Artikel |
Mittwoch, 30.07.2014 | Drucken |
Was können Muslime gegen Antisemitismus und andere gruppenspezifische Menschenfeindlichkeit tun? Von Muhammad Sameer Murtaza
Und warum es jetzt gerade wichtig ist, dass Muslime bei der Bewertung des Nahostkonfliktes den leider weit verbreiteten und erlebten Doppelstandart entschieden ablehnen - "Es gibt kein gerechtes Unterstützen im Ungerechten"
Antisemitische Parolen von Muslimen ausgesprochen, wie Grotesk ist das denn? Würde man diese Muslime darauf ansprechen, würden sie kontern, sie seien gar keine Antisemiten, schließlich seien ja auch die Araber und damit der Prophet Muhammad Semiten gewesen. Wortspielerei! Dann nennen wir es Judenfeindlichkeit oder Judenhass. Aber wie können wir Muslime eine ganze Menschengruppe, ein ganzes Volk hassen, wenn wir zugleich an die Propheten Jakob (Ya’qub), genannt Israel, Josef (Yusuf), Moses (Musa), Aaron (Harun), David (Dawud), Salomo (Sulaiman), Zachharias (Zakariyya), Johannes der Täufer (Yahya) und Jesus (Isa) glauben? Judenhass bedeutet folglich auch ein Hass gegen die hier aufgeführten Propheten, die gleichermaßen Hebräer, Israeliten, Juden waren. In der Regel versuchen antisemitisch eingestellte Muslime dann die Flucht nach Vorne anzutreten, indem sie das Jüdisch sein dieser Propheten verleugnen, werden diese doch im Qur’an als Muslime bezeichnet. Gerade hieran erkennen wir, dass solche Muslime eigentlich gar nicht wissen, was ein Jude ist. Und hier muss eine innermuslimische Aufklärung ansetzen.
Das Rätsel Judentum
Was ist also das Judentum? Zuallererst ist es kein Monolith. Es gibt nicht "das" Judentum, ebenso wenig wie es "den" Islam gibt. Auch "die" Juden gibt es nicht, so wie es auch nicht "die" Muslime gibt. Ein signifikanter Unterschied zwischen dem Christentum und dem Islam auf der einen Seite und dem Judentum auf der anderen ist die Tatsache, dass das Judentum ursprünglich eine ethnische, eine Volksreligion war. Der Theologe Hans Küng schreibt über das Rätsel Judentum: „
– Ein Staat und doch keiner! Warum nicht? Weil seit dem Babylonischen Exil (586 v. Chr.) ein Großteil und seit dem zweiten Jahrhundert n. Chr. bis heute sogar der weitaus größere Teil der Juden außerhalb des „Heiligen Landes“ lebt (…).
– Ein Volk und doch keines! Warum nicht? Weil dieses Volk wie kein anderes eine internationale Größe ist. Zahllose Juden fühlen sich politisch und kulturell als Amerikaner, Engländer, Franzosen, auch Deutsche und keinesfalls als „Auslandsisraelis“.
– Eine Rasse und doch keine! Warum nicht? Weil schon seit spätrömischer Zeit Menschen aus allen möglichen Stämmen und Völkern durch Heirat oder Konversion Juden geworden sind, manche Ostjuden etwa vom Turkvolk der Chasaren und wieder andere von den schwarzen Falaschas in Äthiopien abstammen und das heutige Israel so ein offensichtlicher vielrassiger Staat geworden ist mit Menschen aller möglichen Haut-, Haar-, und Augenfarbe.
