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Dienstag, 11.04.2006 | Drucken |
Freiheit und Religion – eine notwendige Aufgabe! Aufruf der Aktionsgemeinschaft „Christlich-islamische Friedensarbeit in Deutschland“
Der jüngste Konflikt zwischen dem „Westen“ und der „islamischen Welt“, zum globalen Feuerbrand eskaliert, hat sich oberflächlich etwas beruhigt. Dass die Veröffentlichung einiger Karikaturen des Propheten Mohammed einen solchen Sturm auslösen konnte, ist nur so begreiflich, dass hier – ob aus böser Absicht oder aus Dummheit – die zündende Lunte an eine komplexe und explosive Gesamtsituation gelegt wurde, in der höchst spannungsvolle Sachverhalte wirksam sind und lang aufgestaute Kräfte sich Luft verschaffen.
Wer den Konflikt entspannen und Brücken bauen will, um eine Besserung der Lage zu erreichen und den gefährdeten Frieden zu retten, muss diese tiefer liegenden Wurzeln aufdecken und die eigentlichen Gründe der Konfrontation bearbeiten. Dies ist eine Aufgabe, die erst noch vor uns liegt und lange Zeit alle Kräfte guten Willens in Anspruch nehmen wird. Doch mag jetzt, nachdem alle Seiten ihre Argumente teils mit zögernder Vernunft teils mit schriller Gewalt ins Feld geführt haben, ein Anfang dafür möglich sein. Wir dürfen nicht länger warten. Deshalb wollen wir einen Beitrag leisten zu dieser notwendigen Arbeit an den tiefen und langfristig wirksamen Gründen der gegenwärtigen Krise. Wir – das sind Muslime und Christen, die sich für den gesellschaftlichen Frieden in unserem Land mit verantwortlich wissen und deshalb in dem Projekt „Christlich-islamische Friedensarbeit in Deutschland“ zusammenarbeiten.
Freiheit der Meinung und Freiheit der Religion
Nach der öffentlichen Wahrnehmung und Berichterstattung der westlichen Welt kommt in der heutigen Konfrontation ein fundamentaler Gegensatz zum Ausdruck: westliche Aufklärung und Demokratie, verkörpert im hohen Gut der Meinungs- und Pressefreiheit, wird bedroht vom reaktionären Islamismus, der eine Modernisierung nach westlichen Mustern ablehnt und statt dessen den rückwärts gewandten Weg über die Religion zu einer totalitären Ideologie einschlägt. So gesehen wären die Fronten klar und die Stellungnahme aus westlicher Sicht eindeutig.
Tatsächlich aber ist die Situation viel komplizierter! In Wahrheit stehen einander zwei gleich berechtigte, gleich ursprüngliche Menschenrechte entgegen: das Recht auf Freiheit der Meinung und das Recht auf Freiheit der Religion. Beide sind verwurzelt und begründet in dem einen Grundrecht der unantastbaren Menschenwürde. Nur wenn wir diese tiefe Spannung erkennen und anerkennen, kommen wir zum Kern des Konflikts. Das gilt es zu sehen, auch wenn es schwer fallen mag, in den provozierenden Publikationen eines kommerziellen Massenblatts noch das Recht auf Meinungsfreiheit oder in den Gewaltausbrüchen einer aufgehetzten Masse noch das Recht auf Religionsfreiheit auszumachen.
Religion ist nicht etwas Zusätzliches oder gar Zufälliges, was ein Mensch haben kann oder auch nicht, was aber sein Menschsein, seine Humanität nicht berührt. Zahllose Menschen in den säkularen Gesellschaften leben ohne Bezug auf eine religiöse Bindung und sehen sich als Menschen ohne Religion. Das ändert nichts daran, dass Religion für andere Menschen ihre Identität, ihren innersten Wesenskern ausmacht. Sie werden in ihrem Menschsein selbst angetastet, wenn die religiöse Wahrheit und Wirklichkeit, in der sie verwurzelt sind und aus der sie leben, angetastet oder zerstört wird. Es geht im aktuellen Konflikt deshalb nicht bloß um „religiöse Gefühle“, die „beleidigt“ wurden, sondern um die Identität und Würde von Menschen, also um den elementaren Kernbestand der Menschenrechte.
