Artikel Montag, 24.01.2011 |  Drucken

Der schmale Grad zwischen Aufforderung zu kritischer Schülerreflexion und Förderung eines verzerrten Islambildes – Eine Schulbuchkritik von Mohammed Khallouk über den Bereich Islam des vom Cornelsen Verlag herausgegebenen Geschichtsbuches „Von der Antike bis zur Gegenwart“ (Berlin, 1. Auflage 2010)

Um der vielfach anzutreffenden oberflächigen Thematisierung von Problemen und Konflikten innerhalb und bezogen auf die Islamische Welt und ihr Verhältnis zum Westen in deutschsprachigen Medien begegnen zu können, erscheint es angemessen, den Islam und seine Zivilisation verstärkt zum Inhalt des Geschichtsunterricht in deutschen Schulen zu erheben. Der Cornelsen Verlag hat deshalb in sein dieses Jahr herausgegebenes Geschichtsbuch für 10. Klasse des Gymnasiums ein eigenes Großkapitel mit 8 Unterkapiteln zum Islam hinein gefügt. Die Schüler sollen durch dieses Lehrbuch offenbar nicht nur umfangreich über den Islam, die historische Entwicklung der Islamischen Welt und häufig religiös gedeutete Konflikte zwischen muslimischen und westlich-christlichen politischen Mächten informiert werden. Hintergedanke dieser Konzeption scheint auch darin zu liegen, zu selbstständigem Hinterfragen vorgefasster Meinungen aufzufordern und die Divergenzen im Islamverständnis verschiedener islamischer Gelehrter wie nichtmuslimischen Historiker nachzuvollziehen und in den jeweiligen Kontext einzuordnen. Angesichts der Vielfalt in dem Buch präsentierter Textpassagen unterschiedlicher Autoren, zu denen die kritische Auseinandersetzung als explizite Aufgabe mittels zugehöriger Fragestellungen gefordert wird, kann dieses Anliegen der Herausgeber im gesamten Kapitel herausgelesen werden.

Da an einigen Stellen problematische oder sogar eindeutig falsche Interpretationen unkommentiert eingefügt sind, kann jedoch das vorgegebene und prinzipiell unterstützenswürdigende Ziel nicht in angestrebter Weise erreicht werden. Mag die Einstufung des Islam als „Gesetzesreligion“ zu Beginn des dritten Unterkapitels bereits der voreingenommenen und dementsprechend selektiven Wahrnehmung einiger christlicher Theologen entstammt sein, wenn der katholische Kirchenkritiker, sowie weltweit angesehene Tübinger Theologieprofessor und Ethiker Hans Küng als „Islamexperte“ die Dschihad Bedeutungen erläutern soll (S.105), erscheint dies – bei allem Respekt vor Küngs unzweifelhaftem Fachwissen auf seinem Spezialgebiet – ein wenig deplatziert. Zumindest das Zitat, das Küng als konkreten Beleg für das angebliche „kämpferische Dschihad – Konzept“ anführt, hätte man nicht unkommentiert lassen dürfen, denn hierin ist von „kämpfen“ in keiner Weise, wohl aber von „glauben“ und „abmühen“ die Rede. Es müsste somit eindeutig zu dem zuvor genannten auf „Anstrengung“ hinauszielenden wörtlichen Dschihadverständnis gezählt werden.

Lobenswert ist sicherlich, dass der Dhimmi-Statut und die Kopfsteuer (dschizya), die Anhängern anderer Buchreligionen im traditionellen islamischen Herrschaftsgebiet auferlegt waren, nicht - wie sonst bei westlichen Historikern häufig anzutreffen – als Zeichen der „Intoleranz des Islam“ ausgelegt werden. Ebenso wenig wird der Zusammenhang zwischen den christlichen Kreuzzügen und der Entstehung und Ausbreitung der kriegerischen Dschihad-Interpretationen außer Acht gelassen.

