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Mittwoch, 29.04.2015 | Drucken |
Gedenken an tausende muslimische Opfer im 2. Weltkrieg durch die Nazis
Erstmalig wurde auch offiziell im Kriegsgefangenenlager Zeithain der muslimischen Rot-Armisten gedacht - ZMD-Vorsitzender las die Al-Fatiha und weitere Verse aus dem Koran - Abdruck eines späteren Briefes eines Anwesenden dieses bedeutsamen Momentes
Zusammen mit Familienangehörigen der Opfer, Repräsentanten verschiedener Staaten, dem Ministerpräsident von Sachsen Stanislaw Tillich und allen Religionsgemeinschaften gedachte der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) am 23.04.2015 den 70.Jahrestag der Befreiung des Kriegsgefangenenlager Zeithain (bei Dresden). Dort waren zwischen 1941 und 1945 bis zu 30.000 sowjetische und mehr als 900 Kriegsgefangene aus Italien, Polen und Serbien gestorben, zumeist infolge von Unterernährung und katastrophaler hygienischer Umstände.
Heute hält die Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain die Erinnerung wach. Unter denn Opfer waren tausende Muslime, darnter Krimtataren und aus den Republiken der damaligen Sowietunion wie z.B. Samarkant u.a.. Mehr als die Hälfte der isgesamt rund 5,7 Millionen Soldaten der Roten Armee, die im Zweiten Weltkrieg in deutsche Kriegsgefangenschaft gerieten, überlebten die desaströsen Bedingungen nicht. Neben dem Holocaust eine unbeschreibliche Zahl.
Der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime in Deutschland (ZMD) Aiman Mazyek las für die muslimischen Toten die Al-Fatiha und trug Koranverse, die er dann später übersetzte, vor. Viele Angehörige waren da.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um Anerkennung von Opfer etc. (Armenien) geht großer Dank auch an die Gedenkstättenleitung und der Organisation von Sachsen und Zeithein, die mit viel Fingerspitzengefühl dazu beitrugen, dass nun auch für die muslimischen Opfer ein Totengebet erklang und der hunderttausend muslimischen und vielen unter Stalin zwangsrekrutierten Rote-Armee-Soldaten erinnert wurde.
Adressiert an den ZMD erreichte einige Tage später folgender Brief, der mit Erlaubnis des Verfassers (der namentlich nicht genannt werden will, Erfahrung aus Furcht vor Repressalien von Rechts) islam.de abdrucken durfte:
Sehr geehrter Herr Zentralratsvorsitzender Mazyek,
wie Sie, so war auch ich gestern bei der Erinnerungsfeier zur Befreiung des Gefangenenlagers in Zeithain.
Bei meinem Eintreffen sagte mir Gedenkstättenleiter Nagel, dass er uns gerne als gemeinsame Mitfahrer aus Berlin zusammenvermittelt hätte, aber ich war schon mit dem Auto unterwegs. Sehr gerne hätte ich diese Chance wahrgenommen, war aber sehr froh zu sehen, dass Sie trotz Bahnstreiks etc. zur Feier kommen konnten.
Warum diese Freude werden Sie fragen? Der Grund ist ebenso simpel wie bedeutsam:
Meist werden Opfer des Faschismus, hier die Toten des Kriegsgefangenlagers Zeithain, als große Einheit gesehen und so behandelt. Sei es, dass Ihre Mörder sie alle ohne Unterschied als "Untermenschen" verurteilten, dass sie bei den Befreiern oft als "Verräter" galten, dass sie entweder alle "Kommunisten" oder aber alle "Orthodoxe Christen" sein mussten. Nichts davon trifft so pauschal zu wie wir wissen.
Daher war es für mich gestern eine der bedeutsamsten Momente Ihrem interreligiösen Gedenken beizuwohnen und Sie alle, d.h. die Vertreter der betroffenen großen Weltreligionen, friedlich und einig auf den wenigen Quadratmetern des Friedhofes zusammenstehen zu sehen - dem Friedhof der eben so viele Tote der verschiedenen Religionen und Nationen beherbergt !
