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Donnerstag, 04.04.2013 | Drucken |
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Wie steht es mit der Fähigkeit zur Selbstkritik und zum gerechten Handeln unter Muslimen?
Am Beispiel des muslimisch verbrämten Antisemitismus und belasteten Beziehung zu den Juden - Von Muhammad Sameer Murtaza
Wer heutzutage die Bibliothek der prestigeträchtigen Harvard Law School betritt, der wird an ihrem Eingang einen Vers aus dem Qur’an angebracht finden, der da lautet:
O ihr, die ihr glaubt! Tretet für die Gerechtigkeit ein, wenn ihr vor Gott Zeugnis ablegt, und sei es gegen euch selber oder eure Eltern und Verwandten. Handele es sich um arm oder reich, Gott steht euch näher als beide. Und überlaßt euch nicht der Leidenschaft, damit ihr nicht vom Recht abweicht. Wenn ihr (das Recht) verdreht oder euch (von ihm) abkehrt, siehe, Gott weiß, was ihr tut. (4:135)
Die Anbringung dieses Verses rechtfertigen die Initiatoren damit, dass er ein Zeugnis für die Beständigkeit der menschlichen Sehnsucht nach Gerechtigkeit und menschlicher Würde mit Hilfe des Rechts sei.
Dies ehrt uns Muslime ungemein, aber wie verhält es sich mit der praktischen Umsetzung dieses Verses? Die Gerechtigkeit ist jenes qur’anische Ideal, an dem sich auch die Muslime immer wieder selbst messen und messen lassen müssen. Dies erfordert schonungslose Selbstkritik und da, wo Muslime in Unrecht verstrickt sind, auch Läuterung.
Nicht jede Medienkritik am Islam ist Ausdruck von Islamophobie und nicht jede Religionskritik verfolgt destruktive Absichten. Anstatt dass die Muslime in ein Stammesdenken zurückfallen und sich allesamt gegen jede noch so legitime Kritik zusammenrotten oder in die allzu kuschelige Opferrolle verfallen, gilt es eine Position der Souveränität und Stärke einzunehmen. Sie besteht darin, zuzuhören, unvoreingenommen die Kritik einer wissenschaftlichen und objektiven Untersuchung zu unterziehen und sofern sie sich als berechtigt erweist, konstruktive Schritte einzuleiten, um Missstände in der eigenen Religionsgemeinschaft zu beheben. Schließlich pflegt mein Mentor Murad Hofmann stets zu sagen, wo Rauch ist, da ist auch Feuer.
Die großen Reformer des Islam im 19. Jahrhundert – Jamal Al-Din Al-Afghani (gest. 1897) und Muhammad Abduh (gest. 1905) – haben daher immer wieder ihre Glaubensgeschwister an die Notwendigkeit der Selbstkritik, der Läuterung und der Reform erinnert, wenn sie den Offenbarungsvers anführten:
(…) Gott ändert nicht den Zustand eines Volkes, bis sie das ändern, was in ihnen selbst ist. (…) (13:11)
Der Qur’anexeget Muhammad Asad (gest. 1992) erläutert, dass dieser Vers „eine Illustration des göttlichen Gesetzes von Ursache und Wirkung (sunnat Allah) [sei], das das Leben sowohl von Individuen als auch Gemeinschaften beherrscht und Aufstieg und Niedergang von Zivilisationen von den moralischen Eigenschaften und dem Wandel ihres "inneren Selbst" abhängig macht.“
Ohne die Bereitschaft, sich als Religionsgemeinschaft so wahrzunehmen wie man tatsächlich ist, ohne den Willen es auszusprechen, wenn das eigene Ideal pervertiert wird, ohne den Mut sich zu verändern, können die Muslime nicht ihre religiös begründete Aufgabe auf Erden erfüllen, nämlich eine Barmherzigkeit für alle Menschen und frei von allen Extremen zu sein, wenn es in der Schrift lautet:
Und damit aus euch eine Gemeinde wird, die zum Guten einlädt, das Rechte gebietet und das Unrechte verbietet. Sie sind es, denen es wohl ergehen wird. (3:104)
Und so haben Wir euch zu einer Gemeinschaft der Mitte gemacht, damit ihr Zeugen über die (anderen) Menschen seiet und damit der Gesandte über euch Zeuge sei. (…) (2:143)
Ich glaube, es war der Reichskanzler Otto von Bismarck, der einst über die Studenten an den deutschen Universitäten sagte, dass ein Drittel von ihnen an Überlastung zusammenbreche, ein Drittel von ihnen aufgrund von Zerstreuung abbreche und dass das andere Drittel Deutschland regieren werde. Ich weiß natürlich nicht, welches Drittel heute hier ist, aber ich hoffe, ich spreche zu jenen muslimischen Studentinnen und Studenten, die eines Tages als zivilgesellschaftliche Akteure eine gewichtige Rolle in unserer Gesellschaft und in der muslimischen Community einnehmen werden. Jenes Drittel, das danach streben wird, den Idealen des Qur’an gerecht zu werden.