Die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Juden, Christen und Muslimen im Mittelalter auf eine kurze – zweifellos bedeutsame - Periode unter den Taifa-Königen im arabischen Al Andalus zu reduzieren (wie bei Hottingers Text auf Seite 121), erscheint jedoch ein wenig fragwürdig. Schließlich hat es zu jener Zeit auf der anderen Seite des Mittelmeers, im Nahen und im Mittleren Osten ebenfalls bedeutende Kooperationen von Gelehrten der drei Religionen gegeben. Sie bestanden unter muslimischer wie auch unter christlicher Herrschaft – zeitweise fanden sie sogar in den fränkisch errichteten Kreuzfahrerstaaten statt. Der auch als arabischer Philosoph bedeutende Jude Maimonides konnte seine medizinischen Kenntnisse schließlich am Hof in Kairo zur Geltung bringen.

Immerhin wird die Tatsache in keiner Weise ausgespart, dass die Bedrohung für diese friedliche Kooperation von extremen, intoleranten und kriegerischen Auslegungen sowohl des Islam als auch des Christentums ausging, wobei allerdings noch die unterschiedliche Behandlung der jüdischen Minorität seitens der Muslime und der Christen stärker hätte herausgehoben werden müssen. So hatten die Juden zwar unter Almoraviden wie Almohaden durchaus unter Verfolgung, Unterwerfung (S.118) und sogar Konversionsdruck zu leiden, gegen sie wurde von muslimischer Seite jedoch niemals ein systematischer Ausrottungskrieg vergleichbar den antijüdischen Pogromen und Kreuzzügen (S. 113) im christlich geprägten Mittelalter geführt.

Türken- und Islambild

Der hohe Stellenwert, der dem Osmanischen Reich (Unterkapitel 5) und der Republik Türkei in diesem Lehrbuch zugewiesen ist, mag, bezogen auf die Gesamtausdehnung der Islamischen Welt - vom nördlichen Schwarzafrika bis nach Südostasien - , unverständlich erscheinen, angesichts der geographischen Nähe zu Europa, des permanenten Austauschs der osmanisch-türkischen Zivilisation mit den europäischen Zentren und der aktuellen politischen Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei erscheint dies jedoch berechtigt. Für die Herausbildung eines kritischen Blicks auf Medien und veröffentlichte Meinungen erweist es sich gerade auch bei dieser Gegenwartsdebatte als berechtigt, die verschiedenen Sichtweisen, repräsentiert durch Heinrich August Winkler und Dieter Oberndörfer (S.130/131) gegenüberzustellen.

Dieses differenzierte Türkei – und Türkenbild kann bei den Schülern jedoch nicht heranreifen, wenn wichtige Ereignisse der türkischen Geschichte einseitig und unkommentiert dargestellt werden. Nach türkischer Lesart habe es einen „Genozid an den Armeniern“ während und nach dem Ersten Weltkrieg nicht gegeben. Diese Sichtweise sollte man sich zwar in keiner Weise aneignen, geschweige denn bei deutschen Schülern fördern, allerdings wäre es angebracht, zumindest zu erwähnen, dass hier divergente Geschichtsinterpretationen bestehen, anstatt unreflektiert den „Genozid“ als gegeben hinzustellen.

Islam nicht nur durch die politische Brille sehen

Für die aktuelle Islamdebatte erweist sich aber noch mehr das Unterkapitel 7 als bedeutsam an, wo Narvid Kermani und Nasr Hamid Abu Zaid mit ihren Texten dazu beitragen dürfen, das häufig einseitige Koranbild in der deutschen Öffentlichkeit der Realität anzunähern. Hier ist das unterstützenswürdigende Anliegen der Autoren des Schulbuchs zu erkennen, das Augenmerk darauf zu legen, dass der buchstabenorientierte islamische Fundamentalismus eine innerislamische minoritäre Strömung darstellt, die im Wesentlichen erst in der jüngsten Zeit festzustellen ist.
Ebenso bedeutsam wäre es jedoch zwischen Islamischem Fundamentalismus und Islamismus zu differenzieren, wobei zu letzterem zudem eine radikale und eine gemäßigte Variante gegenübergestellt werden müsste. Indem der seit den 1970er Jahren aufgekommene Islamismus undifferenziert als „Islamischer Fundamentalismus“ (S. 137) gekennzeichnet wird, wird jene Buchstabentreue in Beziehung zu Heiligen Texten des Islam mit religiös-politischem Extremismus gleichgesetzt. Eine feindliche Einstellung gegenüber Israel, die mit dem Charakter von Juden generell gerechtfertigt wird, trat – anders als in diesem Buch dargestellt -nicht erst bei den Islamisten auf, arabische Nationalisten vertraten sie ebenfalls. Der Hintergrund des Nahostkonflikts darf hierbei zudem nie ausgeblendet werden, um keinesfalls die Schlussfolgerung nahe zu legen, der Islam befördere eine judenfeindliche Einstellung.
Die Geltung der Scharia über den privaten-individuellen Bereich hinaus ist allgemeine muslimische Forderung, lediglich die Anwendung bestimmter Rechtspraktiken wie der Houdud-Strafen, die heutzutage in fast keinem Islamischen Staat praktiziert werden, wieder anzuwenden, ist eine Forderung, die speziell von Islamisten – und auch dort nur von den radikalen Strömungen erhoben wird.

