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Montag, 23.01.2006 | Drucken |
Jean Ziegler: "Ein Kind, das heute verhungert, wird ermordet."
UN-Sonderberichterstatter spricht aus, was sich viele nicht mehr zu sagen trauen
Jean Ziegler, Bestseller-Autor, ist bekannt als internationale moralische Instanz und Kapitalismus-Kritiker. Er lehrt Soziologie an der Universität Genf und ist ständiger Gastprofessor an der Sorbonne/Paris.
Der streitbare Moralist aus Genf wirbt aufrichtig dafür, dass sich in den demokratischen Industrienationen des Nordens Bürgerbewegungen und Initiativen bilden, die ihre Regierung zwingen, den lautlosen Genozid des Hungers zu stoppen.
Jean Ziegler ist als UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung in Brasilien und berät dort Brasiliens Präsidenten Lula da Silva bei dessen Regierungsprogramm zur Bekämpfung des Hungers. Sein neustes Buch: "Das Imperium der Schande - der Kampf gegen Armut und Unterdrückung", erschienen im Bertelsmann-Verlag
Herr Professor Ziegler, in Ihrem neuen Buch "Das Imperium der Schande" sprechen Sie von einer Refeudalisierung der Welt. Was meinen Sie damit?
In den letzten Jahrzehnten sind auf der Erde unglaubliche Reichtümer entstanden, der Welthandel hat sich in den letzten 12 Jahren mehr als verdreifacht, das Welt-Bruttosozialprodukt fast verdoppelt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist der objektive Mangel besiegt und die Utopie des gemeinsamen Glückes wäre materiell möglich. Und gerade jetzt findet eine brutale, massive Refeudalisierung statt. Die neuen Kolonialherren, die multinationalen Konzerne - ich nenne sie Kosmokraten - eignen sich die Reichtümer der Welt an. Diese neue Feudalherrschaft ist 1000 Mal brutaler als die aristokratische zu Zeiten der Französischen Revolution.
Wie funktioniert diese Feudalherrschaft im 21. Jahrhundert?
Die Legitimationstheorie der Konzerne ist der Konsensus von Washington. Danach muss weltweit eine vollständige Liberalisierung stattfinden: Alle Güter, alles Kapital und die Dienstleistungsströme in jedem Lebensbereich müssen vollständig privatisiert werden. Nach diesem Konsensus gibt es keine öffentlichen Güter wie Wasser. Auch die Gene der Menschen, der Tiere und Pflanzen werden in Besitz genommen und patentiert. Alles wird dem Prinzip der Profitmaximierung unterworfen. Dabei setzen die Konzerne zwei Massenvernichtungswaffen ein, den Hunger und die Verschuldung. Das Resultat ist absolut fürchterlich. Die Hungerzahlen steigen in absoluten Zahlen immer weiter an. Letztes Jahr sind nach dem Welternährungsbericht jeden Tag 100.000 Menschen an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen gestorben, alle 5 Sekunden ist ein Kind unter 10 Jahren verhungert. Und dies, obwohl die Weltlandwirtschaft schon heute - ohne Gentechnik, etc. - problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könnte, wie derselbe Bericht feststellt. D.h., es gibt keinerlei Fatalität für die Massenzerstörung der Welt. Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.
Was muss passieren, um diese mörderische Entwicklung zu stoppen?
Zuerst muss die theoretische Legitimation dieses Systems, der Konsensus von Washington, die Ökonomisierung der Natur, diese Wahnidee muss zerstört werden. Dann muss der Aufstand des Gewissens, ein Sozialaufstand, gegen die kosmokratische Minderheit, die die Welt beherrscht, organisiert und durchgesetzt werden. Denn diese kannibalische Weltordnung von heute ist das Ende sämtlicher Werte und Institutionen der Aufklärung, unter denen wir bisher gelebt haben, das Ende der Grundwerte, der Menschenrechte. Entweder wird die strukturelle Gewalt der Konzerne gebrochen. Oder die Demokratie, diese Zivilisation, wie sie heute in den 111 Artikeln der UNO-Charta oder im Deutschen Grundgesetz fixiert ist, ist vorbei und der Dschungel kommt. Es ist eine Existenzfrage.
