Newsnational Montag, 08.03.2004 |  Drucken

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11. September schlägt jetzt erst richtig durch

Polizeikontrollen vor Moschee in Niedersachsen - Anschläge auf Moscheen in Frankreich - Kopftuchverbot als Folie für einen Kulturkampf?

Angesichts der zunehmenden Diskriminierung von Muslimen und der immer deutlicher werdenden Anzeichen einer Islamfeindlichkeit in unserem Land ist der Soziologe Heitmeyer erst kürzlich zu folgendem Ergebnis gekommen:
Erstens ist eine niedrigere Hemmschwelle unter den Eliten diesem Phänomen gegenüber zu erkennen. Sie nutzen vorhandene Stimmungen gegen Schwächere populistisch aus oder versuchen sie zu verstärken; zweitens gibt es dafür eine Zustimmungsmentalität in der Bevölkerung, die populistisch aktivierbar ist; drittens ist die Existenz eines klar erkennbaren Aggressionsobjekts in Gestalt schwacher, deutlich kenntlicher Gruppen (sozialer Minderheiten) innerhalb der Gesellschaft erkennbar.

Soweit die Theorie über die sinkende Hemmschwelle innerhalb der politischen Eliten gegenüber dem Islam in unserem Land. Aber auch Zahlen legte Heitmeyer vor: Die generelle Ablehnungshandlung zeigt sich auch dadurch, dass etwa 65 Prozent Muslimen generell misstrauen. Fast 50 Prozent wollen deswegen gar nicht in eine Gegend ziehen, in der sehr viele Muslime leben.

Nun zur Praxis dieser gefährlichen Gemengelage, die z.Z. in ganz Europa mit unterschiedlichen Ausprägungen grassiert. Die unsäglichen Debatten um ein Kopftuchverbot hat diese Stimmung noch angeheizt, worüber sich viele Kommentatoren einig sind: Die Debatte um den 11. September schlägt jetzt erst richtig durch. Sie wird übrigens bewusst von einigen immer wieder neu entfacht und aufgewühlt und als Zündung eines durchaus gewollten Kulturkampfes gesehen.
Die Muslime fühlen sich dabei zunehmend an die Wand gedrückt und können sich wegen der ungleichen Wettbewerbssituation - mangelnde Medienpräsenz und fehlende Stimmen im Parlament - kaum wehren .

Jüngst hat die Präsidentin des Goethe-Instituts, Jutta Limbach, den Streit um das Kopftuch kritisiert. Das Stück Stoff werde zu einem Fetisch, sagte die frühere Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel in einem Vortrag über Toleranz im 21. Jahrhundert. Limbach lehnte wie Bundespräsident Johannes Rau in seiner Wolfenbütteler Rede am 22. Januar 2004 ein Kopftuchverbot ab. Die Schüler seien schlau und frei genug, um sich davon nicht beeinflussen zu lassen. Der moderne Verfassungsstaat muss nach den Worten Limbachs die kulturelle und religiöse Verschiedenheit zulassen, pflegen und verteidigen. Doch es gibt Politiker in diesem Land, die dem Volk diesen freien Geist nicht zutrauen bzw. ihm einreden wollen, dass sie zu dumm sind sich frei zu entscheiden. Und so heizen manche die ohnehin negative Stimmung gegen die Muslime unnötig an, z.T. mit rechtsstaatlich höchst fragwürdigen Methoden wie das Beispiel Niedersachsen letzte Woche gezeigt hat.

Denn ein paar Kilometer entfernt von der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel in der Peiner Moschee wunderten sich die Muslime am gleichen Tag (von Limbachs Rede) auch nicht wenig darüber, dass sie nach dem Freitagsgebet beim Verlassen des Gebetshauses von einer Mannschaft der Salzgitterer Polizei in Empfang genommen wurden. Namen und Adressen wurden erfasst. Herausgekommen ist dabei nichts. Oder besser gesagt, nichts Erfassbares. Unfassbar bleibt aber die Tatsache, dass so die Behinderung oder zumindest Einschränkung der freien Religionsausübung staatlich sanktioniert wird und dem Eindruck der Stigmatisierung der Muslime als Bedrohung in der Öffentlichkeit Vorschub geleistet wird. "Es liegt immer der Verdacht nahe, dass Extremisten in Moscheen gehen, gerade in solche die sonst ganz brav sind", soll einer der Beamten, nach Angaben des IGMG-Verbandes, deren Moschee u.a. von den Durchsuchungen betroffen waren, gesagt haben. Laut diesem Verband soll es in über 16 Moscheen in ganz Niedersachsen zu solchen Kontrollen gekommen sein.

Sehr zum Trotz anderslautender Sonntagsreden und Dialogveranstaltungen werden diese Maßnahmen von Muslimen als Einschüchterungsversuche und Behinderung ihrer individuellen Religionsausübung gewertet. Leider ist dies kein Einzelfall. Nach Angaben des zuständigen Beamten gebe es sogar eine Anordnung des Niedersächsischen Innenministeriums, in der Umgebung von Moscheen verstärkt Ausweiskontrollen durchzuführen. Dabei ist es nicht lange her (halbes Jahr) , dass unweit von Peine in Lünen eine Moschee mit Hakenkreuzen beschmiert und in Wolfenbüttel (vor einem Jahr) sogar eine Moschee Opfer eines Brandanschlages wurde.

Angesichts dieser Entwicklung kann man, ja man muss den verantwortlichen Politikern grob fahrlässiges Verhalten und verantwortungsloses Handeln unterstellen. Wie weit das führen kann, zeigt das Beispiel Frankreich. Dort wurde und wird übrigens die Kopftuchverbotsdebatte weitaus vehementer und diffuser geführt, bis es dann in ein Gesetz gegossen wurde.
Zwei Anschläge auf Moscheen haben in Frankreich am Wochenende für Bestürzung gesorgt. Am Freitagabend wurde eine Moschee in Annecy sowie ein Gebetsraum in einem Vorort der Stadt am Rande der Alpen bei Brandstiftungen stark beschädigt. Mehrere hundert Menschen versammelten sich dann am Samstag vor der Moschee. "Das ist kein Vandalismus, das ist ein geplanter und organisierter Anschlag", sagte Kamel Kabtane, regionaler Vorsitzender des Französischen Rates für den Muslimischen Glauben.

Der französische Präsident Jacques Chirac verurteilte die Brandstiftungen als "abscheuliche Taten" und erklärte sein Mitgefühl und seine Solidarität mit allen Muslimen in Frankreich. Auf die Mauer des Gebetshauses war ein Kreuz mit einem Kreis herum gesprüht - das Symbol einer als aufgelöst geltenden rechtsextremen Gruppierung.
In den vergangenen Monaten hat die islamische Gemeinschaft in Frankreich eine zunehmende Islamfeindlichkeit beklagt, die Regierung ergriff bislang jedoch keine Maßnahmen zum besseren Schutz islamischer Einrichtungen.

Der beste Schutz bleibt aber immer noch: Gespräche statt Verbote, Aufklärung statt Vorurteile, aufeinander zugehen anstatt den Staatsschutz zu rufen. Noch ist es nicht zu spät dafür. Noch haben wir eine Chance sagen zu können: "Wehret den Anfängen!" (Aiman A. Mazyek)




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