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Montag, 07.04.2014 | Drucken |
Die neue tunesische Verfassung verspricht Hoffnung und Fortschritte
Demokratischen Wandel und Abschied von der Willkür, Diktatur und Wahlen mit einer 99,99 Prozentmarke - Eine Analyse von Hassen Trabelsi
Am 26.01.2014 wurde die neue Verfassung von Tunesien mit 200 Stimmen von 217 Abgeordneten in der Verfassungsgebenden Versammlung (VV) verabschiedet.
Diese Verfassung wurde mehr Mal überarbeitet. Im August 2012 wurde ein erster Entwurf der tunesischen Verfassung vorgestellt. Vier Monate später folgte eine verbesserte Version, die die Diskussionsergebnisse der Ausschüsse in der Verfassungsgebenden Versammlung (VV) beinhaltet. Im April 2013 wurde dieser Entwurf nochmal überarbeitet und schließlich wurde Sie am 26.01.2014 verabschiedet.
Die wichtigsten Merkmale der neuen Verfassung sind die Gründung eines Verfassungsgerichts, die Garantie von Rechten und Freiheiten und die Sicherung eines Gleichgewichts zwischen der Legislative und der Exekutive.
Die Verfassung besteht aus einer Präambel und zehn Kapiteln, in denen 149 Artikel enthalten sind. Die Abgeordneten waren sich darüber einig, dass die Verfassung auf der toleranten Lehre und den gemäßigten Absichten des Islams basieren soll, sowie auf den Grundsätzen der Menschenrechte, dem Kulturerbe des tunesischen Volkes und auf den Aufklärungsarbeiten der tunesischen Reformatoren.
Dazu legten die Abgeordneten als politisches System in Tunesien das republikanische fest. Die Gewaltentrennung, eine neutrale Verwaltung, ein unabhängiges Justizsystem und eine bedeutendere Rolle für zivile Institutionen bilden weitere Grundsäulen des neuen Grundgesetzes.
Da die Tunesier seit einer langen Zeit unter Alleinherrschaft und Diktatur leiden mussten, bestätigt die neue Verfassung, dass die Herrschaft allein dem Volk gehört. Die Prinzipien einer guten Regierungsführung und die Gerechtigkeit zwischen den Regionen des Landes wurden auch darin verankert.
Weiter wurde in der Präambel auch die Zugehörigkeit Tunesiens zu der arabisch-islamischen Zivilisation festgemacht. Auch die Vereinigung der Maghrebstaaten wird erhofft. Die Zusammenarbeit mit den Völkern Afrikas und der restlichen Welt zeigen das Bewusstsein und den Respekt gegenüber geographischen und kulturellen Aspekten Tunesiens. Die Verfassung unterstützt außerdem die gerechten Befreiungsbewegungen in der Welt und vor allem die des palästinensischen Volkes. Der Frieden soll auf Basis von Gerechtigkeit erbaut werden, diese Regel soll gleichzeitig als Grundsäule der Beziehung Tunesiens zu anderen Ländern und Völkern gelten. Die Verfassung zeigt darüber hinaus ein Umweltbewusstsein, ebenfalls wird das Streben nach Erhaltung des Bodenreichtums für die kommenden Generationen verankert.
Im ersten Kapitel „Allgemeine Bestimmungen“ geht es in die Details.
Der erste Artikel ist, nach langen Diskussionen zwischen den verschiedenen politischen und Kulturellen Gegenkräften, unverändert wie in der Verfassung von 1959 geblieben. Es ist bemerkenswert, dass die Artikel von einem wichtigen Ergänzungssatz begleitet werden, dass diese nicht geändert werden dürfen. Im Artikel 2 wird der zivile Staat in leicht veränderter Form von der Verfassung 1959 festgelegt. Auch dieser Artikel darf nie geändert werden. Das Volk ist die Quelle der Machtwechsel (Artikel 3). Die Freiheit des Glaubens ist gewährleistet (Artikel 6). Laut Artikel 8 soll der Staat genügend Angebote für Jugendliche bieten, um ihre Fähigkeiten, Verantwortungsbewusstsein, Talente und Engagement für Soziale,Ökonomische sowie kulturelle und politische Themen zu erweitern. Artikel 11 sorgt für Transparenz, so dass der Präsident, der Ministerpräsident, die Abgeordneten und die Beamten in leitenden Funktionen vor Anntritt ihres Amtes ihre Steuererklärungen zeigen müssen.
