Artikel Sonntag, 09.11.2014 |  Drucken


(Noch) ungehaltene Rede eines Muslims vor dem deutschen Bundestag im Jahre 2050 am Tag der Deutschen Einheit - Von Mohammed Khallouk

Am 3. Oktober 2050, dem sechzigsten Jahrestag der deutschen Einheit, hielt erstmals ein Muslim die Festagsansprache vor dem deutschen Parlament. Wie es an nationalen Gedenktagen üblich ist, erschienen die Abgeordneten vollständig und sogar auf den Sitzreihen für interessierte Zuschauer waren fast keine Stühle mehr frei geblieben. Die Rede wurde zudem vom Ersten Deutschen Fernsehen live übertragen. Über soviel öffentliche Aufmerksamkeit für ihn als Muslimen in diesem Land zeigte sich der Redner selbst erstaunt und brachte dies auch deutlich zum Ausdruck. Der Redetext ist hier vollständig wiedergegeben:


Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Abgeordneten und Zuhöhrer,
mit der heutigen Gelegenheit, vor Ihnen in diesem Haus sprechen zu dürfen, ist nicht nur ein persönlicher Traum für mich in Erfüllung gegangen, sondern auch der Jahrzehnte lange Kampf der Muslime in Deutschland um Anerkennung als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger sowie um Würdigung ihres Beitrags für die deutsche Gesellschaft einen riesigen Schritt weiter zum Ziel gelangt.

Zwar stellten wir bereits dreißig Jahre vor dem heute zum sechzigsten Mal wiederkehrenden deutschen Einheitstag in der alten Bundesrepublik eine Gemeinschaft von mehreren Millionen dar. Wir besaßen bereits seit Ende der 1970er Jahre bundesweite Islamverbände. Seit der Jahrtausendwende waren in verschiedenen Fraktionen im Deutschen Bundestag und einigen Landtagen muslimische Abgeordnete vertreten. Am Zwanzigsten Jahrestag der Deutschen Einheit hatte sogar der damalige Bundespräsident Christian Wulff in seiner Ansprache dem Islam öffentlich zugestanden, einen Teil dieses Deutschlands darzustellen. Dennoch ist es das erste Mal, dass ein bekennender Muslim am deutschen Nationalfeiertag  selbst die Festagsrede vor dem vollen Abgeordnetenhaus hält, die öffentlich rechtlichen Medien von Anfang bis Ende seine Worte live in die Wohnzimmer übertragen und Millionen deutsche Bundesbürgerinnen und Bundesbürger mitverfolgen lassen.
Gerade im Medienbereich hatten wir Muslime in Deutschland einen steinigen Weg zurücklegen müssen, bis unsere Existenz und unsere gesellschaftlichen Einstellungen als elementarer pars pro toto dieses vereinigten Deutschlands wahrgenommen und akzeptiert wurden. In den ersten zwanzig Jahren dieses Jahrhunderts sind die Rundfunkräte von ARD und ZDF zwar immer weiter aufgestockt und heterogener geworden, so dass neben Repräsentanten aus Politik und Kirchen sogar Naturschutzaktivisten und Wissenschaftsräte an der Überwachung des Radio- und Fernsehprogramms beteiligt waren. Den Muslimen und ihren Vertretungen blieb die Beteiligung in diesen Gremien weiterhin vorenthalten.

Lange Zeit wurde diese Auschließung damit begründet, dass wir uns untereinander nicht einig seien und keine Repräsentanten mit öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus besäßen. Ab dem Jahr 2033 konnte man sich auf diese Argumentation jedoch nicht mehr stützen, da nun alle mitgliederstarken Islamverbände Körperschaften öffentlichen Rechts darstellten. Wir hatten uns sogar auf gemeinsame, von jeglichen bedeutsamen Verbänden und innerislamischen Konfessionen mitgetragene Kandidaten geeinigt. Es galt jedoch immer noch, sich dem öffentlichen Vorwurf zu erwehren, wir würden unsere Religion weder zeitgemäß noch dem Gegebenheiten Deutschlands entsprechend auslegen. Mittlerweile hat die deutsche Öffentlichkeit – im Medienbereich wie auch anderenorts – allerdings anerkannt, dass eine zeitgemäße Islamauslegung nicht bedeuten muss, jede gesellschaftliche Modeerscheinung islamisch zu rechtfertigen. Zugleich erkannte man immer mehr, dass wertebewusste Muslime die deutsche Gesellschaft bereichern können.
An dieser Stelle möchte ich als jüngste Errungenschaft besonders hervorheben, dass mit Beginn dieses Schuljahrs in jedem Bundesland für die Erstklässler flächendeckend islamischer Religionsunterricht angeboten wird. Damit besteht die Hoffnung, dass dieses Angebot bald auch für alle muslimischen Schüler in höheren Jahrgangsstufen besteht.

