Artikel Montag, 03.09.2012 |  Drucken

Europäische und afrikanische Autoren bauen intellektuelle Brücken über ein Mittelmeer der gemeinsamen Zukunft - Besprechung der Beiträge der neuen IFA Edition „Kultur und Außenpolitik“

Hatte die mittelosteuropäische Revolution von 1989/90 den Fall der Berliner Mauer sowie anschließend das Zusammenwachsen beider Teile Deutschlands und Europas nach sich gezogen, wird die Idee einer Mittelmeerunion trotz des Arabischen Frühlings von 2011 und der unbestreitbar voranschreitenden Demokratisierung in Nordafrika hierzulande immer noch weitgehend als „Kopfgeburt“ des ehemaligen französischen Präsidenten Sarkozy abgestempelt. Wirtschaftliche Kooperation und Außenhandel mit den Staaten des Maghreb und der nördlichen Sahelzone seien nicht nur möglich, sondern sogar wünschenswert, im kulturell-religiösen und politischen Wertempfinden divergierten Europäer und Nordafrikaner jedoch zu sehr, um ein gemeinsames Projekt zu realisieren.

Lediglich bei einer bislang eher öffentlichkeitsscheuen Elite besteht schon seit dem Klassizismus das Bewusstsein, das europäische und arabo-islamische Kultur gemeinsame ethische Wurzeln besitzen, die es im Dialog miteinander zu entdecken und politisch wie wissenschaftlich zu fördern gelte. Vor allem die 2005 in Kairo gegründete, nach der im selben Jahr ermordeten schwedischen Außenministerin benannte Anna-Lindt-Stiftung und die fünf Jahre später in Rabat ins Leben gerufene Stiftung Wissensraum – Europa – Mittelmeer (WEM), die ihren Sitz in Deutschland hat, nahmen die Anregungen aus der Politik auf. Die beiden Stiftungen basieren auf gemeinsamen Initiativen europäischer und nordafrikanischer Interessierter, die gemeinsame kulturelle und wissenschaftliche Projekte beider Seiten des Mittelmeeres initiieren.

Die jüngsten politischen Umwälzungen im arabo-islamischen Raum erkannten die WEM und ihr Leiter, Prof. Bernd Thum, als Gelegenheit zur Herausgabe eines Sammelbandes. Darin stellen mit der Thematik vertraue Autoren aus Ländern nördlich wie südlich des Mittelmeers dar, welche überregionale Bedeutung den Ereignissen des Arabischen Frühlings zuzumessen ist. Sie skizzieren, welche Wesensmerkmale die einzelnen Staaten und Gesellschaften auszeichnen und präsentieren ihre Konzepte, wie das kulturpolitische Verhältnis der Einzelstaaten, aber auch des gesamten südlichen Mittelmeerraums zu Europa sich künftig entwickeln kann.

Eine deutschsprachige Version des Sammelbandes ist bereits unter dem Titel „An der Zeitenwende – Europa, das Mittelmeer und die arabische Welt“ erschienen. Einige der darin enthaltenen Artikel sollen später außerdem auch auf Arabisch oder Französisch erscheinen. Für die deutschsprachige Beitragssammlung hat das IFA seine diesjährige Edition „Kultur und Außenpolitik“ zur Verfügung gestellt. In seinem Vorwort hierzu stellt der IFA -Generalsekretär Ronald Grätz  heraus, dass der Kulturdialog im Mittelmeerraum, vor allem der Wertedialog mit dem Islam, vom seinem Institut, ebenso wie vom WEM und von der Anna – Lindh –Stiftung als eine Herzensangelegenheit betrachtet wird.

Durch die Beiträge von Autoren aus der südlichen Mittelmeerregion, aber auch aus dem Nahen- und Mittleren Osten sowie der Sahelzone über ihre jeweiligen Herkunftsländer können die deutschsprachigen Leser sich bewusst werden, welche Ausmaße die kulturellen und ethischen Gemeinsamkeiten zu den südlichen Nachbarn ihres Kontinents tatsächlich einnehmen. Sie bekommen Ideen geliefert, wie gemeinsames kulturelles und politisches Wissen für eine Zukunft im Miteinander genutzt werden kann. Ebenso werden sie mit den spezifischen Gegebenheiten eines südmediterranen Landes vertraut. Dadurch sind sie in der Lage, Medienberichte zu dem jeweiligen Land differenzierter aufzunehmen und Konzepte zu entwickeln, mit denen Politik und Wissenschaft in Europa zur Weiterentwicklung der dortigen Zivilgesellschaft beitragen können.