– Eine Sprachgemeinschaft und doch keine! Warum nicht? Weil das Judentum weder eine allen gemeinsame Kultur noch eine allen gemeinsame Sprache kennt; viele Juden können kein Hebräisch oder Jiddisch. – Eine Religionsgemeinschaft und doch keine! Warum nicht? Weil nicht wenige Juden – auch in Israel nicht an Gott glauben und behaupten, ihr Judentum hätte mit Religion nichts zu tun; andere sind zwar religiös, lehnen aber die Beachtung der Halacha, des jüdischen Religionsgesetzes, für sich ab.“
Rabbi Leo Trepp (gest. 2010) betonte gleichermaßen, dass die heutigen Juden keinen gemeinsamen ethnischen Ursprung besitzen: „Unzählige Bestandteile verschiedenster Rassen lassen sich unter ihnen nachweisen. Es gibt weiße, schwarze und asiatische Juden. Vom frühsten Beginn der jüdischen Geschichte an hat es einen unaufhörlichen Zustrom mannigfaltiger rassischer Gruppen gegeben. Etliche große Führungspersönlichkeiten der Judenheit, sogar schon in der frühesten Zeit, etwa David, Israels größter König, haben nichtjüdische Ahnen. Diese Vermischung von Rassen hat sich bis heute fortgesetzt und schreitet immer noch weiter.“
Aber was ist dann das Judentum? Vielleicht liegt die Antwort in der jüdischen Geschichte, die deutlich macht, dass das Judentum eine theozentrische Erfahrungs- und Schicksalsgemeinschaft all jener ist, die ihre Abstammung – ob ethnisch, kulturell oder religiös – auf Jakob, genannt Israel, zurückführen. Im Tanach werden die Juden als eine Hausgemeinschaft, genauer als Haus Israel (bet Jisrael) bezeichnet. In seiner Erläuterung dieses Begriffs gab Rabbi Trepp zugleich Einblick, was es bedeutet Jude zu sein und zu dieser Hausgemeinschaft zugehören:
„In einer Hausgemeinschaft bildet sich eine nur ihr eigentümliche Atmosphäre heraus. Sie entsteht durch die Liebe ihrer Angehörigen zueinander, durch die ihnen gemeinsame Überlieferung, die jeden einzelnen von ihnen prägte, durch die Erfahrungen, die sie gemeinsam machten und noch machen werden. Der Geist dieser Atmosphäre umgreift nicht nur alle, die innerhalb der Familienwohnstatt leben, sondern auch jene, die es in die Fremde verschlug, nicht nur die, die in das Heim hineingeboren wurden, sondern auch jene, die sich erst später der Gemeinschaft anschlossen. Jede Familie bringt auf eine bestimmte, allen ihren Mitgliedern gemeinsame Art diesen Geist in Sitten und Bräuchen zum Ausdruck. Und sogar jene unter den Familienangehörigen, die diese Ausdrucksform ablehnen, haben Teil an dem spezifischen Familiengeist, an der Liebe, ja selbst an den Konflikten der Familie und bleiben einander durch ein Gefühl der Verwandtschaft, die nichts mit einem politischen Zusammenschluss zu tun hat, verbunden. So beschaffen ist das Haus Israel: geformt durch seine Geschichte, seine Hoffnungen, seine Traditionen, seine Prüfungen und Erfolge in der Vergangenheit und Gegenwart, durch das Füreinandereinstehen seiner Mitglieder und ihre Bindung an das gemeinsame Erbe, durch seine schöpferischen Kräfte und das, was es zu den Errungenschaften der Menschheit beitrug, durch alles, was es um seiner selbst und um aller Menschen willen erstrebt.“
Ob es sich nun um religiöse oder nichtreligiöse Juden handelt: Gott und das Ringen mit Ihm ist Zentrum und Bindekraft der jüdischen Identität. Es heißt in der Thora: Dann sprach Gott alle diese Worte: Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott (…). (Ex 20,1-5)
Jude sein kann also beides bedeuten: sich zu einem Volk zugehörig fühlen, aber nicht unbedingt religiös zu sein. Man kann Jude und zugleich Atheist sein. Oder man kann Jude und zugleich Muslim sein, wie es der Fall bei einem der bedeutendsten muslimischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts war, Muhammad Asad (Leopold Weiss, gest. 1992). Zugleich kann man ein religiöser Jude sein und dennoch einem anderem Volk angehören, da man zum Judentum konvertiert ist. Was bedeutet es also, wenn Gott im Qur’an die oben angeführten Propheten Muslime nennt?
Nichts weiteres, als dass sich diese Menschheitslehrer Gott hingegeben haben, um Frieden zu finden und Frieden zu machen; auf Arabisch: Muslime. Deshalb werden die Propheten ausnahmslos im Qur’an mit einer Selbstverständlichkeit als Muslime bezeichnet – im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung und nicht als Ausdruck der historischen Gemeinde, die sich im 7. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel manifestierte. Wir stellen fest: Beim Islam handelt es sich um eine Einstellung des Menschen zu Gott. Und dies ändert nichts an der Zugehörigkeit dieser Propheten zum jüdischen Volk. Wie können wir also einen blinden kollektiven Hass gegen das Judentum zulassen? Ist Hass gegen irgendeine Menschengruppe überhaupt zulässig?