Zwar wurde über die Einführung des islamischen Religionsunterrichts bereits seit den 1980er Jahren öffentlicht diskutiert. Das größte Bundesland Nordrhein-Westfalen stellte den Islamunterricht bereits 2013 sowohl für Grundschulen als auch weiterführende Schulen auf den Lehrplan, doch bis dieses Angebot auch nur für die Erstklässler an allen Schulen des Landes und anschließend in den anderen Bundesländern flächendeckend realisiert werden konnte, dauerte noch einige Jahre. Es erforderte erst ausreichend Lehrkräfte dafür auszubilden und entsprechend Lehrstühle für Islamische Theologie an den deutschen Hochschulen einzurichten.

Obwohl es in der Anfangszeit hierbei Auseinandersetzungen zwischen den Islamverbänden sowie Universitäten und Ministerien um die Besetzung der Lehrstühle und um eine - wie es damals hieß - “verfassungskonforme Theologie” gab, bestehen mittlerweile an jeder dritten deutschen Universität Master- und Lehramtsstudiengänge für islamische Theologie.

Selbstverständlich treten auch heute noch hin und wieder Kontroversen zwischen den dortigen Dozenten und den Gemeinden sowie den auf diese gestützten Verbänden über die Lehrinhalte auf. Diese Konflikte unterscheiden sich jedoch nicht mehr von vergleichbaren Auseinandersetzungen zwischen den christlichen Theologen und den Funktionsträgern der Kirchen in diesem Land.

Mittlerweile besitzen die Muslime sogar einen eigenen bundesweit organisierten islamischen Wohlfahrtsverband. Seine mannigfaltigen soziale Dienste werden nicht nur von uns Muslimen, sondern auch von der übrigen Gesellschaft geschätzt. Muslimische Wohlfartsprojekte gehören deshalb bei Ministerien, ebenso wie Sozialverbänden und Krankenkassen zu den bevorzugten Förderungszielen.

Soziale Einrichtungen, die von Muslimen initiiert und getragen wurden, sind in Deutschland zwar bereits in dem Maße präsent wie Muslime hier ansässig sind, so lange der Islam jedoch keinen Körperschaftsstatus besaß, waren sie auf Spenden und Privatkapital angewiesen, das stets begrenzt vorhanden war. Wohlfahrtsdienste, die über die eigene Community hinaus Beachtung finden konnten, stützten sich deshalb im Wesentlichen auf Finanzmittel von außerhalb der deutschen Grenzen. Den hierzulande gesellschaftlich aktiven Muslimen trugen sie dadurch den Geruch einer “Steuerung von außen” und einer “Förderung von Parallelgesellschaften” ein. Obgleich auch damals schon zahlreiche Nichtmuslime in Deutschland von dem sozialen Engagement ihrer muslimischen Mitbürger profitierten, haftete dem Islam im öffentlichen Diskurs das Image einer “Immigrantenreligion”, deren Gemeinschaftsdienste sich nur an ihre Mitglieder richte und den Werten der parlamentarischen Demokratie in Deutschland entgegenstehe, an.

Muslime, die sich professionell im Sozialbereich, aber auch im Erziehungswesen zu entfalten anstrebten, standen vor der Alternative, entweder in säkularen, jüdischen und christlichen Einrichtungen eine Anstellung zu suchen und dort häufig für die berufliche Karriere ein Verhalten an den Tag zu legen, das ihrem eigenen religiösen Gewissen entgegenstand oder sich mit Arbeitslosigkeit und häufigem Dienststellenwechsel abfinden zu müssen. Vor allem Kopftuch tragende Frauen hatten es in diesem vereinten Deutschland lange schwer, in veranwortungsvolle gesellschaftliche Positionen hineinzugelangen, obwohl gerade unter ihnen sich schon seit Jahren zahlreiche gemeinschaftsbewusste Bürgerinnen befinden, die sich gerne auch im Beruf sozial oder gesellschaftlich engagieren.

Mittlerweile sind aber auch für sie die Türen zu allen Karrierewegen innerhalb der deutschen Grenzen deutlich sichtbar aufgeschlossen worden. Sowohl private als auch öffentliche Arbeitgeber, unabhängig von ihrer jeweiligen weltanschaulischen Ausrichtung, verlangen heutzutage nicht mehr von Muslimen auf ihre religiösen Ansprüche am Arbeitsplatz zu verzichten. Den Beleg sehe ich hier vor mir. Mit Stolz stelle ich fest, dass in jeder Fraktion dieses Hauses mindestens eine Kopftuchträgerin sitzt. Damit ist mit Beginn der laufenden Legislaturperiode eine Entwicklung, die bereits Ende vergangenen Jahrhunderts mit dem verstärkten Eintreten der Muslime in die demokratischen Parteien dieses Landes begonnen hat, zu einem vorläufigen Höhepunkt gelangt. Als nächster Schritt steht nun die selbstverständliche Mitgliedschaft von Musliminnen und Muslimen in den Vorständen und Aufsichtsräten der DAX-Konzerne an. Vor diesem Hintergrund ist es dreißig Jahre nach Einführung der Frauenquote in unternehmerischen Führungsgremien ein bedeutsamer Schritt, wenn kommende Woche ein Gesetzentwurf in diesem Haus zur Abstimmung steht, dass jene Führungsgremien auch einer konfessionellen Diversifizierung bedürfen und Muslime entsprechend ihres Anteils an der deutschen Bevölkerung darin vertreten sein müssen.