Dazu müssen Muslime aber immer wieder einen kritischen Blick auf den Zustand und die Handlungen der eigenen Religionsgemeinschaft werfen. Muslim zu sein bedeutet nicht, die eigenen Partikularinteressen zu vertreten, Muslim zu sein bedeutet nicht, einen religiösen Chauvinismus zu pflegen und zu hegen. Sondern das Muslimsein erfordert eine – manchmal – schmerzhafte Tugend, nämlich das Einstehen für Gerechtigkeit, auch wenn es zum eigenen Nachteil ist:
O ihr, die ihr glaubt! Steht in Gerechtigkeit fest, wenn ihr vor Gott bezeugt. Der Haß gegen (bestimmte) Leute verführe euch nicht zu Ungerechtigkeit. Seid gerecht, das entspricht mehr der Gottesfurcht. Und fürchtet Gott. Siehe, Gott kennt euer Tun. Gott hat denen, die glauben und das Rechte tun, Verzeihung und gewaltigen Lohn versprochen. (5:8-9)
Wenn die muslimische Gemeinschaft sich jeder Kritik verwehrt, beraubt sie sich der Möglichkeit zu wachsen.Seit geraumer Zeit häufen sich wieder Beleidigungen, Schmähungen und Gewalttaten gegen Juden in diesem Land. Es sind nicht mehr nur die Rechtsradikalen, von denen dies ausgeht, sondern leider auch Muslime.
Jeder Muslim und jede Muslima sollte sich selbst fragen, ob er oder sie in seinem oder ihrem Umfeld bereits einmal Antisemitismus begegnet ist, wenn beispielsweise das Wort Jude als Schimpfwort gebraucht wurde, oder Juden von der Minbar verflucht wurden, oder wir in unserer Moscheegemeinde auf Schriften stießen, die mit religiösen Argumenten eine Judenfeindlichkeit rechtfertigten. Wie haben wir darauf reagiert? Etwa mit Duldung? Aber ist nicht jede Duldung eine passive Zustimmung? Oder haben wir diesen Judenhass sogar noch befürwortet? Haben wir ihn als richtig in unseren Herzen empfunden, als adäquate Antwort auf die Politik Israels gegenüber den Palästinensern? Aber ist dies nicht ein Gefühl von genugtuender Rache, statt dem Streben nach Gerechtigkeit? Ist es nicht ein Gift, das wir uns eintröpfeln und das unsere Vernunft betäubt und unser Herz vergiftet. Denn wie können wir noch Islamfeindlichkeit anprangern, wenn wir uns geistig mit den Islamophoben dermaßen berühren? Wie können wir hinsichtlich des Islam und der Muslime Differenzierung einfordern, dies beim Judentum und den Juden selbst aber unterlassen? Wie können wir uns dagegen entrüsten und verwehren für die Politik von Staaten wie dem Iran und Saudi-Arabien verantwortlich gemacht zu werden, wenn wir die Handlungen des Staates Israel mit dem Judentum gleichsetzen?
Das Vorhandensein einer Judenfeindlichkeit in der islamischen Religionsgemeinschaft, im Fühlen, Denken, Sprechen und Schreiben vieler Glaubensgeschwister und seine Legitimierung durch eine religiöse Beweisführung zwingen uns einzugestehen, dass es einen islamisch verbrämten Antisemitismus in unseren Reihen gibt.