Es ist eine der folgenschwersten Fehl- und Verlustgeschichten, dass die westliche Gesellschaft im Zuge der Säkularisierung den Kampf um Modernisierung zum Kampf gegen die Religion erklärt hat. Je aufgeklärter, um so weniger Religion – das war die Parole wissenschaftsgläubiger Religionskritiker. So wurde „Religion“ zu einem modernisierungsfeindlichen Relikt der Sozial- und Kulturgeschichte gemacht. Wohl lassen sich in der europäischen Geschichte Gründe für diese Entwicklung finden. Erinnert sei an das Trauma der Religionskriege im 16. und 17. Jahrhundert, deren blutige Katastrophen die Trennung von Staat und Kirche erzwangen und erste Schritte zur Anerkennung der Gewissensfreiheit zur Folge hatten. Es ist eine der großen, unverzichtbaren Errungenschaften der Aufklärung, dass in der Religion Freiheit gelten muss und kein Zwang herrschen darf. Dieselbe Aufklärung hat jedoch mit Nachdruck daran festgehalten, dass das Wesen des Menschen, seine Humanität, nicht in diesseitigen, wissenschaftlich messbaren Kategorien aufgehe. Aufklärung ist nicht das Ende von Religion, Modernität kein Gegensatz dazu. Wo freilich die persönliche Freiheit zur individualistischen Beliebigkeit degradiert und die kritische Vernunft einem platten materiellen Nützlichkeitsdenken gewichen ist, kann auf Religion nur noch mit Unverständnis oder Provokation reagiert werden. Leider ist dieser traurige Zustand in weiten Teilen unserer Gesellschaft eingetreten.
Umgekehrt freilich gilt es, mit gleicher Entschiedenheit dem religiösen Fanatismus entgegen zu treten, wo er seine Grenzen überschreitet und das hohe Grundrecht der persönlichen Gewissensfreiheit in Frage stellt oder mit Gewalt verletzt. Es ist keine Frage, dass dies in manchen ideologisierten Erscheinungsformen des heutigen Islam (wie übrigens auch des Christentums) der Fall ist. Es ist auch keine Frage, dass die Gewaltausbrüche der letzten Wochen, in denen radikalisierte Menschen gegen westliche Einrichtungen wüteten, aufs schärfste zu verurteilen sind. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben, die über die Zukunftsfähigkeit von Religion überhaupt entscheidet, dass die religiösen Kräfte um ihrer eigenen Integrität und Wahrhaftigkeit willen mit aller Anstrengung solchen Tendenzen widerstehen und im Bund mit einer recht verstandenen kritischen Aufklärung der Würde, persönlichen Freiheit und Selbstbestimmung jedes Menschen zum Zuge verhelfen. Wir betonen diese Aufgabe ausdrücklich und machen sie uns zu eigen, gerade weil wir wissen, dass manche muslimischen Kreise dies heute anders sehen.
Freiheit der Religion und Freiheit der Meinung können in einer Spannung stehen, die nicht aufzulösen ist. Es gehört zur Kultur einer Gesellschaft, immer wieder eine Balance herzustellen, in der beide Aspekte menschlicher Freiheit zu ihrem Recht und zum Zuge kommen. In unserer westlichen Gesellschaft ist diese Balance verloren gegangen. Sie ist einseitig und exzessiv auf die Freiheit der persönlichen Meinung und Entscheidung fixiert, so als ob dies der letzte Wert und die höchste Erfüllung des Menschseins wäre. Das haben die Stellungnahmen der Medien, der Politik und Öffentlichkeit zum Karikaturenstreit zur Genüge gezeigt. Deshalb lautet die dringliche Aufgabe heute nicht, die angeblich bedrohte Meinungsfreiheit zu schützen oder durchzusetzen. Viel wichtiger ist es, der an den Rand gedrängten und desavouierten Religion wieder zu Würde und Freiheit zu verhelfen. Das ist weniger eine Sache der Gesetzgebung und Rechtsprechung als des gesellschaftlichen Diskurses über das Menschenbild und Selbstverständnis unserer Gesellschaft. Damit sollte auch deutlich sein, dass es nicht um die Legitimation von Fundamentalismen gehen kann. Zugleich weisen wir allerdings mit nachdrücklichem Protest darauf hin, dass in Teilen der islamischen Welt ein krasses Defizit an Gewissens- und Meinungsfreiheit herrscht. Der Missstand wird durch autoritäre Regime aufrecht erhalten und verstärkt, nährt sich aber auch aus religiösen Motiven, wie die schlimme Diskriminierung und Unterdrückung christlicher Minderheiten in vielen islamisch bestimmten Ländern zeigt.