Einige Muslime hatten es bereits um die Jahrtausendwende zu hohem allgemeinen Bekanntheitsgrad gebracht. Sie waren bereits damals regelmäßige Gäste in Fernsehtalkshows und vermochten es, mit ihren auf Deutsch verfassten Publikationen in Bestsellerlisten bei Spiegel, Focus oder Stern aufgeführt zu werden. Mit ihren theologischen oder gesellschaftspolitischen Positionen standen diese “Vorzeigemuslime” jedoch tendentiell abseits des Mainstreams der Muslime in Deutschland und vermittelten bei zahlreichen anderen Musliminnen und Muslimen über Jahre hinweg das Bewusstsein, nur derjenige Muslim werde in der deutschen Öffentlichkeit akzeptiert, der sich von den Grundsätzen seiner Religion so weit distanziere, dass er in der Lage sei, die Liberalitätsvorstellungen der Bevökerungsmehrheit in allen Gesellschaftsbereichen unreflektiert zu übernehmen. Die Tatsache, dass viele Muslime sich dazu nicht bereit zeigten, wurde als Zeichen vermeintlicher Modernitätsresistenz des Islam gewertet.

Besonders schmerzhaft empfanden Muslime zu Beginn dieses Jahrhunderts aber, wenn ihre Religion in Massenmedien und sogar in Schulbüchern mit Gewalt und Terrorismus gleichgesetzt wurde. Die betreffenden Schulbücher sind mittlerweile allerdings vollständig aus dem Verkehr gezogen worden. Einzelne Artikel in der Boulevardpresse, die derartige stigmatisierenden Assoziationen noch enthalten, ziehen gewöhnlich gerichtliche Anklagen, zumindest aber die Entlassung des betreffenden Autors aus den Zeitungsredaktionen nach sich.

Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass bis ins Siebtzehnte Jahrhundert im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation Frauen, die mit fünfundzwanzig Jahren noch unverheiratet waren, als “Hexen” verunglimpft und sogar auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Diese Vorurteile hat die deutsche Gesellschaft jedoch so weit überwinden können, dass heutzutage jede Frau darüber lachen würde, wenn sie einer wegen eines derartigen Verhaltens noch als “Hexe” bezeichnete. Sie würde demjenigen sogar selbst den Psychiater empfehlen. Mittlerweile findet die überwiegende Mehrheit der Deutschen es ebenfalls lächerlich, wenn ein Muslim allein aufgrund seiner Religion mit dem angsteinflößenden Begriff “Terrorismus” in Zusammenhang gebracht wird. Die Hysterie Anfang dieses Jahrhunderts um den sogenannten “Salafismus” kann wenige Jahrzehnte später ebenfalls keiner mehr verstehen. Dabei kostete die “Salafistendatei” den Bundesverfassungsschutz noch 2020 soviel Speicherplatz, dass ein eigenständiges Computerprogramm dafür entwickelt werden musste.

Meine Damen und Herren, es war ein langer, steiniger und mit zahlreichen Hürden verbundener Weg, bis die präsidiale Erkenntnis, dass die Muslime mittlerweile einen elementarer Teil dieses Deutschlands darstellen, auch in jeglichen gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen mit kollektiver Verantwortung sichtbar geworden ist. Zum diesem sechsigsten Jahrestag der Deutschen Einheit möchte ich aber daran erinnern, dass es auch mindestens drei Jahrzehnte gedauert hat, bis die vor sechzig Jahren staatsrechtlich vollzogene Vereinigung zwischen den beiden Teilen dieses Landes auch in den Herzen und im Bewusstsein der Menschen angelangt war und die stigmatisierenden, ressentimentgeladenen Wendungen “Ossi” und “Wessi” aus dem allgemeinen Sprachgebrauch verschwanden. Wir können deshalb mit Zuversicht feststellen, dass in kaum mehr als drei weiteren Jahrzehnten auch die Assoziation von Muslimen und des Islam mit dem “Nichtdeutschen” , “Fremden” oder gar “Undemokratischen” aus dem öffentlichen Diskurs nahezu verschwunden ist. 

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit

Prof. Mohammed Khallouk lehrt am College of Sharia and Islamic Studies der Qatar University





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