Wie können wir es also wagen, Judenfeindlichkeit mit dem universalen Horizont des Qur’an in Einklang zu bringen? Wie können wir noch davon sprechen, der Islam kenne keinen Rassismus, keine Feindseligkeit gegenüber bestimmten Menschengruppen, sondern gestehe allen Menschen die gleiche unverletzliche Würde zu? Entweder ist die Judenfeindlichkeit essentieller inhärenter Bestandteil des Wesens dieser Religion oder es ist eine Begleiterscheinung, wie sie bei jeder Realisierung von Religion in der Geschichte in Erscheinung getreten ist: nämlich in Gestalt des Unwesens, des pervertierten Wesens der Religion. Sollte letzteres zutreffen, dann haben Muslime den Arbeitsauftrag sich von diesem Unwesen zu reinigen. Doch wie kann dies geschehen?
Billige Polemik, die postuliert, dass der Islam nicht antisemitisch sein könne, da auch Araber Semiten seien, ist keine Auseinandersetzung mit diesem Phänomen, sondern ein Wegschieben, es ist ein Sich-eben-nicht-auseinandersetzen-wollen-und-müssen. Verse aus der Offenbarung selektiv anzuführen ohne sich auch mit den judenkritischen Passagen zu beschäftigen, ist Religionsverteidigung, die aber keine Läuterung nach sich zieht. Es ist ein Glasperlenspiel, das auf ein endloses Vers-Ping-Pong mit jenen Muslimen hinausläuft, die eine Judenfeindlichkeit mit genau der gleichen Offenbarungsschrift legitimieren. Ist denn keine aufrichtige, integere, intellektuelle Antwort möglich?
II Ein Gang durch die Geschichte: Das Verhältnis von Juden und Muslimen im islamischen Mittelalter
Wenn also gerade die Offenbarung alleine nicht ausreicht, um festzustellen, ob dem Islam eine Judenfeindlichkeit inhärent ist, was dann? Gott weist im Qur’an auf eine Quelle der Erkenntnis außerhalb der Offenbarung hin, nämlich die Historie:
Wie viele Zeichen gibt es in den Himmeln und auf der Erde, an denen sie vorbeigehen, wobei sie sie unbeachtet lassen! (12:105)
Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche (gest. 1900) teilte die Geschichtsbetrachtungen in drei Arten ein: a) eine monumentalische, b) eine antiquarische und c) eine kritische.
Erstere ist uns Muslimen heute leider allzu gut vertraut und wenig hilfreich. Hierbei richtet man seinen Blick einzig auf die Helden der Vergangenheit und die goldenen Zeiten, um dadurch Trost zu erfahren, dass man doch einst groß war und es auch wieder sein kann, trotz der gegenwärtig empfundenen Mittelmäßigkeit.
Was aber der Tatenmensch – und genau dies ist der Muslim – für eine Selbstkritik und Läuterung benötigt, ist eine kritische Sicht auf die Historie. Der Historiker muss zum Richter werden, der ohne Gnade die vergangenen Zeiten im Hinblick auf die Gegenwart und Zukunft in ihrer Gänze beurteilt und sich von dem löst, was nicht im Dienste des Lebens steht. Für Muslime würde dies bedeuten, sich von dem zu lösen, was nicht im Einklang mit den lebensbejahenden Idealen des Islam steht.
Rabbi Mark Cohen, Professor an der Princeton University, referierte auf der dritten Konferenz für religiösen Dialog in Doha 2005, dass die Beziehungen zwischen Juden und Muslimen in der islamischen Frühzeit in Medina eine feindselige Konfrontation war, deren Ursache jedoch nicht religiösen, sondern politischen Ursprungs war.