Vielschichtige Gemengelage in der islamischen Welt
Der gewalttätige Ausbruch in der islamischen Welt wird vielfach damit erklärt, dass er durch interessierte Kreise geschürt und gelenkt worden sei: Terroristen im Umkreis der al-Qaida sowie autokratische Herrschercliquen seien die eigentlichen Drahtzieher. Eine solche Erklärung macht das „irrationale“ Geschehen für westliche Köpfe ein Stück weit rational verstehbar und ordnet es in die Logik ihrer Erfahrungs- und Denkkategorien ein.
Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, dass kollektive geschichtliche Erfahrungen und Prägungen über sehr lange Zeiträume wirksam sind und die Gefühle und das Verhalten späterer Generationen noch weit in die Zukunft bestimmen. Ein solcher Hassausbruch gegen den „Westen“ kann nur deshalb so leicht ausgelöst werden, weil ihm eine tief im geschichtlichen Bewusstsein der islamischen Welt liegende und von lang her wirksame Grundstimmung entspricht.
Der Westen muss endlich zur Kenntnis nehmen und sich ernsthaft darauf einstellen, dass die Traumata, Verletzungen und Demütigungsgefühle der Kolonialzeit in der islamischen Welt nach wie vor lebendig und gegenwärtig sind. Europa und der Westen bedeuten gefühlsmäßig nach wie vor: Kanonenboote, Unterwerfung und Ausbeutung. Sowohl die wirtschaftliche Dominanz wie auch die politische Unterstützung autokratischer Systeme zeigen den Westen in den Augen der muslimischen Bevölkerungen nicht als Botschafter der Moderne, sondern nach wie vor als Hegemonialmacht, der es nicht um Werte, sondern um Beherrschung geht. Das Unvermögen, gegen diese Übermacht anzukommen und an der Chancengleichheit und Freiheit des Westens partizipieren zu können, schafft ein Gefühl der eigenen Minderwertigkeit und Feindschaft gegen das Fremde, von Bewunderung und Verachtung, Neid und Hass, das den emotionalen Nährboden für unzählige Menschen in der orientalischen Welt bildet. Vor allem Jugendliche, die keine Perspektive für sich sehen, sind davon erfasst.
Von dieser elementaren Ausgangslage aus muss nun in der Tat auch auf die weiter gehenden Faktoren hingewiesen werden, die den aktuellen Konflikt ausgelöst haben und jederzeit zu ähnlichen Entwicklungen führen können. Für die autoritären Regime in vielen islamisch geprägten Staaten waren die Karikaturen ein Geschenk des Himmels. Sie konnten mit ihrer religiösen Konnotation ungebrochen eingesetzt werden, um die propagandistische und ideologische Konfrontation mit dem feindlichen Westen – USA, Israel, Europa – weiter anzuheizen und zugleich von den inneren Schwierigkeiten ihrer eigenen wirtschaftlichen und sozialen Situation abzulenken. Solang es ihnen gelingt, die religiösen Kräfte nach außen abzuleiten, bleiben diese beherrschbar. Die schlimmste Gefahr für die herrschenden Schichten wäre, wenn sich die Religion mit der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit verbinden und nach innen gegen die eigenen Machthaber richten würde. Die „Islamische Revolution“ Ajatollah Khomeinis hat gezeigt, welche sozialrevolutionäre Brisanz der Islam in sich tragen kann.
Der Westen macht es den Regimen in der islamischen Welt ebenso wie den Kräften, die hinter einem islamistisch gefärbten Terror stehen, allerdings leicht. Mit seinem Verhalten im „Krieg gegen den Terror“ – schon der Ausdruck ist das falsche Signal – , aber auch mit solchen leichtfertigen Kampagnen wie den Mohammed-Karikaturen bestätigt er immer wieder das Feindbild, das diese von ihm malen, und liefert neue kräftige Farben dafür. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen den Irak, Abu Ghraib, die Mauer in Palästina und ähnliche Erfahrungen diskreditieren das westliche Handeln im Großen, machen den Anspruch einer auf Demokratie, Menschenrechte und Freiheit gerichteten Politik unglaubwürdig und den Vorwurf der Doppelmoral einfach.