Sie plädieren also für einen weltweiten Aufstand gegen die Macht der Konzerne. Sehen Sie dafür Ansätze?
Es gibt heute drei historische Kräfte, die zu mobilisieren sind: Die Utopie, die Scham und die Schande. Die Utopie, dass die Schaffung des gemeinsamen Glücks heute möglich ist. Die Scham, die eine Mutter in Nordostbrasilien empfindet, wenn sie Steine kocht, damit ihre Kinder beim Kochgeräusch einschlafen können, obwohl es wieder nichts zu essen gibt. Und die Schande, die wir empfinden, wenn wir mit ansehen müssen, wie Menschen gefoltert werden oder verhungern. Diese Macht der Schande muss mobilisiert werden bei uns, die wir die stillen Komplizen dieser mörderischen Weltordnung sind.
Können Sie ein Beispiel für die Macht der Schande nennen?*
Aus Nordkorea fliehen immer mehr Menschen vor dem Hungertod, dem seit 17 Jahren schon 12% der Bevölkerung zum Opfer gefallen sind, ins benachbarte China. Seit 2002 macht die chinesische Geheimpolizei Jagd auf diese Hungerflüchtlinge und schiebt sie nach Pjöngjang ab. Dort werden die Männer meist erschossen, die Kinder und Frauen verschwinden in Konzentrationslagern. Als ich dies 2003 in meinem Bericht vor den Vereinten Nationen schildern wollte, kam zwei Minuten vor Beginn der Rede der chinesische Botschafter auf Knien zu meinem Platz auf der Tribüne, damit man ihn vom Saal aus nicht sieht. Er beschwor mich aufgeregt, diesen Punkt auf meiner Redeliste nicht zu erwähnen. Das ist die Macht der Schande. Ich habe natürlich trotzdem geredet. Seitdem sind Reisen nach China für mich nicht mehr empfehlenswert.
Wie wollen die Vereinten Nationen erreichen, dass Konzerne weltweit die Menschenrechte einhalten?*
Dazu gibt es sehr unterschiedliche Ansätze, unter anderem den Global Compact, der auf Freiwilligkeit setzt und von dem ich nicht viel halte. Dagegen finde ich die verbindlichen UN-Normen für Unternehmen, die die Unterkommission des Menschenrechtsausschusses ausgearbeitet hat, ausgezeichnet. Hier sollte die Zivilgesellschaft und gerade auch die deutschen NGOs, aber auch der deutsche Botschafter, Druck machen, damit diese Normen jetzt auch umgesetzt werden. Vielversprechend finde ich auch den Beschluss der 61. Sitzung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen: Von jetzt an sollen Menschenrechte - die zivilen und politischen ebenso wie die sozialen, ökologischen und kulturellen - nicht nur für den Staat gelten, sondern auch für das neue historische Subjekt, die nichtstaatlichen Akteure, die multinationalen Konzerne. Wenn diese Resolution Völkerrecht wird, dann hätte die Bundesrepublik Deutschland eine sogenannte internationale Menschenrechtsobligation. Sie wäre verantwortlich dafür, dass Konzerne, die ihr Hauptquartier auf deutschem Territorium haben, die Menschenrechte weltweit respektieren. Das ist technisch ohne weiteres durchführbar. Es könnte beispielsweise ohne großen Aufwand ein Inspektorenkorps in Berlin geschaffen werden, das die Einhaltung der Menschenrechte bei deutschen Konzernen im Ausland nachprüft und Sanktionen verhängt, wenn Verletzungen vorliegen.
Was kann der Einzelne tun? Kann er dazu beitragen, die strukturelle Gewalt der Konzerne zu brechen?