Ein Teil der jüdischen Stämme in Medina fühlte sich durch die zahlenmäßige Überlegenheit der Muslime entscheidend bedroht, war doch das eingependelte Machtgefüge in der landwirtschaftlich prosperierenden Oase durch die Immigration der aus Mekka stammenden Muslime nun empfindlich gestört. Mehr noch, sie fühlten sich übergangen, denn es waren die beiden arabischen und vormals polytheistischen Stämme der Aus und der Khazradsch, die in Eigeninitiative Muhammad und seine Anhänger nach Medina eingeladen und ihm zunächst die Rolle eines Schlichters zugeteilt hatten. Wer hatte sie dazu autorisiert? Schon bald wuchsen Muhammads Bedeutung, sein Einfluss und seine Gemeinde exponentiell und veränderten Medina grundlegend. Diese Entwicklung konnte nicht ohne machtpolitische Konflikte vonstattengehen.
Diese anfängliche Konfliktsituation galt den nachkommenden Generationen von muslimischen Gelehrten aber nicht als essentieller Urkonflikt, sondern wurde in seinem damaligen Kontext verstanden und darin eingeschlossen. Anders ausgedrückt: Aus den negativen Erfahrungen der muslimischen Frühgemeinde mit drei von fünf jüdischen Stämmen in Medina konnten keine Schlüsse für spätere Beziehungen zum Judentum an sich gezogen werden. Das Gemisch an positiven wie negativen Aussagen über Juden im Qur’an musste folglich ebenfalls differenziert betrachtet werden. Die positiven Verse galten den Gelehrten als fundamentaler als die negativen, die im Rahmen des medinensischen Konfliktes verstanden wurden. Der Islam sah sich nicht im Konflikt mit dem Judentum, die Negierung des Judentums wurde nicht Teil der islamischen Selbstdefinition, sondern die Juden galten als ahl al-kitab, Leute der Schrift, Anhänger früherer Offenbarungen. Diese Interpretation wurde durch einen Vers, der zu den letzten Offenbarungen gehörte, die dem Gesandten Gottes Muhammad zuteilwurden, be- und gestärkt:
Heute sind euch alle guten Dinge erlaubt. Auch die Speise derer, denen die Schrift gegeben wurde, ist euch erlaubt, so wie eure Speisen ihnen erlaubt sind. Und (erlaubt sind euch zu heiraten) tugendhafte Frauen, die gläubige sind, und tugendhafte Frauen von denen, welchen die Schrift vor euch gegeben wurde, sofern ihr ihnen ihr Brautgeld gegeben habt und tugendhaft mit ihnen lebt, ohne Unzucht, und keine Geliebten nehmt. Wer den Glauben verleugnet, dessen Werk ist fruchtlos, und im Jenseits ist er einer der Verlorenen. (5:5)
Trotz aller erfahrenen Unterschiede und Konflikte zwischen Juden und Muslimen, unterstreicht dieser Vers, so der verstorbene Professor Falaturi, dass Juden (und auch Christen) aufgrund ihrer monotheistischen Ausrichtung gesellschaftlich voll akzeptiert werden sollen, indem zu einer Tisch- und Ehegemeinschaft mit Juden eingeladen wird. Letzteres bedeutete in der arabischen Gesellschaft des 7. Jahrhunderts nicht nur eine Verbindung zwischen zwei Personen, sondern zugleich einen Vergesellschaftlichungsprozess von zwei Großfamilien oder sogar zwei Stämmen. Dies steht im Einklang mit den universellen Prinzipien des Islam, die in Versen, wie dem nachstehenden formuliert sind:
Siehe, die da glauben, auch die Juden und die Christen und die Sabäer – wer immer an Gott glaubt und an den Jüngsten Tag und das Rechte tut, die haben ihren Lohn bei ihrem Herrn. Keine Furcht kommt über sie, und sie werden nicht traurig sein. (2:62)
Der Exeget Muhammad Asad sieht in diesen Passagen eine grundsätzliche Lehre des Islam: „Mit einem aufgeschlossenen Weitblick ohnegleichen in irgendeinem anderen religiösen Glauben wird hier die Vorstellung von >Rettung und Heil< von nur drei Bedingungen abhängig gemacht: Glaube an Gott, Glaube an den Tag des Gerichts und rechtschaffenes Handeln im Leben.“