Der Mittelmeerraum endet nicht an der gegenüberliegenden Mittelmeerküste

Sowie Deutschland innerhalb der Europäischen Union sich nachdrücklich gegenüber Großbritannien, Frankreich und den Benelux-Staaten mit seinem Verlangen nach Unterstützung und Einbindung Mittelosteuropas in die gesamteuropäischen Strukturen einsetzen musste, galt es für Italiener, Franzosen, Spanier und Portugiesen den Norden ihres Kontinents von der Notwendigkeit einer Kooperation mit den Südanrainern des Mittelmeeres zu überzeugen. Allzu oft besteht nördlich wie südlich der Alpen das Bewusstsein, das Mittelmeer bilde die äußerste Südgrenze der eigenen Zivilisation. Weiter südlich liegende Gebiete gehörten einer fremden, prinzipiell „feindlich gesinnten“ Zivilisation an, mit der allenfalls die Südeuropäer erfolgreich Handel treiben könnten. Europa als Ganzem sei sie jedoch kulturell, religiös und darüber hinaus in Politik und Wertempfinden zu verschieden.

Die Beiträge der IFA Edition „Kultur und Außenpolitik“ demonstrieren jedoch, dass die Huntington`sche Abgrenzungsrhetorik gerade bezogen auf den Mittelmeerraum sich als zu schematisch und zu undifferenziert erweist. Die Frage, welches Land von der jüngsten Entwicklung am Mittelmeer betroffen ist, kann eben nicht nur mit dem Vorhandensein eigener Mittelmeerküste beantwortet werden. Hierzu gehören gleichermaßen Diskussionen wie jene um die Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland oder des Verhältnisses von Staat und Religion in einem Land wie Tunesien.

Die scheinbare Attraktivität „europäischer Werte“ für Nordafrikaner und andere Vertreter des islamischen Kulturraums, die sich bei den jüngsten arabischen Revolutionen erkennen ließ, motivierte Autoren wie Andreu Bassols, den Generaldirektor des Institut Europeo de la Mediterrània (IEMed) in Barcelona, den katalanischen Journalisten Marc Gafarot und François de Bernard, den Gründungspräsidenten der Groupe d`études et de recherches sur les mondialisations (GERM) in Paris, sich kritisch mit der bisherigen Positionierung Europas gegenüber der sich neu artikulierenden arabischen Civil Society und ihrem Anspruch zur Teilhabe an moderner Entwicklung auseinanderzusetzen.
Mit den Tunesiern Mohamed Haddad und Mohamed Zinelabidine, aber auch dem aus Ägypten stammenden Mohammed Elrazzaz stellen Autoren aus Ländern, in den die Revolutionen bereits stattgefunden haben, diese in ihrem Facettenreichtum dar. Sie erörtern, welche Rolle einzelne Gesellschaftsteile wie die Arbeiterschaft während der Revolution gespielt haben. Darüber hinaus bemessen sie den Einfluss der staatlich-gesellschaftlichen Neu-Justierung auf die Kultur. Letztlich schätzen sie den Stellenwert dieser Ereignisse für die Zukunft des jeweiligen Landes und die gesamte Region ein.

Angesichts der häufig anzutreffenden Assoziation der arabischen Zivilisation mit dem Islam als „unzeitgemäßer Religion“ haben mehrere Beiträge auch das Verhältnis des Islam zu den politisch-normativen Neustrukturierungen zum Erörterungsgegenstand erhoben. Dies betrifft den mit der postkolonialen Staatsgründung zum „Dogma“ erhobenen Laizismus in Tunesien, mit dessen Folgen sich der Artikel des Professors für deutsche Literaturgeschichte in Tunis Mounir Fendri auseinandersetzt, aber auch die im Westen oft mit anderer Bedeutung als in der arabischen Welt verstandenen Termini Islamismus und Säkularismus.

Der deutsch-marokkanische Politologe und Islamwissenschaftler Mohammed Khallouk setzt sich deshalb explizit mit der im Anschluss an die im Sommer 2011 vom Monarchen initiierten konstitutionellen Reformen in Marokko erstmals an die Regierungsmacht gelangten islamistischen Parti de la Justice et du Developpement (PJD) auseinander. Der Beitrag erläutert zum einen, warum die demokratisch motivierte arabische Protestbewegung ausgerechnet Islamisten in verschiedenen Staaten den Weg zur Macht geebnet hat, zum anderen zeigt er auf, dass die im Westen mit den Oberbegriffen „Islamismus“ wie „Islamischer Fundamentalismus“ geweckten Assoziationen der als „gemäßigt islamistisch“ gelten marokkanischen Partei nur ansatzweise gerecht werden. Darüber hinaus weist der Autor auf die im islamisch verfassten Königreich vom eigenen Selbstverständnis her erheblich engeren Beziehungen der Politik zur Religion als in westlichen Staaten zum dort dominierenden Christentum hin.