Entsprechendes geschieht im kleineren Maßstab, nicht so monströs, aber für die Betroffenen ebenso verletzend, wenn hierzulande Muslime mit diskriminierenden Einwanderungspraktiken traktiert oder einer inhumanen Flüchtlingspolitik ausgesetzt werden. Die derzeitige Diskussion um Voraussetzungen und Praxis der Einbürgerung wirkt auf Muslime als Botschaft der Ausgrenzung. Seien es die einander immer noch überbietenden Vorschläge in Baden-Württemberg, in Hessen oder den Niederlanden – die Botschaft scheint zu sein: wir wollen euch nicht! Diese Botschaft wirkt nicht nur auf potentielle Zuwanderer, sondern auf alle hier lebenden Muslime.
Muslime in Europa
Muslimische Verbände und Gemeinden in Europa und auch in Deutschland haben in den Krisen der jüngsten Zeit eine besonnene, dem Frieden förderliche Rolle gespielt. Ob es gewaltfreie Demonstrationen oder Friedensgebete von Muslimen und Christen waren, die politischen Appelle bei der Geiselnahme von Deutschen im Irak oder die Verurteilungen bei Terroranschlägen – die muslimische Stimme hat in der Öffentlichkeit an Gewicht gewonnen. Die muslimische Bevölkerung in unserem Land, so differenziert und plural sie in sich selbst ist, öffnet sich zunehmend dem gesellschaftlichen Diskurs. Dies sollte zunächst einmal allgemein zur Kenntnis und ernst genommen werden.
Heißt das, dass die muslimische Bevölkerung in Europa und Deutschland sich den modernen westlichen Werten und Regeln allmählich „anpasst“? Dass sie gleichsam „gezähmt“ ist, während sich anderswo die reaktionären Kräfte von Hass und Gewalt austoben? Erleben wir also endlich die ersten Früchte des seit langem geforderten „europäischen Islam“?
Die Antwort kann nur lauten: „Nein!“ – jedenfalls soweit es um die Verletzung der muslimischen Menschenwürde geht. Die Empörung über die Karikaturen und, mehr noch, über die darin zum Ausdruck kommende Arroganz und Missachtung ist bei den hier lebenden Muslimen um keinen Deut geringer. Sie empfinden im gleichen Maße die religiöse Diskriminierung, die in dem immer offener und inzwischen auch ganz offiziell gegen sie erhobenen Generalverdacht liegt, bloß weil sie der islamischen Religionsgemeinschaft zugehören. Muslime, die unter uns leben, empfinden genau so den eklatanten Widerspruch zwischen dem hohen Anspruch der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“, den Staat und Gesellschaft erheben, und den diskriminierenden und rassistischen Erfahrungen, denen sie täglich ausgesetzt sind.
„Nein“ lautet die Antwort allerdings auch noch in einem anderen Sinn. Die Rückbindung der muslimischen Bevölkerung an ihre Herkunftsländer ist nach wie vor sehr stark. Das gilt vielleicht nicht einmal so sehr in religiöser oder kultureller Hinsicht, wohl aber im nationalistischen Sinne. Die große türkische Mehrheit der in Deutschland lebenden muslimischen Bevölkerung ist Beispiel und Beweis dafür, wie jetzt etwa der riesige Erfolg des türkischen Films „Tal der Wölfe Irak“ demonstriert. Die deutsche Ausländer- und Migrantenpolitik hat sich in den letzten Jahren verstärkt zur Aufgabe der Integration bekannt. Wie kurz das Stück ist, das wir auf dem schwierigen Weg zur gelingenden Integration zurückgelegt haben, und wie lang die Strecke, die noch vor uns liegt, das zeigen die notwendigen Diskussionen zur Gleichberechtigung von Mann und Frau, zur Bildungs- und Chancengleichheit für Jugendliche und anderen fundamentalen Voraussetzungen gesellschaftlicher Offenheit. Klare Angebote, aber auch klare Regeln sind die Voraussetzung. Doch nur, wenn hinter diesen ein ernsthafter, aufrichtiger Wille zur gemeinsamen Zukunft erkennbar ist, können die Barrieren der Herkunft überwunden und traditionelle Bindungen verändert werden.