Hass gegen Menschengruppen ist die Tradition Iblis
Gruppenspezifischer Hass ist nichts anderes als eine Selbsterhöhung des Menschen über andere Menschen. Qur’anisch stehen solche Muslime nicht in der Tradition Muhammads, sondern in der Tradition Iblis, des Satans im Islam, der gleichermaßen einen kollektiven Menschenhass entwickelte und dem Menschen jegliche von Gott verliehene transzendente Würde abstreitet:
Er [Gott] sprach: „Was hinderte dich, dich niederzuwerfen, als Ich es dir befahl?“ Er [Iblis] sagte: „Ich bin besser als er. Du hast mich aus Feuer erschaffen, ihn aber erschufst Du aus Ton.“ Er sprach: „Weg und hinab mit dir! Es geziemt dir nicht, hier hochmütig zu sein. Darum hinaus mit dir, siehe, du bist einer der Gedemütigten.“ Er sagte: „Gib mir eine Frist bis zum Tag der Auferstehung.“ Er sprach: „Fürwahr, die Frist ist dir gewährt.“ Er sagte: „Wie Du mich in die Irre gehen ließest, werde ich ihnen auf Deinem geraden Weg auflauern. Dann will ich von vorn und von hinten, von ihrer Rechten und von ihrer Linken über sie kommen und Du wirst die Mehrzahl von ihnen undankbar finden.“ Er sprach: „Weg von hier, verachtet und verstoßen! Wahrlich, wer von ihnen dir folgt, mit euch allesamt fülle Ich die Hölle!“ (7:12-18)
Das Böse geschieht nicht einfach so, sondern es wird gemacht, man entscheidet sich bewusst dafür, es zu tun. Die Natur des Bösen ist die eigene Überhöhung. Iblis glaubt, er sei besser, womit er gleichzeitig die Würde des Menschen herabsetzt. In diesem Hochmut und in dieser Verachtung liegt die Wurzel des Bösen. Judenfeindliche Parolen wie "Nur ein toter Jude ist ein guter Jude" stehen gänzlich in der Tradition Iblis. War es aber nicht schon immer so? Diese Feindschaft zwischen Juden und Muslimen? Oder gab es vielleicht mal eine Zeit, in der wir gemeinsam lebten, ja sogar gemeinsam feierten?
An die gemeinsame Vergangenheit erinnern…
Bald 100 Jahre lang dauert bereits der Konflikt um Palästina an, wenn man die Balfour-Deklaration von 1917 als Ausgangspunkt nimmt. 100 Jahre gegenseitiges Töten hat nicht nur bei Muslimen, sondern auch bei Juden zu einem Feindbilddenken geführt. Wie anders soll man sonst die in Israel besonders unter Soldaten getragenen T-Shirts verstehen, auf denen eine hochschwangere verschleierte Frau abgedruckt ist, die ins Visier genommen wird, darunter der Schriftzug: One Shot, two kills.
Das es mal zwischen Juden und Muslimen anders war, daran können sich viele nicht mehr erinnern oder es sich gar vorstellen. Dabei ruft Gott im Qur’an zu einer Tischgemeinschaft zwischen Juden, Christen und Muslimen auf:
Heute sind euch alle guten Dinge erlaubt. Auch die Speise derer, denen die Schrift gegeben wurde, ist euch erlaubt, so wie eure Speisen ihnen erlaubt sind. Und (erlaubt sind euch zu heiraten) tugendhafte Frauen, die gläubige sind, und tugendhafte Frauen von denen, welchen die Schrift vor euch gegeben wurde, sofern ihr ihnen ihr Brautgeld gegeben habt und tugendhaft mit ihnen lebt, ohne Unzucht, und keine Geliebten nehmt. Wer den Glauben verleugnet, dessen Werk ist fruchtlos, und im Jenseits ist er einer der Verlorenen. (5:5)
Trotz aller erfahrenen Unterschiede und Konflikte zwischen Juden und Muslimen, unterstreicht dieser Vers, so der verstorbene Professor Falaturi, dass Juden (und auch Christen) aufgrund ihrer monotheistischen Ausrichtung gesellschaftlich voll akzeptiert werden sollen, indem zu einer Tisch- und sogar Ehegemeinschaft mit Juden eingeladen wird. Letzteres bedeutete in der arabischen Gesellschaft des 7. Jahrhunderts nicht nur eine Verbindung zwischen zwei Personen, sondern zugleich einen Vergesellschaftlichungsprozess von zwei Großfamilien oder sogar zwei Stämmen.