Der ebenfalls aus Marokko stammende Berliner Philosoph und Publizist Rachid Boutayeb begreift die Arabische Revolution provokativ als das „Ende des Säkularismus“. Dabei verleiht er dem hierzulande gerade in Bezug auf die islamische Welt oft einseitig mit Modernität assoziierten Terminus „Säkularismus“ allerdings eine neue Bedeutung. Ohne für ein theokratisches Staatsmodel nach iranischem Vorbild zu plädieren, fordert er die Europäer dazu auf, sich kritisch mit dem eigenen Säkularitätsbegriff und seiner Übertragung auf außereuropäische Zivilisationen auseinanderzusetzen.

Unter den insgesamt 17 Autoren sind selbstverständlich auch vier Autoren mit deutscher Muttersprache. Bei ihnen steht wie bei den anderen europäischen Autoren das Verhältnis zwischen Europa versus des Okzidents und der Islamischen Welt versus des Orients im Mittelpunkt. Philosophiert die Heidelberger Arabistin und Islamwissenschaftlerin Susanne Enderwitz allgemein über die beiden Zivilisationsbegriffe und das damit verbundene Verhältnis zu Religion und Moderne, stellt der Direktor des Badischen Landesmuseums Karlsruhe Harald Siebenmorgen die sichtbaren orientalen wie okzidentalen Hinterlassenschaften in seinem Museum und ihre gemeinsamen Wesensmerkmale dar. Der Philosophie Privatdozent Dieter Köhler lotet die aus dem politischen Wandel im arabischen Raum und seiner kulturellen Gemeinsamkeit mit Europa sich ergebenden Perspektiven für eine politökonomische Annäherung beider Teile des  Mittelmeeres aus. Günther Hasenkamp vom Goethe-Institut Kairo beleuchtet schließlich den Stellenwert des Kulturaustauschs mit den arabischen Ländern in der Übergangszeit.

Die Reduktion auf die geographische Dimension dieses kulturpolitisch definierten Mittelmeerraumes versteht schließlich der aus Senegal stammende senior fellow der European Foundation for Democracy, Bakary Sambe, als zu kurz gegriffen. Auch in seinem Herkunftsland erkennt er zahlreiche Elemente der mediterranen Kultur und füllt damit den Begriff “Grande Méditerranée“ mit Leben. Er fragt sich, wie trotz der Fixierung von Europas Außenpolitik auf die unmittelbaren Mittelmeeranrainer  das Zurückstehen des südlich daran anschließenden subsaharischen Afrikas verhindert werden könne.

Die politischen Versäumnisse der Vergangenheit basieren auf mangelnder Nutzung vorhandenen Wissens

Die bedeutendste Leistung der WEM, speziell aber der diesjährigen IFA Edition Kultur und Außenpolitik besteht darin, sich nicht ausschließlich als Ratgeber für Politik und Wirtschaft zu präsentieren. Information ist ein wertvolles Anliegen und gerade bei länderspezifischen Eigenheiten erweist sich die detaillierte Darlegung eines unmittelbar damit Vertrauten für den angemessenen Umgang als unverzichtbar. WEM versucht darüber hinaus aufzuzeigen, wo in der Vergangenheit Europäer und Maghrebiner gemeinsam neues Wissen ans Tageslicht befördert haben und wie dieser Vorgang in der Zukunft wiederholt werden kann.

Allzu häufig gerät aus dem Blickwinkel, dass die gemeinhin als „Renaissance“ bezeichnete Überwindung des sogenannten „dunklen Mittelalters“ bereits innerhalb des eigentlichen Hochmittelalters im damals arabisch-maghrebinisch dominierten Andalusien begonnen hat. Juden, Christen und Muslime haben gemeinsam auf scheinbar verloren gegangenem Wissen der griechischen Antike aufbauend, ihre islamische bzw. jüdisch-christliche Ethik neuinterpretiert. Dadurch ermöglichten sie Innovationen, die auf beiden Seiten des Mittelmeers sowohl technologische als auch geistig-politische Entwicklung begründeten.

Die jüngste „Arabische Revolution“ hat sich ebenfalls erfolgreich Termini griechisch-lateinischen Ursprungs wie „Demokratie“, „Humanismus“ oder „Pluralismus“ bedient. Man erkennt nun, dass jene Begriffe, mit denen Europa gemeinhin „seine“ Aufklärung assoziiert, ebenso eine hoffnungsvolle Moderne unter islamischem Vorzeichen einzuleiten vermögen. Die Beiträge des WEM und alle darin erwähnten länderspezifischen Exempel haben beim Leser ihre Wirkung in dem Maße nicht verfehlt, wie sie von wissenschaftlichen Eliten und Civil Societies als Ansporn begriffen werden, im Austausch miteinander Konzepte für eine gemeinsame Zukunft beider Teile des „Grande Méditerranée“ zu entwerfen.

An der Zeitenwende, Europa, das Mittelmeer und die arabische Welt
Herausgegeben von Bernd Thum im Auftrag des Instituts für Auslandsbeziehungen e.V. (IFA), Stuttgart 2012



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