Im Mittelalter war es, so Rabbi Cohen, eher die Regel als die Ausnahme, dass Juden als geschützte Leute (ahl al-dhimma), von den muslimischen Herrschenden hinsichtlich ihres Lebens, ihrer Religionsausübung, ihrer wirtschaftlichen Freiheit und ihrer Bewegungsfreiheit Schutz erfuhren – natürlich waren Muslime und Juden in der damaligen Zeit nicht gleichgestellt, aber Juden waren auch nicht wie im christlichen Europa Leibeigene des Herrschers, sondern Untertanen. Sie wurden nicht zur Konvertierung gezwungen (siehe 2:256), ihre Gemeinden waren autonom (siehe Verfassung von Medina) und im Geschäftsleben waren sie den Muslimen gleichberechtigt , lediglich in Regierungsämtern fand man sie seltener, da dies in der damaligen Zeit als Bedrohung der gesellschaftlichen Hierarchie empfunden wurde. Vom Militärdienst waren sie befreit. Davon abgesehen fand man sie jedoch in allen Berufssparten: im Färbergewerbe, in der Metallverarbeitung, als Weber, Bäcker, Winzer, Glasbläser, Schneider, Gerber, in der Käseherstellung, in Zuckermanufakturen, der Seidenverarbeitung oder der Landwirtschaft. Dies macht deutlich, dass im Wirtschaftsleben Juden und Muslime ständig miteinander in Kontakt standen und es dadurch einen Raum gab, anständige positive und menschliche Beziehungen entstehen zu lassen. Fast schon märchenhaft klingt der arabische Ausdruck von der Ehrlichkeit der Juden (haqq al yahud), der Zeugnis gibt über das Ausmaß der Vertrautheit beider Religionsgemeinschaften.
Als Untertanen mussten die ahl al-dhimma eine Steuer entrichten, die Schutzabgabe (jizya). Von ihr befreit waren grundsätzlich a) Frauen, b) Kinder und Jugendliche, c) alte Männer, d) kranke und behinderte Männer und e) Priester und Mönche. Sicherlich, von Zeit zu Zeit trieben muslimische Herrscher mit ihr Schindluder, indem sie die jizya exorbitant erhöhten. Strenggenommen stellte dies nach dem islamischen Recht, wonach die jizya nicht höher als die zakat sein darf, einen Missbrauch dar. Dennoch wurde die jizya von Juden in der islamischen Welt als konstruktives Element empfunden. So schreibt Jacob b. Elija, der im dreizehnten Jahrhundert von Europa in den Orient emigrierte:
„Unter den Orientalen verdient jeder seinen Lebensunterhalt mit seinem jeweiligen Beruf. Selbst wenn die arabischen Herrscher böse und sündhaft sind, besitzen sie doch Verstand und Einsicht. Sie verlangen jedes Jahr eine vorgeschriebene Steuer, von den Älteren gemäß ihrem Alter und von den Jüngeren gemäß ihrer Jugend. In unserem Landen verhält sich dies nicht so […]. Unsere Könige und Prinzen denken nur daran, wie sie uns angreifen und uns überwältigen können, um uns unser Gold und Silber fortzunehmen.“
In diesem Zusammenhang macht Rabbi Cohen eine interessante Bemerkung hinsichtlich der Abwesenheit eines jüdisch-muslimischen Dialogs im Mittelalter: Dieser sei gar nicht von Nöten gewesen, denn über was hätte man diskutieren sollen. Beide glaubten sie an den einen Gott, sahen in Jesus nicht Gottes Sohn, glaubten an ein offenbartes Gesetz, und sahen Glaube und Tat als die zwei Seite einer Medaille an. Juden und Muslime, so Cohen, fühlten sich einander nicht fremd. Deswegen seien muslimische Polemiken gegen Juden und das Judentum im Mittelalter verglichen mit der Masse anti-jüdischer Polemiken in der christlichen Welt eine Seltenheit geblieben. Ausschreitungen gegen Juden als Juden habe es so gut wie nie gegeben. Ebenso selten waren umgekehrt jüdische Polemiken gegen den Islam und wenn es sie gab, so hatten diese Schriften nicht die gleiche intensive Feindseligkeit wie die jüdischen Polemiken gegen das Christentum.
