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Montag, 17.03.2008 | Drucken |
Üben für den Konfliktfall - Der Innennminister sorgt sich um die komplexe Struktur der Sicherheit. Von Abu Bakr Andreas Rieger
Der 11. September gilt in diesem Jahrhundert praktisch als der "Konfliktfall" schlechthin. Der asymmetrische Terror hat eine stürmische Debatte ausgelöst, wie weit der vom Terror bedrohte Rechtsstaat im Extremfall gehen kann und darf. "Der Terror setzt die berechenbaren Maßstäbe des bürgerlichen Lebens außer Kraft, verbreitet Angst und Misstrauen, weil er jederzeit und überall zuschlagen kann und jeder Bürger potentiell Terrorist sein könnte", schreibt der Kölner Rechtswissenschaftler Otto Depenheuer in seinem Buch “Die Selbstbehauptung des Rechtsstaates” über die eigenartige Normalität des Ausnahmefalls.
Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Innenminister eines großen Industrielandes sich im besonderen Maße über die neue Lage sorgen muss. Bundesinnenminister Schäuble tut dies, und es hat den Anschein, dass sich der Minister dabei zunehmend stärker am möglichen Ausnahmefall als am alltäglichen Normalfall orientiert. Schäuble empfiehlt öffentlich die Lektüre des umstrittenen Depenheuers. Depenheuer fordert nicht nur einen gesteigerten Selbstbehauptungsswillen, sondern stellt fest, dass aus seiner Sicht “das Grundgesetz für den terroristischen Ernstfall nicht vorbereitet ist”. Der Staatsrechtler will (möglichen) Terroristen nur noch das „nackte Leben“ zubilligen und sie mit Hilfe eines rechtsfreien „Feindstrafrechts" bekämpfen. Das Lager im Rechtsstaat wird so zur denkbaren Größe.
Auch für Schäuble wirft in erster Linie die Möglichkeit verheerender terroristischer Anschläge neue und leider auch alte Sicherheitsfragen auf. Schon die in Deutschland lange Zeit undenkbare Frage nach einer "gefahrenabwehrenden Internierung" - von Depenheuer als eine nötige Maßnahme angesehen - deutet den Ernst der Lage an. Im Konfliktfall könnte aus diesem Punkt schnell ein Ruf nach einem Vollzug hin zu einem autoritären Staat werden. Fakt ist: Der moderne Staat, vor allem wenn er sich in seiner Substanz bedroht fühlt, kann sich durchaus und ohne große Vorwarnzeit mit archaischen Fragestellungen jenseits des gewohnten Rechts konfrontiert sehen.
Davon zeugen auch die Erfahrungen der Bundesrepublik mit dem deutschen Links-Terrorismus. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) soll beispielsweise 1977 während der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer von deutschen Politikern massiv gedrängt worden sein, RAF-Häftlinge erschießen zu lassen.
In einem Gespräch mit dem französischen Präsidenten Valéry Giscard d'Estaing sagte Schmidt demnach, von ihm werde "von allen Seiten, sogar von Politikern verlangt, Geiselerschießungen an den inhaftierten Terroristen vorzunehmen". Er stehe unter starkem Druck überwiegend seitens der Opposition, aber auch aus dem eigenen Lager und aus weiten Kreisen parteipolitisch nicht gebundener Bürger. Er wolle jedoch die Verfassung und die Rechtsordnung strikt einhalten, wird Schmidt weiter zitiert. Schleyer war am 5. September 1977 von der RAF entführt worden, am 18. Oktober wurde er von den Terroristen ermordet.
Nach dem Soziologen Niklas Luhmann offenbart der Konfliktfall die wahre Grundstruktur der Gesellschaft: Die gesellschaftlichen Sytseme - so Luhmann - tendieren im Ernstfall dazu, "alle Ressourcen im Blick auf Sieg oder Niederlage auf einen Konflikt zu konzentrieren". Mit anderen Worten: Es wird im Konfiktfall weniger differenziert als vielmehr mobilisiert.
Der Politiker steht schon heute, in relativ geruhsamen Zeiten, vor einem altbekannten Dilemma: Er muss einerseits die Aufmerksamkeit der Massen mit möglichst einfachen Worten gegen den “Feind” mobilisieren und andererseits eine Debatte moderieren, die den gewünschten Friedensfall im Auge behält und im Interesse eines gesellschaftlichen Friedensschlusses differenziert. Ohne dieses Differenzierungsvermögen droht in der offenen Gesellschaft ein Vorwurf, wie ihn neulich der Verfassungsrichter Di Fabio formulierte. Di Fabio warf den "Sicherheitsapologeten in Berlin" vor, ihre Sprache und Terminologie erinnere "nicht zufällig an den scharfsinnigen Geisterverwirrer Carl Schmitt". Schmitt gilt als Begründer einer verfassungsrechtlichen Lehre, die ihre Überzeugungen aus dem Wesen des Ausnahmezustandes ableitet. In Depenheuers “Selbstbehauptungswille des Rechtsstaates” wird Schmitt immer wieder zitiert.