Im Mittelalter war es, so Rabbi Mark Cohen, eher die Regel als die Ausnahme, dass Juden als geschützte Leute (ahl al-dhimma), von den muslimischen Herrschenden hinsichtlich ihres Lebens, ihrer Religionsausübung, ihrer wirtschaftlichen Freiheit und ihrer Bewegungsfreiheit Schutz erfuhren – natürlich waren Muslime und Juden in der damaligen Zeit nicht gleichgestellt, aber Juden waren auch nicht wie im christlichen Europa Leibeigene des Herrschers, sondern Untertanen. Sie wurden nicht zur Konvertierung gezwungen (siehe 2:256), ihre Gemeinden waren autonom (siehe Verfassung von Medina) und im Geschäftsleben waren sie den Muslimen gleichberechtigt, lediglich in Regierungsämtern fand man sie seltener, da dies in der damaligen Zeit als Bedrohung der gesellschaftlichen Hierarchie empfunden wurde.
Vom Militärdienst waren sie befreit. Davon abgesehen fand man sie jedoch in allen Berufssparten: im Färbergewerbe, in der Metallverarbeitung, als Weber, Bäcker, Winzer, Glasbläser, Schneider, Gerber, in der Käseherstellung, in Zuckermanufakturen, der Seidenverarbeitung oder der Landwirtschaft. Dies macht deutlich, dass im Wirtschaftsleben Juden und Muslime ständig miteinander in Kontakt standen und es dadurch einen Raum gab, anständige positive und menschliche Beziehungen entstehen zu lassen. Fast schon märchenhaft klingt der arabische Ausdruck von der Ehrlichkeit der Juden (haqq al-yahud), der Zeugnis gibt über das Ausmaß der Vertrautheit beider Religionsgemeinschaften.
Als Untertanen mussten sie als ahl al-dhimma eine Steuer entrichten, die Schutzabgabe (jizya). Von ihr befreit waren grundsätzlich a) Frauen, b) Kinder und Jugendliche, c) alte Männer, d) kranke und behinderte Männer und e) Priester und Mönche. Sicherlich, von Zeit zu Zeit trieben muslimische Herrscher mit ihr Schindluder, indem sie die jizya exorbitant erhöhten. Strenggenommen stellte dies nach dem islamischen Recht, wonach die jizya nicht höher als die zakat sein darf, einen Missbrauch dar. Dennoch wurde die jizya von Juden in der islamischen Welt als konstruktives Element empfunden. So schreibt Jacob b. Elija, der im dreizehnten Jahrhundert von Europa in den Orient emigrierte:
„Unter den Orientalen verdient jeder seinen Lebensunterhalt mit seinem jeweiligen Beruf. Selbst wenn die arabischen Herrscher böse und sündhaft sind, besitzen sie doch Verstand und Einsicht. Sie verlangen jedes Jahr eine vorgeschriebene Steuer, von den Älteren gemäß ihrem Alter und von den Jüngeren gemäß ihrer Jugend. In unserem Landen verhält sich dies nicht so […]. Unsere Könige und Prinzen denken nur daran, wie sie uns angreifen und uns überwältigen können, um uns unser Gold und Silber fortzunehmen.“
In diesem Zusammenhang macht Rabbi Cohen eine interessante Bemerkung hinsichtlich der Abwesenheit eines jüdisch-muslimischen Dialogs im Mittelalter: Dieser sei gar nicht von Nöten gewesen, denn über was hätte man diskutieren sollen. Beide glaubten sie an den einen Gott, sahen in Jesus nicht Gottes Sohn, glaubten an ein offenbartes Gesetz, und sahen Glaube und Tat als die zwei Seite einer Medaille an. Juden und Muslime, so Cohen, fühlten sich einander nicht fremd. Deswegen seien muslimische Polemiken gegen Juden und das Judentum im Mittelalter verglichen mit der Masse anti-jüdischer Polemiken in der christlichen Welt eine Seltenheit geblieben. Ausschreitungen gegen Juden als Juden habe es so gut wie nie gegeben. Ebenso selten waren umgekehrt jüdische Polemiken gegen den Islam und wenn es sie gab, so hatten diese Schriften nicht die gleiche intensive Feindseligkeit wie die jüdischen Polemiken gegen das Christentum. Der französische Orientalist Claude Cahen wagte sogar die Annahme, es habe im Mittelalter nur eine einzige Verfolgung der ahl al-dhimma (Schutzbefohlenen) gegeben. Dies stimmt nicht ganz. Historisch belegt sind Juden- und Christenverfolgungen a) unter dem fatimidischen und als wahnsinnig geltenden Kalifen Al-Hakim von 1004 bis zum Ende seiner Herrschaft 1021, b) auch gab es im Jahr 1066 eine Judenverfolgung in Granada, die einzige gezielt antijüdische Ausschreitung im islamischen Mittelalter, und c) schließlich die Verfolgung von Juden und Christen in Nordafrika und Spanien durch die berberischen Almohaden Mitte der 1140er Jahre und 1172 im Jemen durch muslimische Freischärler, jedes Mal mit dem Ziel die Anhänger früherer Offenbarungen zur Konvertierung zu zwingen.
