formen eines „Gottesstaates“ nicht als weitere offene Optionen für uns in Deutschland verstanden werden dürfen. Wir zielen nicht auf Errichtung eines Gottesstaates ab, welche Form er auch immer haben mag.“

Unausgesprochen ist bisher das Thema säkularer Rechtsstaat angesprochen. Hier nur so viel: Es ist zu unterscheiden zwischen einer laizistischen Bewegung, mit der der Zusammenhang zwischen Religionen und Welt geleugnet bzw. aus Politik, Gesellschaft Forschung und Lehre verbannt werden soll und einem säkularem Rechtsstaat, in dem Staat und Religion harmonisch aufeinander bezogen sind. Wir können also auch aus theologischen Gründen der bundesdeutschen Verfassung unterstützen.

Die Frage nach und die Forschung über die Art und Eigenschaft eines islamischen Staates wird wohl niemand den Muslimen verbieten wollen. Es wird wohl auch nie ausgeschlossen werden können, dass irgendwo in der Welt Muslime den Versuch unternehmen, einen Staat auf der Grundlage zu verwirklichen. Der ZMD hat sich aber in seiner Charta dafür entschieden, hier in Deutschland keinen „islamischen Staat“ zu errichten. Auf diese Aussage zu vertrauen, können wir nur bitten – an unseren Taten sollen wir gemessen werden.
Dennoch taucht da immer wieder der spitzfindige Verdacht auf, dass die Muslime, wenn sie in Deutschland die Mehrheit der Bevölkerung bilden würden, sie dann doch mit demokratischer Mehrheitsentscheidung einen (klerikalen) islamischen Gottesstaat errichten würden. Ganz davon abgesehen, dass diese Argumentation in die Sphäre der Fiktion gehört, sei hier angeraten, sich mit unserer Verfassung näher zu beschäftigen und genauer zu lesen: die deutsche Verfassung duldet keine Veränderung der Staatsstrukturprinzipien (verfassungsmäßiger Selbstschutz) und wenn alle anderen Mittel zur Abwehr einer solchen Gefahr nicht mehr ausreichen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand (Art. 20 GG).

Lassen Sie mich deswegen schließen mit meinem Bekenntnis zu unserer freiheitlichen Grundordnung, die es, besonders aus der Erfahrung der Muslime heraus, ständig zu verteidigen gilt. Freiheit ist eine wesentliche Voraussetzung für Entwicklung. Das Fehlen der Freiheit in der so genannten islamischen Welt ist eine der wichtigsten Gründe für den Niedergang des islamischen Geisteslebens. Hier in Deutschland – und da gehe ich auf Punkt 15 der Charta ein - hätten wir die Möglichkeit, „ein zeitgenössisches Verständnis der islamischen Quellen, welches dem Hintergrund der neuzeitlichen Lebensproblematik und der Herausbildung einer eigenen muslimischen Identität in Europa Rechnung trägt“ (§15), herauszubilden. Das wäre dann auch der nachhaltigste Beitrag der Muslime in Deutschland und Deutschland selbst für den Dialog unter den Religionen und den Frieden in der Welt.





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