Ich danke Ihnen dafür sehr recht herzlich und kann Ihren Worten nur zustimmen, dass obgleich viele der Toten Muslime waren (die Namen sprechen ja für sich), ihnen bislang nicht auf die angebrachte religiöse Weise Respekt gegeben wurde.
Ich denke daher, dass Ihre Teilnahme und Ansprache gestern auch ein neues Kapitel im Totengedenken an solchen Orten aufgeschlagen hat ! Dies ist eine sehr wichtige, vielleicht auch überfällige Sache - auch wenn es wie so viele andere Aufgaben heutezutage keine leicht zu erfüllende Bürde ist !
Umso wichtiger aber ist es, dass alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden um die Menschen die die Toten waren in ihrem Menschsein zu würdigen. Ich bin sicher, dass alle der im Lager Gestorbenen und Ermordeten in ihren letzten Lebensmomenten an ihre Familien und aber auch sehr viele sicher an ihren Gott gedacht haben. Dass dieser Gott nicht nur einen Namen hat, verdeutlichten Sie alle gestern mit großer Sensibilität und absoluter Überzeugungskraft !
Bitte finden Sie im Anhang ein paar Bilder von der gestrigen Veranstaltung, d.h. dem religiösen Gedenken. Leider sind es mehr dilletantische Schnappschüsse als gute Porträts. Gerne sende ich Ihnen und Ihrem Zentralrat aber auch eine DVD mit einem Video Ihrer religiösen Gedenkzeremonie zu wenn Sie wollen.
Bitte finden Sie ferner noch ein Foto im Anhang, welches ich gestern auf einem der weit im Wald gelegenen zur Gedenkstätte gehörenden drei Friedhöfe aufnahm. Bevor durch die neuen Tafeln die meisten Menschen zumindest ihren Namen wiederbekamen, errichtete die Gedenkstätte in 2013 Aufsteller auf denen Angehörige mit Bild oder Namen an ihre verlorenen Verwandten oder Freunde erinnern konnten. Auf Friedhof Nr. 3, wo ca. 9.000 Tote liegen, sah ich die Tafel des Soldaten aus Samarkand die untermauert was Sie gestern sagten !
Und ich bin sicher, dass Ihr Gebet auch bis zu diesem Ort trug !
Zuletzt sende ich Ihnen hier noch einen Artikel aus der Neuen Züricher Zeitung von 2013, die über eine Episode meines ehrenamtlichen Arbeitens berichtet. Für einen Freund half ich nach der Suche verschollener Soldaten östlich von Berlin. Nach Jahren gelang es uns einen Teil der namentlich bekannten Toten zu finden und sie wurden letztes Jahr auf dem Zubettungsfriedhof in Lebus, nahe Frankfurt oder beigesetzt. Hier ruhen 3.500 Rotarmisten, viele von ihnen sind unbekannt.
Die Beisetzung der bei gezielten Suchen oder durch Zufall gefundenen Rotarmisten findet jährlich im September oder Oktober im Dorf Lebus statt, organisiert durch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (Landesverband Brandenburg) und die russische Botschaft. Sehen Sie die Fotos aus dem letzten Jahr im Anhang.
Nachdem gestern nun alle diese Vertreter beim religiösen Gedenken dabei waren, hoffe ich sehr, dass außer in Zeithain auch an anderen Orten (wie z.B. Lebus) der Vielfalt der Toten in breiterem Rahmen gedacht werden kann als dies bisher geschieht und, dass so noch klarer wird was die Unglücklichen waren: Menschen verschiedenster Herkunft und Glaubens, die leben wollten - aber es nicht durften.
Ich danke Ihnen sehr für Ihre heutige Aufmerksamkeit und nochmals für die gestrigen Momente,
Hochachtungsvoll
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