Diese Verfolgungen stellten in jedem dieser Fälle Ausnahmesituationen dar, die gegen das islamische Recht verstießen. Dies soll keine Verteidigung des Islam darstellen, sondern wurde von den Muslimen in den damaligen Zeiten tatsächlich so wahrgenommen. Nach Wiederherstellung der normalen Verhältnisse wurde es Juden und Christen gestattet, zu ihrer ursprünglichen Religion zurückzukehren. Der Sohn Al-Hakims und zugleich sein Nachfolger Al-Zahir beispielsweise ließ verkünden, dass die Zwangsbekehrungen, die unter seinem Vater stattfanden nicht mit dem Islam vereinbar seien. In allen Fällen von Verfolgung war die muslimische Seite dermaßen beschämt ihre vom islamischen Recht abgeleiteten Schutzgarantien nicht erfüllt zu haben, dass man der nichtmuslimischen Bevölkerung jeweils die jizya zurückzahlte.
So schreibt der Islamwissenschaftler Van Ess: „Pogrome waren verhältnismäßig selten, und man konnte sich nur schlecht bei ihnen im Recht fühlen. Denn sie waren ja nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch juristisch gesehen Unrecht; und da das Gesetz, gegen das man verstieß, ein göttliches war, waren sie auch Sünde.“ Dies mag wohl auch erklären, dass es in den jüdischen Schriften kaum klagende Erinnerungen an diese Zeiten der Verfolgungen gibt. Phänomene wie charakteristische Kleidung, die Juden und Christen im Mittelalter zeitweilig auferlegt wurde – etwas, das sich nicht aus dem Qur’an ableiten lässt – und die wir heute allzu schnell anachronistisch als Diskriminierung verurteilen, hatte in dem damaligen historischen Kontext einer religiös facettenreichen Gesellschaft den Hintergrund, die Gemeinden unzweideutig voneinander zu unterscheiden, um zum einen die Hierarchie von Herrschenden und Beherrschten sichtbar zu machen und zum anderen auch ein Funktionieren des interethischen Umgangs zu gewährleisten. Van Ess erinnert auch daran, dass „Menschen sich durch ihre Kleidung unterscheiden, war im Mittelalter ein selbstverständlicher Gedanke; erst seit dem 19. Jahrhundert tragen wir alle einen schwarzen Anzug oder kleiden uns alle in Jeans.“
Was wünschen wir für das palästinensische Volk?
Kollektivhass und Kollektivbestrafungen gegen andere Gruppen gehören nicht zum Wesen des Islam. Der Islam lässt gar nicht zu, dass wir ein ganzes Volk hassen. Ein guter Muslim hasst keinen Juden. Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, twitterte kürzlich: „Wer Judenhass predigt oder Antisemitismus meint im Zuge des Gaza-Krieges verbreiten zu müssen, bewegt sich außerhalb unserer Gemeinden!“ Ergänzen kann man, dass solche Menschen sich außerhalb der Ethik des Islam bewegen. Zahlreiche Postings in den sozialen Netzwerken verdeutlichen, das bei manchen Muslimen das Feindbild Jude dermaßen tief sitzt, dass sie sogar bewusst die islamische Offenbarung und das Prophetenwort ignorieren, wenn sie auf ihre schiefen Ansichten angesprochen werden. Wie schändlich und unislamisch sind ausgesprochene Drohungen gegen jüdische Einrichtungen und gar Synagogen, wenn diese sogar durch das Gotteswort unter Schutz stehen:
(…) Und wenn Gott nicht die einen Menschen durch die anderen abgewehrt hätte, so wären fürwahr Mönchsklausen, Kirchen, Synagogen und Moscheen zerstört worden, in denen Gottes Name häufig genannt wird. – Und Gott wird ganz gewiß denjenigen helfen, die Ihm helfen. Gott ist wahrlich Stark und Allmächtig. (22:40)
Hass, Verzweiflung und Ohnmachtsgefühle, die jeder Muslim, eigentlich jeder Mensch hinsichtlich der verheerenden Lage der Palästinenser empathisch nachvollziehen kann, dürfen aber nicht dazu führen, dass wir uns auf ein menschenverachtendes Niveau herablassen, das nicht mehr dem Muslim sein entspricht; denn dann verlieren wir nur uns selber.