Wer in einer Demokratie lebt, insbesondere einer westlichen, kann alles tun, um diese mörderische Weltordnung zu brechen. Ein Beispiel: Die Schuldknechtschaft der Dritten Welt, d.h. die Strukturanpassungsprogramme, etc., wird verwaltet vom IWF, dem Internationalen Währungsfonds. Bei den halbjährlichen Generalversammlungen des IWF in Washington ist auch der deutsche Finanzminister dabei. Er hat großen Einfluss, denn Deutschland ist die drittgrößte Wirtschaftsmacht des Planeten. Brasilien hat nach der Statistik der Regierung 44 Millionen schwerst permanent unterernährte Menschen, knapp ein Viertel der Einwohner, obwohl es ein reiches Land ist. Aber aus 18 Jahren Militärdiktatur und von fünf neoliberalen Präsidenten hat der jetzige Präsident Lula, von dem ich sehr viel halte, einen Berg von Auslandsschulden von 242 Milliarden Dollar geerbt. Diese Auslandsschulden verschlingen einen großen Teil der mit Exporten gewonnenen Devisen. Damit hat er objektiv keine Möglichkeit, sein Programm "Fome Zero" gegen den Hunger im Land zu finanzieren. Seit zwei Jahren versucht er deswegen mit dem IWF über ein Moratorium der Schulden zu verhandeln und stößt dabei auf eine Betonwand. Die deutsche Öffentlichkeit, die Presse, die Parlamentarischen Institutionen, jeder Bürger mit seinem Wahlzettel könnte dem deutschen Finanzminister sagen: Wir wollen, dass Du beim IWF für das Schuldenmoratorium Brasiliens stimmst, weil wir nicht wollen, dass brasilianische Kinder weiter an schwerster Unterernährung leiden. Das geht! In der Demokratie sind die Mittel vorhanden, um diese Weltordnung umzustoßen und die Menschenrechte durchzusetzen.
Welche Rolle spielen die Welthandelsorganisation WTO und der IWF in dieser Ordnung?
Leider sind WTO und IWF die zwei entscheidenden Organisationen für die Nord-Süd-Beziehungen, die UN haben da nicht viel mitzureden. Bei beiden wird der neoliberale Konsensus von Washington dogmatisch durchgesetzt. Beide sind willige Helfer der Kosmokraten, sie müssen aufgelöst werden.
Sie glauben auch nicht, dass WTO, und IWF reformierbar wären?
Nein, das sind menschenzerstörende Organisationen. Menschen sterben jeden Tag wegen dieser Politik. Im Niger beispielsweise stehen heute 3,6 Millionen Menschen am Abgrund. Der IWF hat die Bildung von Lebensmittelreserven letztes Jahr verhindert. Er hat dafür gesorgt, dass das größte Transportunternehmen des Landes privatisiert wird, ebenso wie das nationale Veterinäramt. Jetzt gibt es keine Impfstoffe mehr für das Vieh. Und jetzt hat der IWF auch noch verboten, dass Hirse gratis verteilt wird, auch von der UNO oder von NGOs, weil dies marktverzerrend sei. Das ist eine absolut mörderische Politik.
Wie sollte der Welthandel Ihrer Meinung nach geregelt werden?
Ich bin für gerechte Welthandelsregeln, die die Interessen beider Partner in jeder Phase berücksichtigen: frei ausgehandelt, ohne Zwang, nach den Prinzipien von Fairness und Transparenz. Das ist bei der WTO nicht der Fall: Die EU, USA, Kanada, Australien und Japan diktieren den Verhandlungsprozess. Sie haben eine totale Erpressungsmacht, weil sie 81% des Welthandels kontrollieren. Und sie können Mehrheitsentscheidungen blockieren, da alle Entscheidungen nur einstimmig von allen WTO-Mitgliedern getroffen werden. Diese so genannte Konsensregel ist eine reine Lüge: Sie nützt den Reichen, die einen Konsens mit wirtschaftlichen Versprechungen oder Drohungen erzwingen können. Zudem haben viele ärmere Länder gar nicht die Möglichkeit, an den langwierigen Verhandlungen ständig teilzunehmen - oft sind sie über wichtige Entscheidungen nicht informiert. Beispielsweise haben 18 afrikanische Länder gar keine Botschaft bei der WTO in Genf, weil sie es sich nicht leisten können. Ich bin für Welthandelsregeln, aber nicht für diese. Das sind diskriminierende, intransparente Erpressungsmechanismen.