Der französische Orientalist Claude Cahen wagte sogar die Annahme, es habe im Mittelalter nur eine einzige Verfolgung der ahl al-dhimma (Schutzbefohlenen) gegeben. Dies stimmt jedoch nicht ganz. Historisch belegt sind Juden- und Christenverfolgungen a) unter dem fatimidischen und als wahnsinnig geltenden Kalifen Al-Hakim von 1004 bis zum Ende seiner Herrschaft 1021, b) auch gab es im Jahr 1066 eine Judenverfolgung in Granada, die einzige gezielt antijüdische Ausschreitung im islamischen Mittelalter, und c) schließlich die Verfolgung von Juden und Christen in Nordafrika und Spanien durch die berberischen Almohaden Mitte der 1140er Jahre und 1172 im Jemen durch muslimische Freischärler, jedes Mal mit dem Ziel die Anhänger früherer Offenbarungen zur Konvertierung zu zwingen.
Diese Verfolgungen stellten in jedem dieser Fälle Ausnahmesituationen dar, die gegen das islamische Recht verstießen. Dies soll keine Verteidigung des Islam darstellen, sondern wurde von den Muslimen in den damaligen Zeiten tatsächlich so wahrgenommen. Nach Wiederherstellung der normalen Verhältnisse wurde es Juden und Christen gestattet, zu ihrer ursprünglichen Religion zurückzukehren. Der Sohn Al-Hakims und zugleich sein Nachfolger Al-Zahir beispielsweise ließ verkünden, dass die Zwangsbekehrungen, die unter seinem Vater stattfanden nicht mit dem Islam vereinbar seien. In allen Fällen von Verfolgung war die muslimische Seite dermaßen beschämt ihre vom islamischen Recht abgeleiteten Schutzgarantien nicht erfüllt zu haben, dass man der nichtmuslimischen Bevölkerung jeweils die jizya zurückzahlte.
So schreibt der Islamwissenschaftler Van Ess: „Pogrome waren verhältnismäßig selten, und man konnte sich nur schlecht bei ihnen im Recht fühlen. Denn sie waren ja nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch juristisch gesehen Unrecht; und da das Gesetz, gegen das man verstieß, ein göttliches war, waren sie auch Sünde.“ Dies mag wohl auch erklären, dass es in den jüdischen Schriften kaum klagende Erinnerungen an diese Zeiten der Verfolgungen gibt.
Phänomene wie charakteristische Kleidung, die Juden und Christen im Mittelalter zeitweilig auferlegt wurde – etwas, das sich nicht aus dem Qur’an ableiten lässt – und die wir heute allzu schnell anachronistisch als Diskriminierung verurteilen, hatte in dem damaligen historischen Kontext einer religiös facettenreichen Gesellschaft den Hintergrund, die Gemeinden unzweideutig voneinander zu unterscheiden, um zum einen die Hierarchie von Herrschenden und Beherrschten sichtbar zu machen und zum anderen auch ein Funktionieren des interethischen Umgangs zu gewährleisten. Van Ess erinnert auch daran, dass „Menschen sich durch ihre Kleidung unterscheiden, war im Mittelalter ein selbstverständlicher Gedanke; erst seit dem 19. Jahrhundert tragen wir alle einen schwarzen Anzug oder kleiden uns alle in Jeans.“
III Die Wende: Der islamisch verbrämte Antisemitismus als ein Phänomen der Moderne
Nebeneinander und manchmal sogar Miteinander bezeichnet werden kann, wie konnte es dann aber zur Entwicklung einer Judenfeindlichkeit kommen? Das Verhältnis zum Judentum begann sich erst ab dem 19. Jahrhundert zu verändern. Auf muslimischer Seite verlor man das Bewusstsein für eine Unterscheidung zwischen dem eigenen Wahrheitsanspruch und der Existenz mehrerer Heilswege als Ausdruck von Gottes Barmherzigkeit. Damit verbunden fielen die Muslime hinter die islamische Toleranzkonzeption des Mittelalters zurück, statt sie notwendigerweise weiterzuentwickeln. Hinzu kamen der schwelende Palästinakonflikt und die Begegnung der Araber mit dem europäischen Antisemitismus.
Es waren arabische Christen, die als Erste europäische antisemitische Traktate ins Arabische übersetzten. Das erste Werk dieser Art, das die angeblichen Bekenntnisse eines zum Christentum konvertierten Rabbiners über die Grausamkeiten der jüdischen Religion beinhaltete, erschien 1869 in Beirut.