Was sollen wir aber dann tun? Wie sollen wir reagieren, wenn wir Bilder von zerfetzten Kinderleichen sehen, die Opfer einer israelischen Bombe wurden?
Wir sollten zu keiner Generalanklage gegen das jüdische Volk anstimmen. Was kann ein Deutscher jüdischen Glaubens für die Politik der israelischen Regierung? Also differenzieren wir, zwischen Juden und der israelischen Regierung. Und es ist die israelische Regierung, die wir für ihre Taten anklagen. Es ist die israelische Regierung, von der wir Rechenschaft einfordern, weshalb sie das Angebot der palästinensischen Autonomiebehörde im Januar 2011 abgelehnt hat, in dem die Palästinenser weitgehende Zugeständnisse gemacht hatten: Akzeptanz aller israelischen Siedlungen im Osten Jerusalems mit Ausnahme von Har Choma, die Begrenzung des Rückkehrrechts von Palästinensern auf 100.000, Aufgabe des Tempelberges, der unter internationale Aufsicht gestellt werden sollte, und die Abtretung großer Teile Jerusalems an Israel.
Wir Muslime in Deutschland sind keine Stellvertreter der HAMAS, des Islamischen Dschihad oder einer anderen Gruppierung. Wir sollten das Existenzrecht der Palästinenser verfechten, da auch nur dies Israel sichere Grenzen bescheren wird. Uns sollte es um eine konstruktive Kritik an dem Vorgehen der israelischen Regierung seit der traumatischen Nakba gehen, damals als arabischen Einwohner, die nicht weichen wollten, durch israelische Kämpfer, so der Historiker Benny Morris, willkürlich getötet wurden wie etwa in Sahila (70-80 Ermordete), Deir Yassin (100-110 Ermordete), Lod (250 Ermordete), und Dawayima (mehrere hundert Ermordete). Morris rechtfertigt dieses Vorgehen der israelischen Seite, da ansonsten „kein Staat entstanden [wäre]. Das muss klar sein. Das lässt sich nicht vermeiden. Ohne die Vertreibung der Palästinenser, wäre hier kein jüdischer Staat entstanden.“ Nach dem Historiker Pappe begannen die Vertreibungen und Pogrome bereits vor dem 15. Mai – also vor der Gründung des Staates Israels – und wären somit auch ohne den Krieg fester Bestandteil der Politik Israels gewesen. Um die Geisteshaltung, die hinter diesen Gräuel steckt zu verstehen, sagt Pappe über die ersten Zionisten in Palästina: „Aber dann kam die zweite, die wichtige Einwanderergruppe. Das waren die Zionisten des 20. Jahrhunderts, jene, aus denen die zionistische Führung hervorging, Männer wie Ben Gurion und viele andere. Sie kamen 1905/1906. Sie waren sehr arm und hatten keinen Ort zum leben. Und wer half ihnen? Die Palästinenser. Es existiert dort eine traditionelle Gastfreundschaft, das ist eine jahrtausendealte Kultur. Man gibt Fremden Nahrung und Unterkunft. Man brachte ihnen bei, das Land zu bestellen. Und was schrieben Leute wie Ben Gurion in ihre Tagebücher? >Dieser Platz ist voll von Ausländern.< Die Menschen, die sie aufnahmen, waren für sie die Ausländer. Wenn man das versteht, versteht man die zionistische Mentalität. Dahinter verbirgt sich die Einstellung: Ich will diese Leute nicht sehen, weil sie Ausländer sind, die sich etwas angeeignet haben, was mir gehört. Die Palästinenser sind Fremde und Eindringlinge, und wir werden sie hinauswerfen.“
Dieser seit 67 Jahren andauernde Neo-Imperialismus und -kolonialismus gilt es zu kritisieren und öffentlich zu machen.
