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Samstag, 18.07.2009 | Drucken |
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Ehemann von Marwa: "Vielleicht hatten wir nicht genug Angst gehabt" - Kommentar von Aiman A. Mazyek
Neuer Fall in der Bonner U-Bahn - Wo ist der Aufschrei von Neclar Kelek geblieben? - Sprach der Kopftuchmörder etwa das aus, was nicht wenige in unserem Land denken? Hier können Sie Elwi Ali Okaz schreiben
„Vielleicht hatten wir nicht genug Angst gehabt“, sagte Elwi Ali Okaz und fing wieder an zu weinen. Ayyub Köhler und ich saßen am Tag der Trauerfeier in Dresden am Krankenbett dieses Mannes, der so viel Leid in den letzten Tagen hat erfahren müssen und dem zwei seiner engsten Familienangehörigen ermodert worden sind: Seine Frau Marwa und sein noch nicht geborenes Kind im Bauch der Mutter.
Elwi Ali Okaz kann nicht richtig atmen, seinen Brustkorb nicht richtig bewegen wegen der beinah tödlichen Messerstiche, die der Mörder von Marwa ihm am Hals und Brustbein versetzte. Besorgt schaut sein Bruder, der neben uns stand, mir in die Augen mit einem verzweifelt fragenden Blick: Was hat er Deutschland angetan, dass er nun so was erleben musste? In der muslimischen Gemeinschaft gibt es kaum ein anderes Thema, das die Menschen so tief aufwühlt, polarisiert und ebenso stark verunsichert wie der Mord an Marwa.
Elwi geht es sehr schlecht, er hat auch noch Schmerzen wegen des Beinschusses durch den Polizisten. Er ist traumatisiert, hat jeden Tag Angst um sein Kind, fürchtet, dass der Mörder nicht seine gerechte Strafe erhält und irgendwann wieder auftaucht.
Elwi Ali Okaz braucht unsere Solidarität, deshalb schreibt ihm - wir werden ihm Eure Briefe übergeben
An dieser Stelle bitte ich unserer Leserschaft, die ihm und seiner Familie dankenswerterweise in den letzten Tagen hunderte Kondolenz- und Solidaritätsbriefe zugesandt haben (siehe Kondolenzbuch), unseren Bruder Elwi nun gezielt aufzumuntern und stärkende und hoffnungsvolle persönliche Worte an ihn zu richten. Ich verspreche so Gott will, dass ich ihm alle Eure Briefe und Mails beim nächsten Besuch in Eurem Namen überreichen werde. Es wird ihm sicherlich sehr gut tun, so viel Solidarität und Anteilnahme von Ihnen und Euch zu erfahren.
Vielleicht hatten wir nicht genug Angst gehabt - ich werde diesen Satz nicht vergessen. Der Satz beschreibt die ganze Ambivalenz des Schreckens.
„Marwa war nicht vollends in Deutschland sozialisiert, denn sonst hätte sie es erst gar nicht versucht, den beschwerlichen Weg des Gerichtes zu gehen“, sagte eine Frau des Kölner muslimischen Frauenzentrums, das ich vor einigen Tagen besuchte. Kaum zu glauben, so etwas von einer emanzipierten, studierten deutschen Muslima zu hören; sie hat wieder gelernt sich zu ducken, denn sie weiß am Ende wird es zynisch heißen: „Warum müsst ihr auch diesen Schleier tragen, selbst Schuld“.
Marwa ist gestorben für unser deutsches Recht und für unsere Freiheit in unserem Land. Sie duldete die Angriffe des NPD-Symphatisanten und Täters nicht und rief unseren Rechtsstaat, unsere Gerichte an: Ein vorbildlicher Akt der Zivilcourage. Sie ist auf diesem Weg – noch dazu im Gericht - ermordet worden. Was für eine grauenhafte Symbolik.
Rechtsradikale Übergriffe auf Muslime und Moscheen in den letzten Jahren sprechen eine eindeutige Sprache
Wer allein die Straftaten Rechtsradikaler in den letzen Jahre gegen Muslime zählt, zusätzlich die Moscheeanschläge berücksichtigt, wird erkennen: wir müssen alle was gegen diese Islamfeindlichkeit in unserem Land tun.
An dieser Stelle sei an die klaren und eindeutigen Aussagen des Generalsekretärs des Zentralrates der Juden Stephan Kramer zu diesem Thema dankenswerter Weise erinnert.
Neuer Fall: Tatort Bonner U-Bahn
Muslimische Frauenrechtlerinnen erzählten mir von dem täglichen Alltagsrassismus, dem sie in deutschen U-Bahnen, Straßen und öffentlichen Einrichtungen ausgesetzt sind; sie berichteten von verächtlichen Blicken, den ständigen Pöbeleien bis hin zu Tätlichkeiten, wie zuletzt vor einigen Tagen in Bonn geschehen: Eine schwangere, deutsche Muslima wurde in einer U-Bahn von einem Mann aufgefordert den Platz zu verlassen, da dies „nur Plätze für Arier seien“. Als die Muslima ironisch erwiderte, dass sie doch auch Arier sei, wurde er daraufhin handgreiflich. Nur das beherzte Eingreifen eines Marokkaners konnte danach Schlimmeres verhindern. Über die herkömmlichen Medien erfuhren wir darüber nichts, und doch ist es aber passiert.
