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Dienstag, 06.12.2011 | Drucken |
Orientierungshilfe im Arabischen Frühling fürs deutsche Wohnzimmer Elf Beiträge zur arabischen Erneuerungswelle entlarven westliches Islam- wie Araberbild als realitätsfremd und einseitig - Von Mohammed Khallouk
Nationale Hintergründe des Aufbegehrens einer ganzen Region werden aufgezeigt
Wurde den Deutschen bis 1989 schon immer nachgesagt, sie seien für Revolutionen zu autoritätshörig, haftet jenes Stigma der arabo-islamischen Zivilisation im oxidentalen Bewusstsein so lange an wie sonst kaum ein Kriterium, mit dem sie sich angeblich vom „freiheitsbewussten Europa“ unterscheide. Bereits Machiavelli interpretierte die „orientalische Despotie“ als Abschreckungsbeispiel für einen aufgeklärten Fürsten, der seinem Land Zukunft und Fortschritt zu ermöglichen beanspruche. Die vermeintliche zivilisatorische Rückständigkeit der Arabischen Welt gegenüber Europa diente im Neunzehnten Jahrhundert als Rechtfertigung für die Kolonialmächte, den Nahen Osten und Nordafrika nicht nur militärisch zu beherrschen, sondern ihn zugleich im Sinne des „europäischen kulturellen Fortschritts“ zu zivilisieren.
Die Tatsache, dass im postkolonialen Arabien sich weder politische Freiheit nach westlichem Vorbild ausbreitete noch eine ökonomisch-strukturelle Revolution wie im taoistisch-konfuzianischen Ostasien zu etablieren begann, bestärkte das Ressentiment, die arabische Kultur und darüber hinaus der Islam stünden politisch-struktureller Modernisierung prinzipiell entgegen. Entsprechend überrascht erschienen die westliche Civil Society und ihre politische Elite als sich seit Ausklang des Jahres 2010, ausgehend von Tunesien, nachfolgend aber in zahlreichen anderen arabischen Staaten, getragen von den technischen Möglichkeiten des Internetzeitalters, populäre Massenbewegungen präsentierten, die ein Ende der politischen Bevormundung ihrer Nationen einhergehend mit grundlegenden sozioökonomischen Strukturveränderungen verlangten.
Ein genauerer Blick auf die einzelnen Staaten zeigt allerdings, dass es sich hierbei keineswegs um eine einheitliche Bewegung gegen ein einheitliches „arabisches System“ handelt, sondern um nationale Umwälzungsprozesse, die je nach Staat und historisch-politischen Hintergründen variieren sowie sich dementsprechend in Ausprägungsformen wie Erfolgschancen voneinander unterscheiden.
Um dem mit der Region wenig vertrauten Medienrezipienten im deutschsprachigen Raum eine realistische Einordnung der Situation der einzelnen Länder zu ermöglichen, haben Frank Nordhausen und Thomas Schmid unter dem Titel „Die Arabische Revolution – Demokratischer Aufbruch von Tunesien bis zum Golf“ einen Sammelband herausgebracht, in dem zu elf ausgewählten arabischen Staaten die jeweils bedeutendsten Ereignisse der letzten Monate beschrieben, kommentiert und in einen Kontext eingeordnet sind, um hiervon ausgehend Zukunftsvorhersagen für das Land zu wagen. Die Autoren gelten als ausgewiesene Kenner der jeweiligen Staaten, wenngleich nur einige davon explizit wissenschaftlich zu dieser Region arbeiten, während die anderen eher der journalistischen Szene zuzuordnen sind.
Die Beiträge sind zum einen nach der chronologischen Folge der nationalen Umbrüche, sowie zum anderen nach der Region geordnet. Zu Beginn folgen Beiträge der beiden Herausgeber zu Tunesien und Ägypten, da diese beiden Staaten mit dem erfolgreichen Sturz der dortigen Langzeitherrscher Ben Ali und Mubarak als erstes im Fokus standen und sozusagen die Initialzündung für die beschriebenen revolutionären Aufstände und Umbrüche in den anderen Staaten darstellten.