Artikel 14 verpflichtet den Staat die Dezentralisation und Neutralität der Verwaltung zu sichern.
Rechte und Freiheiten
In keinem der letzten zwei Verfassungen Tunesiens, (1861 und nach der Unabhängigkeit 1959) bekamen Rechte und Freiheiten (von Artikel 21 bis Artikel 49) eine solch großen Umfang und Bedeutung wie in der Verfassung von 2014.
Auch in keinem anderen arabisch-islamischen Land genießt die Frau Rechte wie in Tunesien, bspw. muss der Staat eine Vertretung der Frauen in den gewählten Gremien sichern (Artikel 34), die Gleichberechtigung ist ebenfalls gesichert (Artikel 46). Diesen Prozess hat die islamisch gemäßigte Partei an-Nahda unterstützt. Auch Ghannouchi bestätigte schon vor der Verabschiedung der Verfassung, dass seine Partei keine Absichten hat, das liberale Personenstandsgesetz, von Bourguiba 1957 eingeführt, zu kippen.
Artikel 31, 32 und 33 sichern Presse-, Meinungs-, Medien-, Akademische und Veröffentlichungsfreiheit. Erste Schritte in dieser Hinsicht sind schon erreicht, der Bericht der „Reporter ohne Grenzen“ bestätigt, dass in Tunesien die Pressefreiheit nach der Revolution von Rang 164 in der Zeit Ben Alis auf 134 in Jahre 2012 und 138 im Jahr 2013 verbessert hat.
Das Gleichgewicht zwischen dem Präsidenten und dem Ministerpräsidenten
Seit der Unabhängigkeit hat Tunesien eine präsidiales System, in dem alle Rechte in der Hand des Präsidenten liegen. Dieses System führte in Tunesien zu Diktatur und Willkür. Nach der Revolution ist eine Diskussion entstanden, nach welchem System Tunesien regiert werden soll. Die An-Nahdha favorisierte das Parlamentarische, ihre Partner in der Troika waren für ein präsidiales System. Die Opposition war sich nicht einig. Die Diskussionen führten zu einem Kompromiss eines verbesserten präsidialen Systems, in dem die unbegrenzte Macht des Präsidenten mit dem Ministerpräsidenten und dem Parlament geteilt werden.
In den Details nach der neuen Verfassung wird das politische System so aussehen: Der Präsidentenkandidat soll bei seiner Kandidatur mindestens fünfunddreißig Jahre alt sein. Wenn er im Besitz einer anderen Staatsangehörigkeit ist, muss er diese nach seiner Kandidatur aufgeben (Artikel 75). Der Präsident hat nur zwei Amtsperioden von je fünf Jahren, die nicht verlängert werden dürfen (Artikel 74). Nach seiner Wahl muss der neue Präsidente aus seiner Partei austreten (Artikel 76).
Artikel 77 und 78 fassen die Aufgaben des Präsidenten wie folgt zusammen: Er ist der Oberbefehlshaber: Er sorgt für die Sicherheit und die Außenpolitik des Landes in Beratung und Kooperation mit dem Ministerpräsidenten. Er ernennt den Mufti (der große islamische Rechtsgelehrte) und den Präsidenten der Zentralbank. Er empfängt die diplomatische Vertretung der Konsuln in Tunesien.