Die erste Übersetzung der Protokolle der Weisen von Zion wurde am 15. Januar 1926 in der Zeitschrift raqib sahyun (Beobachter Zions) veröffentlicht, die in Jerusalem von der römisch-katholischen Gemeinde herausgegeben wurde. Eine weitere Übersetzung aus dem Französischen, erneut angefertigt von einem arabischen Christen, erschien etwa zwei Jahre später in Buchform in Kairo. Eine Übersetzung aus dem Englischen, erstmals aus muslimischer Feder, erfolgte dann 1951. Bald schon stand dem arabischen Leser eine Flut antisemitischer Lektüre zur Verfügung, die ausnahmslos christlichen, europäischen und amerikanischen Ursprungs waren.
In dieser ersten Phase wurden antisemitische Anklagen einfach wiederholt – allerdings unter Ausschluss des Rassengedankens und der säkular-messianischen Vorstellung einer Endlösung, wie es der Antisemitismus der Nazis kannte. Dadurch, dass Juden zu den Leuten der Schrift gehören und somit eine von Gott anerkannte Gemeinschaft sind, kann der islamisch verbrämte Antisemitismus den Gedanken einer Endlösung überhaupt nicht aufnehmen und integrieren. Islamische Antisemiten wollen den Staat Israel auslöschen, nicht aber das jüdische Volk. Die Muslime wurden also mit dem Bild des Juden als Freimaurer, als Großkapitalist, als Kommunist, als Umstürzler und als Verschwörer mit dem Ziel der Weltherrschaft vertraut gemacht. Diese Bilder dienten dann als eine plausible Erklärung, weshalb der israelische Staat im ersten israelisch-arabischen Krieg den Sieg davontrug und weshalb die Zionisten die Unterstützung der jeweils führenden Macht – zuerst Großbritannien, dann die USA – erlangen konnten.
In einer zweiten Phase wurden diese Vorstellungen verinnerlicht, assimiliert und islamisiert. Dieser islamisch verbrämte Antisemitismus zieht sich durch die meisten Werke des Muslimbruders Sayyid Qutb (gest. 1966) und erhält durch seine sechsbändige Exegese des Qur’an fi zilal al-Qur’an (Im Schatten des Qur’an) eine "heilige" Legitimation. Nach Qutb beginnt die Feindschaft zwischen Juden und Muslimen mit der Auflehnung Erster gegen den Propheten Muhammad in Medina.
Seit die Juden militärisch geschlagen wurden, seien sie ununterbrochen bemüht, aus dem Schatten heraus, mit ihren Eigenschaften der List und der Verschlagenheit den Islam zu zerstören. So stehe hinter den christlichen Kreuzzügen, die mit dem europäischen Kolonialismus ihre Fortsetzung fänden, und dem Kommunismus, der nach Qutb eine jüdische Erfindung ist, das Weltjudentum. Ziel der Juden sei die Weltherrschaft, an deren Ende nur das Judentum selbst überleben solle. Der Kampf gegen die Juden sei daher zum Wohle der gesamten Menschheit. Eine Differenzierung der Juden von damals und heute sei nicht nötig, da die jüdische Psyche und Verhaltensweise in jeder Generation gleich bleibe. Als Widerpart zum "verschwörerischen Judentums" definierte man sich nun selbst und fand in den wirren Verschwörungstheorien eine Kompensation und einleuchtende Begründung für die Verlorenheit in der vom Westen diktierten Moderne.