Der hernach gerichtete Blick auf die drei anderen nordafrikanischen Mittelmeeranrainer, Libyen, Algerien und Marokko, verdeutlicht, wie divergent die Bedingungen und Konsequenzen sich bereits in unmittelbar angrenzenden Staaten darstellen und davon ausgehend wie notwendig die intensive Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Land erscheint, um fundierte Voraussagen für deren Zukunft zu treffen und die europäische Außenpolitik danach auszurichten.
Zu den hernach behandelten Staaten des Nahen Ostens, Syrien, Jordanien und Libanon besteht die Gemeinsamkeit lediglich in der arabo-islamischen Kultur und langjährigen Beherrschung durch autoritäre Regime, die es weitgehend versäumt haben, eine Entwicklung in ihren Ländern voranzutreiben, von der die Bevölkerungsmajorität sowohl materiell als auch ideell zu profitieren in der Lage war und ist.
Die Beiträge zu den Golfstaaten Saudi-Arabien, der Vereinigten Arabischen Emirate und dem Jemen stellen heraus, dass in der Arabischen Welt wie anderenorts auch die sozioökonomischen Bedingungen letztlich als Treibmittel für politisches Aufbegehren erheblich bedeutender sind als der kulturellreligiöse Rahmen, der sich von Marokko bis zum Irak nur in Nuancen unterscheidet. Von daher mag es wenig verwundern, wenn im von Massenarmut geprägten Jemen die verbreitete Unzufriedenheit mit dem dortigen Langzeitautokraten zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen ausartet, während eine in mancher Hinsicht als noch rückständiger zu definierende Dynastie des nördlichen Nachbarn Saudi-Arabien vom Bundessicherheitsrat bis heute als „Stabilitätsfaktor“ eingestuft wird, an den Rüstungslieferungen legitim erscheinen.
Wie die Einleitung des Sammelbandes mit einem Gesamtüberblick bereits andeutet, muss der Verdienst vor allem darin gesehen werden, durch die Fokussierung auf bestehende Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Staaten und ihren „Revolutionen“ das zuletzt von Samuel Huntington gezeichnete Bild einer weitgehend in sich geschlossenen islamischen Zivilisation, die ihren Hauptfeind in einem historisch als ihren Widerpart sich präsentierenden Westen besitze, zu zerreißen. Schließlich wähnen sämtliche nationalen Bewegungen, trotz ihrer z.T. berechtigten Kritik an der westlichen Außenpolitik, die vermeintlich „westlichen“ Ideale Demokratie, Menschenrechte und politischen Pluralismus als ihre erstrebenswerten Ziele.
Demokratische Vorerfahrungen und Reaktionen der Regime bilden Gradmesser für den Erfolg der nationalen Bewegungen
Die Tatsache, dass die Stürze der Autokraten in Tunis und Kairo sich nicht nur im Internetzeitalter abgespielt haben, sondern maßgeblich durch die Massennutzung moderner Medien vorangetrieben wurden, hat für die dortigen Ereignisse gelegentlich die Bezeichnung als „Facebook-Revolution“ entstehen lassen. In der Tat sind die Internetportale „Facebook“ und „Twitter“ für die rasante Ausbreitung der Revolte von einem Staat auf den anderen eine wesentliche Ursache. Ihr gezielter, gegen die Autokratie gerichteter Einsatz ließ sich Seitens der Zensurbehörden nicht so stark einschränken und im Sinne der Diktaturen umsteuern, wie das mit den traditionellen Medien noch möglich war.
Der Sammelband veranschaulicht jedoch, dass die Ausgestaltung der jeweiligen Regime, ihre Dialogbereitschaft gegenüber den Demonstranten, einhergehend mit erkennbaren Anzeichen von Reformen für den Erfolg eines Demokratisierungsprozesses auf friedlichem Wege sich mindestens ebenso entscheidend erweisen. Dies lassen besonders die Beiträge zu den beiden westlichen Maghrebstaaten Algerien und Marokko erkennen, die von Autoren verfasst wurden, die sich in den anderen Maghrebstaaten ebenfalls auskennen.