Das geschilderte Dilemma kann man auch bei Innenminister Schäuble gut beobachten. Seine Partei und er versuchen nicht nur, dem Konservativen im Zeitalter der Globalisierung einen neuen Sinn zu geben, sondern auch der Bevölkerung den Eindruck zu vermitteln, dass die Politik auf die neuesten Herausforderungen nicht nur reagiere, sondern auch agiere. Immer wieder geht es dabei um den Islam in Deutschland. Schäuble beherrscht die verschiedenen rhetorischen Notwendigkeiten wie kein anderer. Zwischen Interviews, Parteitagen und Stammtischen ist Schäuble immer wieder zur "Ausdifferenzierung" fähig.
Sein Redebeitrag auf einer Fachtagung in Berlin, "Das Islambild in Deutschland: Neue Stereotype, alte Feindbilder?", grenzt sich - zumindest in der friedlichen Atmosphäre eines Fachgespräches - dann auch von einer groben Freund-Feind Logik ab:
"Fanatischer Islamismus und Terrorismus, der sich den Islam auf die Fahnen schreibt, sind eine reale Bedrohung - auch in Deutschland. Jedoch wird oft zu wenig wahrgenommen, dass sich diese Bedrohung gegen alle hier lebenden Menschen, also auch gegen alle Muslime, richtet. Und es ist auch wahr, dass die übergroße Mehrheit der Muslime in unserem Land - weit über 90 Prozent - friedlich und rechtschaffend ihrer Wege geht."
Tatsächlich warnt Schäuble in der Debatte über die Integration von Muslimen in Deutschland, zuviel Furcht zu schüren. „Der Islam ist längst ein Teil unseres Landes“, sagte Schäuble der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Seine viel gelobte Islamkonferenz gilt als der Versuch mit einigen Repräsentanten des politischen Islams Frieden zu schließen und diese Organisationen stärker in das innenpolitische Regelwerk einzubinden. Hier geht es trotz aller Widrigkeiten langsam voran. Immerhin, es ist offensichtlich unter der Regie der großen Koalition und unter der Schirmherrschaft Schäubles für einen Türken leichter geworden, anerkanntes Mitglied der Bundesrepublik zu werden, als für einen Deutschen Mitglied bei Milli Görüs oder DITIB.
Natürlich verläuft die publikumswirksame Debatte dennoch zumeist unter dem Eindruck der gefährlichen Planspiele muslimischer Extremisten. Die Existenz gefährlicher Muslime ist keine Fiktion eines Innenministers, aber es gibt auch wachsende Zweifel, ob es wirklich der Islam ist, der die Sicherheit der Demokratien auf Dauer gefährden wird. Eine globale Studie des amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Gallup mit dem Titel „Wer spricht für den Islam? - Was eine Milliarde Muslime wirklich denken“ gibt hier im globalen Maßstab zu denken. Das Institut befragte in den letzten sechs Jahren 50.000 Muslime in 35 muslimischen Ländern. Zwar müssten, so Gallup, sieben Prozent der Muslime als „politisch radikalisiert“ eingestuft werden - das sind weltweit immerhin 91 Millionen Menschen. Die überwiegende Mehrheit von 93 Prozent sei dagegen „politisch moderat“. Der absoluten Mehrheit der Muslime ist die nihilistische Grundstruktur des modernen Terrorsimus völlig klar.
Der Terrorismus hat und hatte immer auch die Funktion, den Staaten eine Vorlage für den Ausbau ihrer vernetzten Sicherheitsstrukturen zu geben. Die andauernde Reflexion auf einen möglichen Angriff lässt dabei auch den Ausnahmezustand wieder als reale Möglichkeit erscheinen. Schäubles beschriebene Fähigkeit zur differenzierenden Sichtweise geht mit der Möglichkeit, auch ein “Guantanamo auf Sylt” anzudenken, wenn auch nur als Provokation und Zuspitzung, einher. Unheimlich wird es dabei nicht etwa, weil man Schäuble ernsthaft unterstellen könnte, er habe autoritäre Tendenzen, sondern eher, weil man befürchten muss, der neue monströse Sicherheitsstaat könnte auch Schäuble oder auch seinen künftigen Nachfolgern in seiner Struktur leicht entgleiten.