Inm Gegensatz zu der Verfassung von 1861 und 1959 darf der Präsident das Parlament und die Regierung nicht auflösen. Dies kann nur nach Absprache mit dem Ministerpräsidenten, dem Präsident des Parlaments und des Verfassungsgerichts (Artikel 80) zu Stande kommen. Er darf auch nicht die Verfassung ausßer Kraft setzen, wie nach der Revolution 1864, wo der Bey die Verfassung aussetzte.
In den alten zwei Verfassungen Tunesiens hat die Regierung nur begrenzte Aufgaben. In den neuen werden ihre Aufgaben erweitert (Artikel 89 bis 101). Mit dieser Erweiterung gehört der Ministerpräsidenten der Partei der Mehrheit. Der Ministerpräsident kann neue Minister in sein Kabinett ernennen. Doch bei der Ernennung des Verteidigungsministers und des Außenministers muss er sich von den Präsidenten beraten lassen. Der Ministerpräsident definiert die politischen Richtungen des Landes, bei auswärtigen Themen muss er sich vom Präsidenten beraten lassen (Artikel 91).
Die Regierung liegt unter Aufsicht des Parlaments (Artikel 95) und nicht des Bey (Verfassung 1861) oder des Präsidenten (Verfassung von 1959). Eine Auflösung der Regierung ist nur möglich mit einer absoluten Mehrheit des Parlaments. (Artikel 97)
Gründung des Verfassungsgerichtes (VG) (Artikel 118-124)
Als höchstes und entscheidendes juristisches unabhängiges Organ gilt das Verfassungsgericht, dass in der neuen Verfassung ins Leben gerufen wurde. Das Verfassungsgericht soll aus zwölf Richterinnen und Richtern bestehen. Drei Viertel dieser Besetzung sollen Rechtsexperten sein und über mindestens zwanzig Jahre Erfahrung verfügen. Die Amtszeit dieser Rechtsexperten beträgt neun Jahre ohne Wiederwahlmöglichkeit. Das andere Viertel wird alle drei Jahre ernannt.
Die Hauptaufgaben des Verfassungsgerichts sind: Das Verfassungsgericht wacht über die Einhaltung der Verfassung und das Grundgesetz Tunesiens. (Artikel 120)
Es entscheidet über Rechtstreitigkeiten, die in den unterschiedlichen Amtsgerichten vorkommen.
Das Verfassungsgericht prüft die Geschäftsordnung des Parlaments.
Es löst die unterschiedlichen Streitigkeiten zwischen den Staatsorganen.
Weitere Neuerungen in der Verfassung
Der Wappen wird von Freiheit, Ordnung und Gerechtigkeit zu Freiheit, Würde, Gerechtigkeit und Ordnung (Artikel 4) erweitert. In der neuen Verfassung nehmen die Rechte und Freiheiten eine bedeutendere Rolle ein, als im Vergleich zu den Verfassungen von 1861 und 1959.
Artikel 32 sichert die Demokratisierung der Information. Das Mehrparteiensystem und die Freiheit der Gründung von Organisationen und Verbänden - solange diese kein Gewalt ausüben (Artikel 35) - sind in der neuen Verfassung gewährleistet.
Um mehr Transparenz zu schaffen, werden weitere Institutionen ins Leben gerufen, denen die Verfassung den Namen „Verfassungskonforme Komitees“ (Artikel 125-Artikel 130) gibt. Es sind folgende Organisationen: Ein unabhängiges Wahlkomitee (Artikel 126), ein Presse- und Medienkomitee (Artikel 127), Menschenrechtskomitee (Artikel 128), Komitee für nachhaltige Entwicklung und Sicherung für nachfolgenden Generationen (Artikel 129) und das Komitee fürPrinzipien guter Regierungsführung (Artikel 130).
Die Errichtung vieler Komitees dient, wie ich oben zitiert habe, der Transparenz und bildet einen zentralen Baustein des demokratischen Wandels.
