Artikel Montag, 29.05.2017 |  Drucken

"Reicht es nicht, wenn Özil vor dem Spiel für Deutschland betet"

Ein Kommentar des Vorstandsvorsitzenden des Zentralrates der Muslime in Deutschland (ZMD) über die absurde Debatte der Leitkultur

Nein, ich störe mich nicht daran, dass über "Leitkultur" debattiert wird. Offenkundig benötigt unsere Gesellschaft eine - hoffentlich - leidenschaftliche wie auch sachliche Diskussion über Fragen unserer gemeinsamen Identität. Woher kommen wir und wohin wollen wir, der Philipp, der Mesut, der Lukas und der Jerome, die Laura, die Hasret, die Dszenifer und die Steffi gemeinsam gehen.

Etwas überraschend, dass unser Innenminister in seinem Sprechzettel über Leitkultur - als Verfassungsminister zumal - das Grundgesetz gerade mal so streift und auf die Grundrechte nicht näher eingeht, z.B. die Gleichheit von Mann und Frau. Nun gut, er wird seine Gründe gehabt haben.

Vielleicht ist dieses für ihn wie auch andere selbstverständlich, sich der vortrefflichen Grundlage unseres Zusammenlebens in einem Rechtsstaat zu erinnern. Ehrlich gesagt, für mich nicht; für mich ist es immer noch ein Wunder, die Grundlage unseres friedlichen Zusammenlebens in Deutschland und Europa allemal.

Positiv finde ich die Betonung der Rolle der in Deutschland beheimateten Religionsgemeinschaften für den sozialen Kitt. De Maiziere, der bei Dresden zu Hause ist, weiß das vermutlich noch mehr zu schätzen als manch anderer. Er schreibt: "In unserem Land ist Religion Kitt und nicht Keil der Gesellschaft... Ein solcher Kitt für unsere Gesellschaft entsteht in der christlichen Kirche, in der Synagoge und in der Moschee."

Einigkeit und Recht und Freiheit

In der weiter anhaltenden Debatte sollten wir aber auf die negative Ausrichtung der Frage der kulturellen Identität, also das ausgrenzende "Wir und Ihr" endlich gänzlich verzichten. Wir sollten zudem der Gefahr gewahr sein, dass nicht selten auch Subtexte gebildet werden, die in romantisierender Verblendung die "deutsche" Vergangenheit, die es so nie gegeben hat, schönfärbt, die eine Ausgrenzungssemantik, die sich um den Begriff "Leitkultur" rankt, in der Gesellschaft befördern, und die Biedermeier und Brandstifter in unser Haus einladen, anstatt diese draußen im Regen stehen zu lassen.

"Einigkeit, Recht und Freiheit", so heißt es in der Strophe unserer Hymne, die der Chef-Liberale Christian Lindner kürzlich Mesut Özil auftrug, sozusagen mit geschwollener Brust mitzusingen. Er solle sich dabei nicht damit begnügen, einmal mehr für Deutschland auf dem Platz alles zu geben, und diese - aus meiner Sicht weisen und großen Worte des August Heinrich Hoffmann von Fallersleben - zu seiner Herzenssache machen. Nein, er muss sie auch lauthals singen, um ein guter Deutscher zu sein. Das ein Mesut Özil vor dem Spiel zu unserem Schöpfer für den Erfolg der deutschen Mannschaft betet, das scheint dem liberalen Geist nicht zu genügen. Eigenartig! Noch eigenartiger ist der Umstand, dass Lindner Minister de Maizières Einwurf als bloßes Wahlkampfgetöse abtut. Wahlkampf ist eben immer das, was der andere macht.

Eine wirklich erstrebenswerte Leitkultur

Dabei zeigt gerade diese Strophe doch so deutlich auf, worauf es bei der Identität ankommt. Einigkeit, Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland! Danach lasst uns alle streben, brüderlich mit Herz und Hand! Vielleicht sollten wir in Zukunft die Strophe nicht nur singen, sondern versuchen, sie in ihrer umfassenden Bedeutung auch zu verstehen.

Wer wirklich ein Herz für Deutschland hat und wem die Identität unseres Landes wahrhaftig ein Anliegen ist, der ruft nicht nur zu Einigkeit auf, der arbeitet auch daran, dass in unserem Land das Recht hochgehalten wird und individuelle Freiheiten geschützt bleiben. An dieser Identität zu arbeiten macht Spaß und regt zum Mitmachen an. Dies kann in einer offenen Zivilisation auf der Basis der Verfassung bzw. des Grundgesetzes nur inklusiv und nicht exklusiv gelingen.

Wir brauchen jetzt eine Debatte, wo das Anfreundende, das Anspornende im Zentrum unserer Diskussion steht. Wenn wir gemeinsam zum Jahreswechsel der Ode an die Freude aus dem letzten Satz der neunten Sinfonie Ludwig van Beethovens lauschen, die gleichsam die Hymne der Europäischen Gemeinschaft ist, dann sollten wir uns den Text des großartigen Friedrich Schiller auch zu Herzen nehmen. Er ruft uns zu Brüderlichkeit auf, denn eines Freundes Freund zu sein, das ist der große Wurf, das wäre eine in der Tat erstrebenswerte Leitkultur.

Und wenn wir diesen Gedanken verinnerlichen, und dann wiedermal eine Deutsche Mannschaft im Endspiel steht, wir unsere Jungs und Mädels mit und ohne MigrationsVorder/Hintergrund anfeuern - und diese hoffentlich gewinnen und wenn nicht, ist es auch nicht so schlimm - dann können wir auf unser Deutsch-Sein wirklich stolz sein. Und zwar ohne Wenn und Aber. (Quelle: FAZ/HUFF)




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