Artikel Montag, 21.06.2010 |  Drucken

Sechs Wochen im Rollstuhl: Über die Heuchelei in unserer Gesellschaft

Als ich mich seinerzeit für sechs Wochen in einen Rollstuhl setzte, um das Leben eines Behinderten zu erleben, durfte ich erfahren, was es heißt, außerordentlich freundlichen Menschen gegenüber zu stehen, die mich am liebsten zum Mond gewünscht hätten. Dass ich das tat, war ein Bestandteil meiner Abschlussarbeit zum Staatsexamen für Heilpädagogik.
Bewusst stellte ich mich überall, wo viele Menschen vorbei oder durch mussten, in den Weg und zwar so, dass ich für alle einfach nur ein Hindernis war. Doch keiner sagte etwas Abfälliges, alle hetzten an mir mehr Schlecht als Recht vorbei. Wenn sie sich dann weit genug weg wiegten, vernahm ich dann oftmals jene zynischen Bemerkungen, die sie sich nicht trauten, mir gegenüber zu äußern.

Ich glaube, ich hätte rülpsen und furzen können, wie ich wollte, alles nur nette Menschen um mich oder solche, die sich schnell entfernten. Der Eine oder Andere quälte sich dabei sogar ein Lächeln ab. Irgendwie fühlte ich mich richtig mächtig. Ich spürte, dass Behinderung einem auch Macht gibt, einen Anderen seinen Willen aufzuzwingen, ohne dass er sich zu wehren traut.

Nanu, waren die Menschen plötzlich alle lieb geworden?
Schon immer hatte ich mich gewundert, wie sehr sich Menschen erregen, wenn es um ein Element in unserer Gesellschaft ging, dass etwas von der Norm abweichte, eben etwas anders war und über dieses Element dann in irgendeiner Form abwertend geurteilt wurde.
Doch war das immer ehrlich? Erstaunlicherweise treten solche Erregungszustände immer nur dann auf, wenn Publikum vorhanden ist, wo sich der Einzelne dann selbst darstellen kann.

Diese Menschen suchen dann das Haar in der Suppe und regen sich über geringschätzige Bemerkungen und Witze auf, wenn genügend Zuhörer vorhanden sind. Es ist übrigens interessant, das anzutesten. Man braucht dem Ball nur einen Denkansatz anzuhaften und dann einwerfen. Schon knallen die Phantasien mit Unterstellungen durch und Jeder will sich mit der angepassten Meinung präsentieren.
Doch wenn diese Leute sich unbeobachtet fühlen oder Farbe bekennen müssen, sieht die Wirklichkeit schon völlig anders aus. So mancher Opa oder so manche Oma wird ein Liedchen davon singen können, wenn sie plötzlich gepflegt werden mussten.

Auch das Vokabular ändert sich sehr rasch, wenn diese Geschöpfe sich so geben können, wie sie wirklich sind. Es gibt weiterhin Witze über Minderheiten. Und es wird weiterhin herzlich darüber gelacht. Auch jene lachen dann, die sich vor Publikum darüber aufgeregt hatten. Leider.
Das verstehe ich unter Heuchelei.Doch Gott weiß und sieht das...
Kurt Nickel





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