Wird der antiwestliche Kurs des Iran seit 1979 als Grund für die westliche Unterstützung des Irak im Ersten Golfkrieg dargestellt, erscheint dies wie eine nachträgliche Rechtfertigung für die Aufrüstung des Saddam-Regimes in den 80er Jahren, das man kurze Zeit später selbst zum Hauptfeindbild erklärt und sich dementsprechend als Kriegsgegner gegenüber sah. Indem für den Zweiten Golfkrieg der anglo-amerikanische Propagandabegriff der „Befreiung Kuwaits“ unhinterfragt übernommen und die US-Außenpolitik seit dem 11. September 2001 als „Krieg gegen Staaten, die den Terror unterstützten,“ gekennzeichnet wird, sieht man sich nicht in Lage, zum gegenseitigen Respekt zwischen Westen und Islamischer Welt beizutragen.

Zumindest der anschließende Hinweis, dass eine Verbindung zwischen Saddam Hussein und Al Qaida sich im Nachhinein nicht bestätigt hat, hätte zur Reflexion des eigenen zuvor präsentierten „Tatsachenberichts“ führen müssen. Wie lässt sich erwarten, dass Schüler der 10. Gymnasialklasse eine fundierte Analyse der Rede George W. Bushs von September 2001 (S. 135) und der anschließenden Entwicklung in Irak und Afghanistan zu treffen in der Lage sind, wenn der zuvor gegebene historische Abriss große Teile der Propaganda seiner Administration unhinterfragt einbezieht?
Zusammenfassend sollte die pädagogische Intention dieser ausführlichen Thematisierung der Islamischen Welt im deutschen Geschichtsunterricht Unterstützung finden. Hier hebt sich der Cornelsen Verlag in vorbildlicher Weise von anderen Schulbuchverlagen ab, die diesem vom gegenwärtigen Blickpunkt aus hochaktuellen und angesichts einer weiter ansteigenden Anzahl an Muslimen in Deutschland an Bedeutung noch zunehmenden Thema allenfalls ein dreiseitiges Unterkapitel zugestehen. Auch die häufige Präsentation von divergenten Sichtweisen mit der Aufforderung zur kritischen Analyse erscheint angemessen und kann von Gymnasiasten der 10. Klasse berechtigterweise abverlangt werden. Indem allerdings eindeutig falsche oder einseitige Darstellungen Dritter in die allgemeine Beschreibung des historischen Geschehens aufgenommen und unkommentiert gelassen werden, wird das eigene hochgesteckte Lernziel immer wieder konterkariert.


P.S.:Es fehlen Kapitel über die islamische Mystik (Sufismus) und Philosophie. Unverständlich, daß man erneut ohne Beiträge von Muslimen meint auszukommen. Die Ausnahmen, Navid Kermani und Nasr Hamid Abu Zaid, zählen bedingt, zumal letztere so tut, als habe es vor ihm keine historisch-kritische Auseinandersetzung von Muslimen gegeben.. Auf S. 4 ist das Todesjahr von Muhammad versehentlich mit 652 angegeben. (Auf S. 5 ist es richtig.)

Zum Autor: Dr. Mohammed Khallouk ist Soziologe, Islamwissenschaftler und Habilitand bei Prof. Michael Wolffsohn. Er ist zudem wissenschaftlicher Berater des Zentralrates der Muslime in Deutschland.




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