Der Verfasser des Algerienbeitrages, Helmut Dietrich, derzeit DAAD-Stipendiat am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) hat sogar in beiden betreffenden Staaten zeitweise gelebt. Der Verfasser des Marokkobeitrages, Marc Dugge, ist als Leiter des ARD Hörfunkstudios in Rabat für die Berichterstattung über den gesamten Maghreb zuständig. Es handelt sich also um Autoren, die fundierte Vergleiche zwischen den Staaten zu ziehen in der Lage sind. Während Dietrich die Situation Algeriens als „brodelnd“ bezeichnet und eine Massenprotestbewegung nach tunesischem Vorbild gegen das militärisch gestützte Obristensystem jederzeit für möglich hält, sofern sich zwischen alten Oppositionellen und jungen Protestierenden eine Koalition schmieden lasse, findet Dugge in Rabat allwöchentliche Großdemonstrationen bereits vor. Anzeichen für einen grundlegenden Systemumsturz erkennt er jedoch keineswegs, da die marokkanische Monarchie, insbesondere aber der gegenwärtige König Mohammed VI. bei Eliten ebenso wie protestierender Civil Society ein hohes Ansehen genießen. Vielmehr attestiert Dugge dem Monarchen, aus der Protestwelle gestärkt hervorgehen zu können, da er seit seiner Thronbesteigung 1999 bereits einige zaghafte gesellschaftspolitische Reformen initiiert habe und auch die jüngsten Proteste als Anlass erkenne, konkrete Reformen anzukündigen und durchzusetzen.
Während die mittlerweile gestürzten Langzeitherrscher in Tunesien, Ägypten und Libyen vergleichbare oder sogar günstigere ökonomische Rahmenbedingungen stets nutzten, um ihre Familiendynastien und diesen nahestehende Eliten auf Kosten der Allgemeinheit zu privilegieren, hatte der selbst durchaus ebenso begüterte marokkanische König bei seiner öffentlichen präsentierten Aktivität stets die weniger Begünstigten seines Landes im Blick. Daher konnte er zeitweise sogar das Image eines „Monarchen im Dienste des gemeinen Volkes“, der eine „monarchie citoyenne“ anführe, pflegen.
Dugge konstatiert, dass eine allgemeine Wohlstandsentwicklung, als Garant für die dauerhafte Akzeptanz eines Herrschers und seiner Politik definiert, auch in Marokko nur erreichbar sei, wenn den angekündigten politisch-konstitutionellen Reformen eine sozialstrukturelle Modernisierung nachfolge. Hierzu müsse Mohammed VI. den Einfluss des marokkanischen Makhzensystems verringern, das sich bisher in hohem Maße auf Korruption und Amtsmissbrauch stütze. Die prinzipielle Reformbereitschaft des marokkanischen Königs erklärt Dugge schließlich auch aus der engen politökonomischen Bindung des Landes im westlichen Maghreb an die EU, die nach dem Zerfall der sich öffentlich ebenso prowestlich präsentierenden Regime in Kairo und Tunis, welche Europa entstammende universelle politische Werte für ihre Länder allerdings nicht als gültig erachteten, unter besonderem innenpolitischem Rechtfertigungsdruck für ihre Außenpolitik stehe.
Die nach dem Umsturz in Tunesien, spätestens aber nach der Wende in Kairo in die öffentliche Kritik geratene kritiklose Kooperation westlicher Regierungen, insbesondere Frankreichs, mit den autoritären Regimen Nordafrikas, stellt der Mitherausgeber des Sammelbandes, der Schweizer Thomas Schmid, schließlich als eine der Ursachen für das militärische Eingreifen des Westens in Libyen dar. Hierbei nennt er ebenso die Sorge um die Stabilität der beiden nach wie vor im Umbruch sich befindenden Nachbarstaaten Ägypten und Tunesien, für die man eine erneute Konsolidierung der Macht des Gaddafi-Clans als ernsthafte Bedrohung erkannt habe.