Wir Muslime betreiben keine Israelkritik, denn eine Israelkritik würde ja eine Zweistaatenlösung, die einzige Hoffnung auf dauerhaften Frieden ad absurdum führen, aber wir sollten eine legitime Kritik an einer beängstigend kontinuierlichen Regierungspolitik Israels betreiben. Dies ist weder Judenhass noch Antisemitismus.
Ich mag nicht glauben, dass die Vertreter des Judentums in Deutschland mit einer solchen Regierungspolitik einverstanden sind. Sie widerspricht dem Universalismus in der Thora. Aber ich kenne nur einen einzigen Juden in Deutschland, der seinen Unmut über eine solche Politik öffentlich macht: Prof. Dr. Rolf Verleger. Ich weiß von meinen jüdischen Freunden, dass es viele stumme Kritiker gibt, auf die ein genauso enormer Druck lastet, wie auf Muslime, die die HAMAS kritisieren. Aber es gibt kein gerechtes Unterstützen im Ungerechten. Es sollte möglich sein, dass wir gemeinsam, Juden und Muslime, für Frieden und die Zweistaatenlösung beten und demonstrieren. Dass wir gemeinsam für das Existenzrecht der Palästinenser und der Israelis werben. Dass wir die Stimme erheben für ein Ende des islamisch verbrämten Terrors, aber auch ein Ende der landraubenden jüdischen Siedlungsbewegung. Dass wir ein Ende der Raketenangriffe der HAMAS wie auch der gezielten Tötungen seitens des israelischen Staates fordern. Dies wäre ein Signal des Aufbruches. Dies würde bequeme Feindbilder sprengen. Dies könnte Hoffnung machen, die Tischgemeinschaft zwischen Juden und Muslimen wiederherzustellen.
Muhammad Sameer Murtaza M.A. ist Islamwissenschaftler bei der Stiftung Weltethos (http://www.weltethos.de/). Dort arbeitet er zum jüdisch-muslimischen Dialog und zur islamischen Philosophie im Bezug auf Toleranz und Dialog. Kürzlich erschien sein Buch Islam. Eine philosophische Einführung und mehr…
Zum weiterlesen: Murtaza, Muhammad Sameer (2010): "Laßt uns die Feindbilder auf beiden Seiten einreißen" - Ein Plädoyer für Besonnenheit, Differenzierung und Dialog. Internet: http://islam.de/15933.php. - (2011): Das "Projekt Weltethos" als Vermittler zwischen Juden und Muslimen. Internet: http://islam.de/19077.php. - (2012): Jenseits von Eden. Was die Anschläge von Toulouse bedeuten und vor welche Herausforderungen sie die muslimische Community stellen. Internet: http://islam.de/20027. - (2012): Gemeinsames Kernethos von Judentum und Islam. Was kann das "Projekt Weltethos" zum jüdisch-muslimischen Dialog beitragen? In: Islam - Kultur - Politik (Jan-Feb): 3-4. - (2012): Die Würde des Menschen in der Tora und im Qur'an. In: Ökumenische FriedensDekade: Mutig für Menschenwürde: 10-11. - (2013): Die simple Unterteilung in Gut und Böse. Die Genealogie der HAMAS. Internet:http://www.islamische-zeitung.de/?id=16569. - (2013): Die Fähigkeit zur Selbstkritik am Beispiel des islamisch verbrämten Antisemitismus. Internet: http://islam.de/22132.
|
|
Hintergrund/Debatte
Langes KNA-Interview: Der neue Vorsitzende des Zentralrats der Muslime über sein Amt ...mehr
Bochum ehrt Ahmed Aweimer zum 70. Geburtstag ...mehr
Aiman Mazyek kommentiert das Verbot der Imam Ali Moschee: "Blaue Moschee - Islamisches Zentrum in Hamburg ...mehr
Medienanalyse: Rassismus in Medien, Recht und Beratung ...mehr
Jahresbericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte: Jeder Mensch möchte in Würde leben - Für viele Menschen bleiben diese Wünsche unerfüllt – auch in Deutschland ...mehr
Der Koran – 1400 Jahre, aktuell und mitten im Leben
Marwa El-Sherbini: 1977 bis 2009
|