Es kommt hier also zu einer radikalen Neudeutung der islamisch-jüdischen Geschichte, aufgeworfen von einem in den islamischen Wissenschaften nicht ausgebildeten Laien, die später bedauerlicherweise aber auch in wissenschaftlichen Kreisen übernommen wird. Denn Qutb und jene, die sich ihm anschlossen, dienen antisemitischen Verschwörungstheorien im islamischen Gewand zur hinreichenden Welterklärung für den Niedergang der Muslime. Das Bündnis der Juden mit den anderen Feinden des Islam, nach Qutbs Weltanschauung waren dies die Christen, sei daher eine Selbstverständlichkeit. Eindringlich warnt Qutb seine Leser, dass niemand sich täuschen lassen solle, es handle sich bei den Konflikten der Gegenwart um politische oder wirtschaftliche Auseinandersetzungen. Als naive und verwirrte Muslime verhöhnt er jene, die nicht sehen könnten, dass der Konflikt zwischen der jüdisch-christlichen und der muslimischen Welt ein religiöser und ideologischer sei. Nach Benz ist die zentrale Botschaft von Verschwörungstheorien stets die angebliche Feindschaft einer Minderheit gegen die Mehrheit. Auch bei Qutb wird aus der zahlenmäßig bedeutend kleineren jüdischen Religionsgemeinschaft ein monolithischer globaler Weltverschwörer. Gänzlich unreflektiert greift Qutb politische Schlagwörter seiner Zeit auf, wenn er vom Weltzionismus, von den kreuzfahrenden Kirchen und dem Weltkommunismus schreibt, die gemeinsam den Islam bekämpfen. Qutbs geschlossenes Feindbild "des" Juden, das von einer konstitutionellen Schlechtigkeit aller Juden ausgeht, erfährt auch keine Veränderung durch die positiven jüdischen Gestalten des Qur’an, wie z. B. den Herrscher Saul, den Propheten-Königen David und Salomon und schließlich den Propheten Jesu. Stattdessen werden Fehlverhalten von Juden überbetont und dienen dazu, die Unveränderbarkeit des jüdischen Charakters zu belegen.
Der jüdische Gelehrte Moses Mendelsohn (gest. 1786) hatte einst prägnant festgehalten, dass Antisemiten den jetzt lebenden Juden die Fehler ihrer Vorfahren vorhalten, „ohne zu bedenken, dass aller der gerügten Untugenden ungeachtet, der gesetzgebende Gott unserer Väter (…) es gleichwohl möglich gefunden, diesen rohen Haufen zu einer ordentlichen, blühenden Nation umzubilden, die erhabene Gesetze und Verfassung, weise Regenten, Feldherren, Richter und glückliche Bürger aufzuweisen hat“ .
Es ist also wichtig festzuhalten, dass diese Form des Antisemitismus nicht im Islam selbst wurzelt, sondern gänzlich ein Produkt unserer Zeit ist – deshalb auch die Benennung als islamisch verbrämten Antisemitismus. Er ist ein Unwesen, von dem wir uns mittels eines theologischen und geschichtlichen Diskurses entledigen können und müssen, wenn Muslime ihren Idealen noch folgen wollen.
Wenn wir uns aber nur noch in Abgrenzung zu Anderen verstehen können, wenn wir Rachegefühlen erliegen, um uns besser zu fühlen, und wenn wir auf diesem Götzenaltar unsere Ideale und Werte opfern, verlieren wir uns dann nicht selbst? Aber wozu werden wir dann noch gebraucht?
Literatur, Quellen und Autorenschaft
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Murtaza, Muhammad Sameer (2012): Islamische Philosophie und die Gegenwartsprobleme der Muslime. Reflexionen zu dem Philosophen Jamal Al-Din Al-Afghani. Tübingen.
Murtaza, Muhammad Sameer (2012): Jenseits von Eden. Was die Anschläge von Toulouse bedeuten und vor welche Herausforderungen sie die muslimische Community stellen. Internet: http://islam.de/20027 (24.02.2013).
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Muhammad Sameer Murtaza M.A. ist Islamwissenschaftler bei der Stiftung Weltethos (http://www.weltethos.de/). Seit 2010 setzt er sich mit der Vortragsreihe Gemeinsames Kernethos von Judentum und Islam für ein besseres Verständnis zwischen den beiden Religionen ein. Zuletzt veröffentlichte er das Buch Islamische Philosophie und die Gegenwartsprobleme der Muslime. Reflexionen zu dem Philosophen Jamal Al-Din Al-Afghani.
Dieser Beitrag wurde ursprünglich vom Verfasser als Vortrag gehalten an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf im Rahmen der Veranstaltung Muslime im Focus – Bestimmen die Medien unser Menschenbild?
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