Die ressentimentbeladene westliche Sicht auf die Arabische Welt resultiert aus einem interessengeleiteten Konstrukt von Regierungen und Medien
Die Bedeutung der politischen und medialen Einschätzung im Westen für die Entwicklung der einzelnen arabischen Nationen ist auch aus den Beiträgen zu den Staaten des Nahen Ostens und der Arabischen Halbinsel herauszuhören, wo die Charakterisierung des syrischen Regimes als „Garanten für Stabilität“ diesem nun die Möglichkeit biete, mit größter Brutalität gegen seine Opposition vorzugehen, ohne ein militärisches Eingreifen der Internationalen Gemeinschaft nach libyschem Muster auf kürzere Sicht befürchten zu müssen. Saudi-Arabien biete der politische Rückhalt im Westen und die empfundene Abhängigkeit der USA von saudischen Ölexporten, wie der Beitrag des Direktors des Hamburger GIGA-Instituts für Nahost-Studien, Henner Fürtig, ausführt, sogar eine ökonomische Basis, um die eigene Bevölkerung von Kritik an vormodern anmutenden politischen Strukturen abzuhalten.
Bereits die Einleitung, mehr noch aber die beiden ersten, von den Herausgebern verfassten Beiträge zu Tunesien und Ägypten lassen das Ziel des Sammelbandes erkennen, das bislang im Westen gepflegte Bild eines „Demokratie resistenten Islam“ anhand der geschilderten arabo-islamischen Realität zum Einreißen zu bringen. Gerade jene Regime, die sich im Westen jahrelang in besonderer Weise als Verbündete für den Kampf gegen den als „zentrale Bedrohung des 21. Jahrhunderts“ heraufbeschworenen Islamismus darzustellen vermochten, sind als erste dieser demokratisch intendierten Revolutionsbewegung zum Opfer gefallen. Offensichtlich lassen sich die demokratischen Errungenschaften der westlichen Aufklärung mit dem Islam sogar besser vereinbaren als mit manch einem zivilisationsfremden Säkularismus. Bezeichnenderweise wird dem explizit islamisch gerechtfertigten, auf die Prophetenabstammung sich stützenden marokkanischen Königshaus das Potential zur Durchsetzung demokratischer Reformen nachgesagt.
Die Tatsache, dass „demokratische Vorkämpfernationen“ wie die USA, Frankreich und Großbritannien gerade den besonders säkularistisch sich präsentierenden Regimen bis fast zum Schluss die Treue hielten, wird vielmehr als Beleg herangezogen, dass der Westen seine Interessen mit den autoritären Obrigkeitsstaaten leichter glaubte, durchsetzen zu können als mit demokratisch gewählten, der eigenen Gesellschaftstradition verpflichteten Repräsentanten. Die Rechtfertigung für diese, den eigenen humanistischen Idealen entgegenstehende Politik wurde mit dem „Kampf gegen den islamistischen Terrorismus“ gefunden.
Die Revolutionäre verhielten sich jedoch klug genug, auf antiwestliche Parolen radikaler Islamisten zu verzichten und zwangen damit die westliche Medienöffentlichkeit, immer mehr für sie Partei zu ergreifen. Wurde der gescheiterte Versuch der französischen Regierung, die tunesische Jasmin-Revolution am Erfolg zu hindern, sehr bald offenbar, blieb Paris hernach nur noch das zügige Arrangement mit der neuen Führung, sowie anschließend die politische und militärische Unterstützung der libyschen Rebellen in ihrem Widerstand gegen den Gaddafi-Clan zur Gesichtswahrung in In- und Ausland übrig.
Vor dem Hintergrund der ohne Scheuklappen zum Ausdruck gebrachten Fehleinschätzung europäischer Regierungen in der Vergangenheit kann der Sammelband nicht nur als Orientierungshilfe für an der Region interessierte gewöhnliche Europäer eingestuft werden. Darüber hinaus stellt er einen Weckruf an die westlichen politischen Verantwortungsträger dar, zu erkennen, dass die arabische Civil Society in ihrem Kampf für demokratischen Fortschritt in ihren Ländern Verbündete im Ausland benötigt, die, getragen von umfangreichen Kenntnissen der jeweiligen nationalen Konditionen, gegenüber jedem einzelnen arabischen Land eine geeignete Strategie für künftige Außenpolitik entwickeln.
Frank Nordhausen & Thomas Schmid (Hrsg.): Die arabische Revolution – Demokratischer Aufbruch von Tunesien bis zum Golf, Ch. Links Verlag, Berlin 2011
ISBN 978-3-86153-640-6, Umfang 215 Seiten, Preis 16, 90 €
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