Kaum einer schreibt davon, keinen scheint dies zu interessieren. Ich frage mich, wo sind unsere bekannten Frauenrechtlerinnen, wenn wieder eine muslimische Frau diskriminiert, angegriffen oder beleidigt wird?
Wo ist die Frauenverteitigerin Neclar Kelek geblieben, die sich die „Rettung“ der muslimischen Frauen auf die Fahne geschrieben hat und die stets im Namen dieser Frauen vorgibt zu sprechen? Wo sind ihre Worte der Anteilnahme, der Solidarität und des Mitgefühls? Ich habe nichts von davon gehört – kein einziges Wort.
Willkommenheißen unserer muslimischen Frauen in die Mitte der Gesellschaft sieht anders aus. Werden wir so zukünftig die Besten der Besten nach Deutschland locken, damit sie an Instituten, wie das des Max-Plancks z.B., arbeiten werden? So wie Okaz, der vor der Bluttat seine Doktorarbeit in eben diesem Insitut abschloss? Wohl kaum. Auch darüber möge Frau Kelek zukünftig berichten. Sie sollte darüber schreiben, dass es atmosphärisch sehr wohl einen Zusammenhang gibt zwischen der mutwillig erzeugten Hysterie der Kopftuchverbotsdebatten und der Frauen- und Islamverachtung des Kopftuchmörders von Dresden.
Renommierte Wissenschaftler beschreiben schon lange islamophobe Geschwüre in unserer Gesellschaft
In dem besagten muslimischen Frauenzentrum in Köln erzählte mir eine Frau von ihrer Erfahrung aus den USA. Nach einem Dreiwochenaufenthalt erfuhr sie zum ersten Mal, was es heißt, wenn Menschen auf der Straße sie anlächelten. Sie war glücklich, diese Erfahrung einmal gemacht zu haben. Denn hierzulande gilt inzwischen für die muslimischen Frauen: ja nicht auffallen, mit Tunnelblick durch die Strassen gehen, ja nicht anecken und wenn möglich alles mit dem Auto erledigen.
„Islamistin, Terroristin und Schlampe“ - Alex W. hat das ausgesprochen, was nicht wenige in unserem Land denken aber (noch nicht) nicht wagen laut zu sagen, wenn sie Muslime auf der Straße sehen. Wer verstehen will, warum es zu dieser schrecklichen Tat gekommen ist, darf den Blick für solche bitteren Wahrheiten nicht verschließen.
Prof. Heitmeyer belegt mit seinen seit Jahren bekannten Studien die latente Islamfeindlichkeit, so auch der Leiter vom Institut für Menschenrechte Prof. Bielefeldt oder das bekannte und renommierte Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. Warum blenden wir diese Erkenntnisse, dies Wahrheiten aus der Forschungsarbeit wichtiger Institutionen mit hoher Reputation aus? Warum hat Jürgen Micksch vom Interkulturellen Rat geradezu eine Lawine geballter Ablehnung und Hassmails erhalten, nachdem er vor einigen Monaten offen aussprach, was die Wissenschaft schon seit Jahren konstatiert: Islamophobie gehört zu den am schnellsten wachsenden Rassismus in Deutschland.
Islamverachtende Hasstiraden lesen wir aber durchaus offen ausgetragen in den einschlägig bekannten Websites im Internet. Die gleichen Autoren sind es, die dann selbige Texte als Kommentare getarnt in den Leserbriefseiten oder Artikelreaktionen der Mainstream-Zeitungen posten. Es sind auch dieselben Hassmails, die uns auf islam.de täglich erreichen. Die Extremisten machen sich nicht mal die Mühe, sie umzuschreiben. Kaum jemand – bis auf Ausnahmen (Sabine Schiffer u.a.) untersucht das. Manchmal, wenn es ganz übel wird, schließt man dann den Kommentarbereich – wie vor einiger Zeit auf den Seiten der WELT geschehen – weil selbst dem Hartgesottenen beim Anblick des rassistischen Abfallhaufens, der da in die virtuelle Welt tagtäglich abgeladen wird, speiübel wird.
Eine „virtuelle“ Welt wohlgemerkt, der es an Vollstrecker in der wirklichen Welt nicht fehlt. Und damit wird auch eine Tat bis hin zum Mord in Dresden real.
Was bleibt nach Dresden: Abgründe und Lichtblicke
Ich habe in den letzten Wochen Abgründe und Lichtblicke meiner Gesellschaft gesehen.
Habe gesehen, wie Menschen des öffentlichen Lebens ohne Rücksicht auf Ansehen und politischer Gesinnung Menschlichkeit, Mitgefühl und damit Größe gezeigt haben. Ich habe auch mitansehen müssen, wie manch Politiker erst durch äußeren Druck öffentliche Anteilnahme gezeigt hat. Habe gesehen, wie Dresdnerinnen und Dresdner in einer Trauerfeier (siehe unterer link zur Trauerfeier)vereint für mehr Menschlichkeit und gegen Menschenverachtung auf die Straße gingen – das waren gute, hoffnungsvolle Zeichen.
Auf dem Weg zum Krankenhaus, als wir vorletzten Montag Elwi Ali Okaz besuchten, sagte mir Stephan Kramer mit sorgenvoller Mine, wie gleichgültig doch einige in unserer Gesellschaft sind, angesichts des Grauens, was sich im Gericht in Dresden abspielte. Eine bittere Wahrheit, die doch insbesondere deutsche Juden geradezu seismographisch zu erfassen im Stande sind. Letzteres alleine reicht doch schon als Mahnung, oder nicht?
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