Dem gegenüber ist nun allerdings auch mit einem klaren „Ja“ auf die Frage nach einer „Europäisierung“ der hier lebenden Muslime zu antworten. Die Tatsache, dass die Proteste der vergangenen Wochen nicht in Gewalt endeten und Vertreter und Vertreterinnen der muslimischen Gemeinden und Verbände zur Besonnenheit aufriefen, hat durchaus mit den „europäischen“ Erfahrungen zu tun, die sie hier inzwischen gemacht haben. Das Grundrecht der Freiheit des Gewissens und der Meinung ist eben keine leere Fiktion, sondern ein offener Weg zur politischen Meinungsbildung, Äußerung und Teilhabe. Es bietet Möglichkeiten, sich persönlich und gemeinschaftlich zu äußern, Protest oder Zustimmung zum Ausdruck zu bringen, Rechte einzufordern und in Anspruch zu nehmen. In Europa lebende Muslime haben die Erfahrung gemacht, dass eine freiheitlich-demokratische Grundordnung eben auch ihre eigenen muslimischen Grundwerte garantieren kann. Gerade Muslime mit Migrationshintergrund, die aus Ländern mit autokratischen Regierungen kommen, schätzen diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und sind bereit, für deren Schutz einzutreten.
Es wäre katastrophal, wenn diese integrativen Ansätze unter der falschen Parole vom „Kampf der Kulturen“ zunichte gemacht würden. Im Gegenteil ist es die vordringliche Aufgabe aller auf Verständigung und Frieden gerichteten Kräfte, diese Entwicklung zu stärken und voran zu bringen. Eine erste Voraussetzung dafür ist, dass die Muslime als gleich berechtigte Partner anerkannt werden und der Diskurs mit ihnen „auf gleicher Augenhöhe“ geführt wird. Ethische Werte und religiöse Überzeugungen bedürfen in besonderer Weise einer offenen, gleich berechtigten Erörterung. Nur so können Freiheit und Toleranz als Grundlage unserer pluralen Gesellschaft gewährleistet bleiben. Und nur so kann Religion in ihrer legitimen Ausformung unterschieden und getrennt werden von missbräuchlichen Interessen und anderen, sekundären Elementen.
Die christlichen Kirchen
Im politischen Raum bildet sich trotz mancher Einwände eine Tendenz heraus, nach dem angeblichen Scheitern des multikulturellen Ansatzes so etwas wie eine „Leitkultur“ für unsere Gesellschaft zu formulieren. Für diese „Leitkultur“ wird insbesondere in den Unionsparteien mehr oder weniger offen ein „christliches Menschenbild“ in Anspruch genommen. Die Formulierung einer aus der jüdisch-christlichen Tradition gespeisten „Leitkultur“ hat in diesem Kontext nicht so sehr die Funktion, einen Kanon von Werten positiv zu benennen, sondern sie soll in erster Linie der Abgrenzung dienen und eine ausschließende Wirkung entfalten.
Der christliche Glaube ist seinem ureigenen Ansatz nach universal und nicht begrenzt. Diesem Ansatz widerspricht es, wenn er für eine kultur- und gesellschafts-politische Abgrenzung instrumentalisiert werden soll. Für die christlichen Kirchen ist höchste Wachsamkeit geboten, damit sie solche Tendenzen erkennen und ihnen frühzeitig Widerstand leisten. Schon die gängige Konstruktion, die Religion habe die Werte in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen, die der neutrale Staat nicht vorgeben kann, ist problematisch, weil Religion immer auch eine kritische Funktion hat. Ganz gefährlich aber wird es für die Religion, wenn sie einem politischen Ziel zugeordnet werden soll. Gleichwohl ist zum Beispiel in den evangelischen Kirchen derzeit eine neue Bemühung im Gange, einen spezifisch protestantischen Beitrag zum kulturellen Diskurs zu leisten. Gleichzeitig werden die Stimmen lauter, die zum Konzept einer multikulturellen Gesellschaft auf Distanz gehen und sich kritisch zu den Integrationsmöglichkeiten des Islam äußern. Wir sind besorgt über solche Tendenzen. Sie verkennen nach unserer Einschätzung die Realitäten und Entwicklungsperspektiven in unserer Gesellschaft, die von kultureller und religiöser Vielfalt gekennzeichnet bleibt. Vor allem aber sehen wir darin eine sowohl dem christlichen Selbstverständnis wie auch der künftigen Rolle von Religion in der Gesellschaft unangemessene und letztlich schädliche Engführung.