Die Zukunftsfrage wird es sein, wie sich der moderne Staat und die neu entstehende, teilweise privatisierte Sicherheitsindustrie in der konkreten Situation neuer, noch unabsehbarer Konfliktfälle verhalten wird. Es ist dabei mehr als fraglich, ob die alte Gleichung "Sicherheit durch den Staat" und "Sicherheit vor dem Staat" stabil bleiben wird.
Nebenbei erwähnt ist es auch naiv zu glauben, der moderne Staat rüste sich im Übrigen nur gegen die Untaten einer handvoll Terroristen oder umstürzlerischen "Islamisten". Die Sicherheitsfrage, das weiß auch Schäuble, hat heute längst eine weitaus komplexere Struktur. Der Staat fürchtet sich nicht nur vor den Horden der Islamisten, auch wenn sich unter dem Eindruck dieses Feindbildes diverse Sicherheitsgesetze am Besten verkaufen lassen. sondern auch zunehmend vor einer Gesellschaft, die augenscheinlich neue extreme Lager ausformt.
Die Bankenkrise der letzten Jahre weckt ungute Erinnerungen an die zerstörerische Kraft von Finanzkrisen. Die Mittelschicht im von ökonomischen Erfolgen verwöhnten Deutschland ist nach einem Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in den vergangenen Jahren beinahe dramatisch geschrumpft. Demnach ist der Anteil der Bevölkerung, der über ein Einkommen in der Nähe des statistischen Mittels verfügt, in den vergangenen sieben Jahren von 62,3 Prozent auf 54,1 Prozent gesunken.
Spiegelbildlich dazu sei der Anteil der Deutschen mit extrem niedrigen oder extrem hohen Einkommen gestiegen. So habe sich der Anteil der Niedrigverdiener seit dem Jahr 2000 von knapp 18,9 Prozent auf 25,4 Prozent erhöht, heißt es. Der Anteil der Spitzenverdiener sei im selben Zeitraum von 18,8 Prozent auf 20,5 Prozent angewachsen. Somit seien in den vergangenen sieben Jahren fast fünf Millionen Deutsche aus der Mittelschicht in die Randzonen der Einkommensverteilung abgewandert.
Dieser Verlust der berühmten Mitte, die bei jedem CDU-Parteitag, an dem der Innenminister teilnimmt, beinahe verzweifelt angerufen wird, ist nach Meinung der Wirtschaftsforscher irreversibel im schnellen Abbau. Das Auseinanderdriften der Gesellschaft schafft neue Konfliktfelder. Für die Demokratie und ihre Sicherheitssrukturen entstehen neue Szenarien, unter anderem eine wachsende, politisch unberechenbare Unterschicht, neue Heerscharen von Arbeitslosen und Globalisierungsverlierer, die künftig ihren Unmut in gewalttätigen Streiks auswüten, sich extremen Parteien anschließen oder aber einfach das Sozialsystem ausbeuten könnten.
Aber auch eine neue Schicht der Reichen gefährdet den sozialen Konsens, entzieht sich der Steuerpflicht oder könnte gar in einer Spielart des modernen Staatsstreiches die Schlüsselindustrien, der für die moderne Demokratie entscheidenden Meinungsindustrie übernehmen. Diese neuen Feinde der Demokratie, die gleichzeitig auch Wähler sind, lassen sich allerdings im Vergleich zur konsensfähigen Gegnerschaft gegenüber fanatischen "Islamisten" weitaus weniger geräuschlos anprangern.
“Zerstört der Superkapitalismus die Demokratie?", fragt das "Manager-Magazin" in seiner neuesten Ausgabe. Solche Fragen waren in Deutschland noch unlängst obskuren Verschwörungstheoretikern vorbehalten. Die Analyse des Magazins von der Globalisierung ist so schonungslos wie bedenklich. “Das Ansehen der Demokratie schwindet rapide”, heißt es in dem Artikel, und eine Statistik weist nach, dass nur noch eine Minderheit in der Bundesrepublik den wichtigsten Insitutionen des Staates vertraut. Im Sog des globalen Kapitalismus wachsen gleichzeitig die 10 größten Staatsfonds der Welt. Dabei, so die zerknirschte Feststellung, kommt nur einer dieser mächtigen Fonds aus einem demokratischen Land.
“Die Fronten”, so fassen die "Manager"-Redakteure schlussendlich zusammen, “verlaufen nicht zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Diesmal geht es um zwei Spielarten des Kapitalismus - um die demokratisch-freiheitliche versus die autoritär-staatskapitalistische Variante”. Dieser eigentliche Konfliktfall im System der modernen Staaten ist noch nicht ausgestanden.
(Erstveröffentlichung in der Islamischen Zeitung vom 05.03.08)
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