Abschließende Bemerkungen
Die Diskussionen zur Überarbeitung der tunesischen Verfassung haben viel Zeit in Anspruch genommen. Oft waren sie unproduktiv. Es gibt viele Gründe, die zu dieser Lage geführt haben, u.a. die geringe demokratische Erfahrung und die Vielzahl und Schnelligkeit der Ereignisse in Tunesien nach der Revolution. Dazu kommt die kurze Erfahrung vieler Abgeordnete und Politiker. Dass politische Gegenkräfte vor allem nach Wahlinteresse handeln und nicht nach dem Interesse der Allgemeinheit, hat die Lage verschärft. Zusätzlich dazu haben die Anhänger des alten Regimes versucht, den Prozess des Wandels zu stoppen oder zu blockieren. Insbesondere in der Verwaltung konnten Sie im Laufe der Zeit mehr und mehr an Macht zurückgewinnen.
Die Ermordung zweier Politiker der linken Opposition, Chokri Belaid am 6. Februar 2013 und der Abgeordnete Mohammed Brahmi am 25. Juli 2013, haben das Land zwei Mal beinahe an den Rand einer Totalblockade geführt. Im Februar hat der ehemalige Ministerpräsident Hamadi Jebali die Krise durch sein weitsichtiges Handeln entschärft und somit das Land vor dem Schlimmsten gerettet. Er rief zum Dialog zwischen den verschiedenen politischen Lagern auf und zur Bildung einer Technokraten-Regierung. Nach dem Scheitern der Bildung dieser Regierung ist er selbst zurückgetreten. Im Juli einigten sich die politischen Akteure nach zähen Diskussionen auf eine von der tunesischen Arbeiter Organisation (UGTT) und drei weiterer Organisationen - darunter die tunesische Liga für die Menschenrechte (LTDH) vorgeschlagene „Road map“..
Trotz der Bereitschaft seitens der Enahdha-Partei und der Troika zum Kompromiss, hat ein Teil der Opposition, nämlich die Volksfront und die Front zur nationalen Rettung, versucht insbesondere nach dem Komplott in Ägypten am 3. Juli 2013, die gewählte Regierung durch Aufmarsch auf die Straße vergeblich zu stürzen.
Es gibt noch ein weiteres Phänomen, dass die Krise in Tunesien verschärft, nämlich die Salafisten. Denn die Salafisten - gleichwohl sie ein „importiertes Milieu“ darstellen (nach dem tunesischen Experten Sami Brahem), die neu für das tunesische religiöse und politische Leben sind, , bilden eine Gefahr für die Zukunft des Landes.
Gründe hierfür sind: Erstens Ihre Brutalität, die sie aus einer strengen und oberflächlichen Interpretation des Islam rechtfertigen.
Zweitens sind sie für die „Gegenrevolution“ und die Nachrichtendienste leicht zu steuern und zu manipulieren.
Drittens können Sie leicht durch die verbreiteten Analysen und Erklärungen der Medien, die zum größten Teil noch von Anhängern des „tiefen Staats“ besetzt sind und manchen extremen Politikern provoziert werden und zu extremen Reaktionen angestachelt.
Schlussendlich wurde die milde und offene Politik der Enahdha von vielen Ihrer Anhänger und Wähler, schon Anfang 2012, als Schwäche ausgelegt was dazu führte, dass man dagegen ein Zeichen setzen wollte. In diesem Zusammenhang wurde u.a. eine Facebook Kampagne mit dem Namen „Ikbes“ (Druck ausüben) gegründet, die ihren Höhepunkt in der Vollversammlung in der Kasba (Tunis) am 30 August 2012 erreicht hat. Ikbes fordert die Beschleunigung des „Transitional Justice“, die Ausgrenzung der alten Regiemetreuen aus der politischen Arena und die Beendigung der Korruption .
Die neue Verfassung, die trotz der schwierigen Situation des Landes durch einen Kompromiss zwischen allen politischen und zivilgesellschaftlichen Organisation zustandekam, ist eine Garantie für einen demokratischen Wandel, durch den Tunesien für immer Abschied von der Willkür, Diktatur und Wahlen mit einer 99,99 Prozentmarke nimmt.
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