Newsnational Dienstag, 30.12.2014 |  Drucken


„Orgasmus und Gewalt“

Jahrhunderte alte Tabus für die islamische Debatte geöffnet

Bislang fielen die zeitgenössischen muslimischen Denker im Wesentlichen dadurch auf, entweder ihre eigene Religion per se als rückständig abzuqualifizieren und westlich-christliche Leitideale unreflektiert zur Nachahmung zu empfehlen oder umgekehrt die westliche Moderne pauschal mit Dekadenz zu assoziieren und jegliche Versuche, sich mit neuen Gedanken westlicher Philosophen auseinanderzusetzen, als Apostasie zu verfehmen. Von diesem Gefangensein in Extremen hebt sich der deutsch-marokkanische Philosoph Rachid Boutayeb mit seiner Methode der “double-critique” erkennbar ab. Hiermit setzt er sich sowohl mit der islamischen Tradition als auch mit der westlichen Betrachtungsweise des Islam und des Orients kritisch, zugleich aber produktiv auseinander.

In seinem neusten Buch “Orgasmus und Gewalt” wagt er es, sich auf diese Weise Themen zuzuwenden, die der zeitgenössische islamische Diskurs bisher als Tabus behandelte. Diese Tabuisierung kennzeichnet er als eine der Ursachen für eine dogmatische Erstarrung, die sich einer intellektuellen Weiterentwicklung der Islamischen Welt als hinderlich erweist.

Durchaus vergleichbar der mittelalterlichen katholischen Theologie beobachtet er auch in der innerislamischen Debatte eine Tendenz zu Prüderie und Leibfeindlichkeit, den er besonders im Frauenbild der islamischen Tradition auszumachen glaubt. Wenngleich seine These zu dem Fehlschluss verleiten kann, der Islam als solcher betrachte den Körper und die Sexualität als Sinnbild des Frevels, erscheint es durchaus beachtenswert, die zivilisatorische Weiterentwicklung im Westen mit einem Hinterfragen traditioneller jüdischer und christlicher Körperkonzepte in Verbindung zu bringen und diese kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Körperbild auch der islamischen Gelehrsamkeit nahe zu legen. Als einem der wenigen neuzeitlich islamischen Denker verweist Boutayeb auf den marokkanischen Dichter und Soziologen Abdelkebir Khatibi, der nach der Methode der double-critique sowohl islamische als auch abendländische religiöse Kontrollstrategien des Körpers dekonstruierte. Hierin erkennt er ein Vorbild für einen modernen innerislamischen Diskurs, der Wege in eine freiheitliche unbefangene Gesellschaft weisen kann.

Ebenso wie in der Tabuisierung relevanter Themen wie jenes des Körpers Seitens der sunnitischen Orthodoxie beobachtet Boutayeb auch in der Debatte der selbsternannten “Modernisierer” des Islam in christlich geprägten Gesellschaften Reduktion und Einseitigkeit. Hierin erkennt er vielfach den Versuch, unreflektiert christliche Elemente in den Islam hineinzupressen. Dies betreffe insbesondere den verzweifelten Versuch, dem islamischen Gott das Etikett der “Barmherzigkeit” anzuhaften, und die Gott-Mensch-Beziehung, in Verkennung der göttlichen Vollkommenheit, auf die Ebene der Freundschaftsbeziehung herabzustufen. Er wirft den “christianisierten” westlichen Islamtheologen vor, die Divergenz der islamischen und christlichen Gottesbilder zu ignorieren und das Anderssein auslöschen zu beabsichtigen.

Angemessener Umgang und sich Einlassen auf Andersheit ist für Boutayeb, der sich ausgiebig mit der jüdischen Ethik eines Emmanuel Levinas auseinandergesetzt hat, eine wesentliche Voraussetzung für eine humane Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund kritisiert er auch eine Begegnungsvergessenheit in der islamischen Theologie. Zugleich kennzeichnet er die Suche westlicher Islamwissenschaftler wie Thomas Bauer nach einer prinzipiellen Abiguitätstoleranz in der islamischen Gelehrtenschaft bis zum Beginn des europäischen Kolonialismus als Wunschdenken. Dennoch ist er davon überzeugt, dass die Aufgeschlossenheit gegenüber unterschiedlichen Sichtweisen und Deutungsmustern eine wesentliche Voraussetzung ist, um im islamischen Kontext Pluralismus zur Entfaltung gelangen zu lassen. Sie ist seiner These nach auch Grundlage für eine umfassende Modernisierung der islamischen Gesellschaft, die der syrische Intellektuelle Aziz al-Azmeh mit dem Begriff der “Laizität” beschreibt. Im Gegensatz zu al-Azmeh erfordert Modernisierung für Boutayeb jedoch nicht Religion und Historie auszublenden, sondern den Islam in den Prozess einzubeziehen (Mohammed Khallouk)

Rachid Boutayeb: Orgasmus und Gewalt
Alibri Verlag, Aschaffenburg 2014
ISBN 978-3-86569-179-8





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