Was gäbe es für Alternativen zur WTO?
Ein wichtiges Gegengewicht zur WTO ist schon jetzt die UNCTAD (UN-Konferenz für Handel und Entwicklung), sie arbeitet viel mit der Zivilgesellschaft zusammen. Eine neue Organisation zur Regelung des Welthandels sollte auf jeden Fall unter dem Dach der UNO angesiedelt werden, was ja bei der WTO nicht der Fall ist.
Was erwarten Sie vom WTO-Gipfel in Hongkong?
Nicht viel. Wenn die Positionen der Industrieländer vom WTO-Gipfel 2003 in Cancun sich nicht verändern, dann wird es kein Abkommen geben. Ein Streitpunkt wird wieder die Baumwolle sein. Bush wird die 600 amerikanischen Baumwollproduzenten weiter mit 5 Milliarden Dollar jährlich subventionieren. Die Baumwollpreise werden zusammenbrechen. Es wird darüber diskutiert, den fünf westafrikanischen Ländern, die völlig von der Baumwollproduktion abhängig sind - Burkina Faso, Benin, Mali, Niger, Senegal - deswegen finanzielle Kompensationen zu zahlen. Das wäre ein Bruch mit der reinen Marktlogik der WTO, zum ersten Mal hätte eine normative Dimension eingesetzt.
Die USA sind wegen der Baumwollsubventionen von der WTO verurteilt worden. Gibt es keine Sanktionsmöglichkeiten?
Ja, aber sie sind nicht effektiv. Kleine Länder wie Burkina Faso oder Senegal haben keine Chance. Sie könnten zwar bei einer Verurteilung der USA ein Importstopp für amerikanische Baumwolle verhängen, aber das würde die Amerikaner nicht stören. Würden dagegen die USA ein Importstopp für Baumwolle aus Westafrika verhängen, wäre das der Ruin für die Region. Das ist eines der vielen Probleme der WTO, dass in der Realität nur die großen Länder effektive Sanktionen durchsetzen können.
Viele Menschen aus dem armen Teil der Welt versuchen in eine der Wohlstandsoasen wie die Europäische Union zu gelangen. Was kann die EU da tun?
Die EU müsste dringend ihre Export-und Produktionssubventionen in der Landwirtschaft abschaffen. Alle Industrieländer zusammen haben letztes Jahr für Produktions- und Exportsubventionen landwirtschaftlicher Güter 349 Milliarden US-Dollar ausgegeben - fast 1 Milliarde Dollar am Tag! Die Zerstörung der lokalen Märkte in Entwicklungsländern durch Billigexporte aus der EU ist ein schon lange bekannter Skandal. Auf dem Markt in Dakar im Senegal können Sie europäisches Gemüse aus Frankreich, Portugal oder Spanien zu einem Drittel des einheimischen Preises kaufen. Die senegalesischen Bauern rackern sich 16 Stunden unter brennender Sonne ab. Auf dem Markt entdecken sie dann das Dumpinggemüse der EU. Sie haben keine Chance.
Es gibt Menschen, die sagen, dass alles wüssten wir doch schon seit Jahren, und es ändere sich trotzdem nichts.
Das stimmt nicht, das Bewusstsein weltweit steigt. Auch in der WTO selber haben die Kritik und die Forschungsarbeit von Organisationen wie Germanwatch Wirkung gezeigt. Es kommen Zweifel auf. Beim WTO-Gipfel in Cancun hat eine neue, erfolgreiche Symbiose stattgefunden zwischen Zivilgesellschaft und den Delegationen der Entwicklungsländer. Pascal Lamy, der Generaldirektor der WTO, hat dies gemerkt und sucht jetzt den direkten Dialog mit den NGOs. Die Zivilgesellschaft ist stark in Deutschland und der Welt.
Erstveröffentlichung des Interviews und mit freundlicher Genehmigung in: Islamische Zeitung online vom 18.01.06
Das Interview führte Ralf Willinger
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