Muslimische Stimmen fragen, warum die christlichen Kirchen sich in dem aktuellen Konflikt kaum zu Wort melden, sondern ganz auffällig zurückhalten. Müssten nicht gerade sie Verständnis haben, wenn es um die Verletzung der Identität einer Religionsgemeinschaft geht, und sich im Interesse des Grundrechts auf Religion mit dieser solidarisieren? Sie selbst sind im Spannungsfeld einer pluralen Gesellschaft auf die Geltung und Kraft dieses Grundrechts angewiesen. So wie sie sich seit langem für die Einführung eines ordentlichen islamischen Religionsunterrichts an den öffentlichen Schulen einsetzen, weil sie diesen nach dem Grundgesetz auch für sich selbst in Anspruch nehmen, so sollten sie sich in anderen Belangen der öffentlichen Geltung von Religion ebenso stark machen.
Nach dem Grundgesetz ist Religion nicht nur eine Privatangelegenheit. Vielmehr dürfen und sollen die Religionsgemeinschaften sich in offener Weise als Teil der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft artikulieren. Eine ihrer wesentlichen Aufgaben ist es, im Rahmen der geltenden Rechtsordnung die Werte ihrer Glaubenstradition in der Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen. Dazu gehören
- das Wachhalten der Sinnfragen gegen einseitige Ideologien des Konsums und des Erfolgs;
- die kritische Begleitung von politischen Prozessen im Sinne der sozial Schwachen und Marginalisierten und eines solidarischen Miteinanders;
- das Eintreten für die Unverfügbarkeit des Lebens u. a. m.
Der staatlichen Ordnung obliegt es, die Öffentlichkeit dieser Werte zu gewährleisten. Sie ist dabei zu strikter Gleichbehandlung der Religionsgemeinschaften verpflichtet. Die gesetzliche Gleichstellung nötigt die Religionen ihrerseits im eigenen Interesse zur Kooperation in kritischer, gleichwohl solidarischer Partnerschaft. Wir appellieren an die christlichen Kirchen, diese Partnerschaft aktiv zu praktizieren und in der Öffentlichkeit offensiv zu vertreten. Nach Lage der Dinge hat sich dies in erster Linie im Blick auf die islamische Religionsgemeinschaft in unserem Lande zu bewähren.
Die aktuelle Konfliktlage ist durch die Spannungen einer Einwanderungsgesellschaft mit ihrer kulturellen und religiösen Pluralität verursacht und erfordert verstärkte Bemühungen um Integration. Vor allem aber hat sie ihre Wurzeln in einer globalen Konstellation, die weit über die Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten der hiesigen Kirchen und Religionsgemeinschaften hinaus geht, gleichwohl aber direkt und massiv auf sie einwirkt. Es ist unsere Überzeugung, dass ein energisches Eintreten für den gesellschaftlichen Frieden im Rahmen unserer lokalen Kräfte und Möglichkeiten dennoch nicht ohne Wirkung bleibt. Wir bitten unsere christlichen und muslimischen Geschwister, weder der Resignation noch der Radikalisierung nachzugeben und dem Frieden, der uns gemeinsam durch unseren Glauben aufgetragen ist, treu zu bleiben.
Anlässlich des Tages gegen den Rassismus veröffentlichen die Trägerverbände des Projekts „Christlich-islamische Friedensarbeit in Deutschland“ diese Stellungnahme.
Bonn, Bad Vilbel, Eschweiler, Hamburg, 21. März 2006
Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden
pax christi, deutsche Sektion der internationalen Katholischen Friedensbewegung
Zentralrat der Muslime in Deutschland
Schura, Rat der islamischen Gemeinschaften in Hamburg
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Hintergrund/Debatte
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