Artikel Mittwoch, 22.07.2009 |  Drucken

Grundgesetz als Grundlage des Miteinanders verschiedener Religionen und Kulturen - Prominente erklären sich in einer SPD-Festschrift. Von Mohammed Khallouk

Ein Jubiläum als Anlass zu Feier und Reflexion erkannt
Das Grundgesetz feiert in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag. Für manchen, in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsenen mag die Garantie der in den ersten 21 Artikeln dieses Grundgesetzes formulierten Grundrechte bereits wie eine Selbstverständlichkeit erscheinen.
Eine Reihe prominenter Vertreter des öffentlichen Lebens haben diesbezüglich eine Broschüre mit dem Titel „Leben in Deutschland mit den Grundrechten“ zusammengestellt, die der SPD-Bundesvorstand herausgebracht hat.

In dieser Broschüre stellen die Autoren heraus, dass der auf diesem Grundgesetz basierende Rechtsstaat in Deutschland nur deshalb bereits so lange Bestand hat, weil die deutsche Gesellschaft in ihrer Gesamtheit die hierin garantierten Grundrechte als immer wieder neu zu erstreitenden Wert zu würdigen gewusst hat. Das runde Datum dient den Herausgebern als willkommene Gelegenheit, jeden einzelnen Grundrechtsartikel im vollständigen Wortlaut für die Allgemeinheit vorzustellen und seine Dimension für das Zusammenleben in der heterogenen demokratischen Gesellschaft herauszuheben.

Nach einer Einleitung und historischen Replik auf Entstehung und Weiterentwicklung des Grundgesetzes durch Bundesaußenminister und SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier wird jeweils ein Artikel oder ein wesentlicher Abschnitt daraus von einem Prominenten in seiner Relevanz für alle Mitglieder der demokratischen Civil Society in Deutschland erläutert. Dabei wird der Auftrag dieses Grundgesetzes, für individuelle und kollektive Freiheiten wie allgemeine Menschenrechte in Deutschland aber auch jenseits der deutschen Grenzen einzutreten, in den Mittelpunkt gestellt.

Bereits in seiner Einleitung weist Steinmeier daraufhin, wie kurz diese 60 Jahre eigentlich sind im Vergleich zu dem zuvor gegen die verschiedensten Diktaturen gerichteten Kampf couragierter deutscher Bürger für die Gültigkeit der in diesem Grundgesetz festgesetzten demokratischen Errungenschaften. Einem Teil des Landes sind sie sogar erst seit knapp 20 Jahren vollständig zugestanden und auch innerhalb der Demokratie war, ist und bleibt Engagement für ihr Fortbestehen unentwegt erforderlich.

Jedes Grundrecht wird gesondert gewürdigt
Zu jedem der 21 auf die Grundrechte bezogenen Artikel, teilweise sogar zu einzelnen Passagen daraus, wurde ein Statement eines Prominenten abgegeben. Hiermit erreicht es die Broschüre nicht nur, das bereits 60 Jahre alte Grundgesetz als Ganzes in seiner Bedeutung für die gesellschaftliche Gegenwart vor Augen zu führen, vielmehr wird jedes einzelne Grundrecht in seinem praktischen Bezug für das Individuum wie für das Kollektiv plausibel. Zugleich wird dem Leser das Bewusstsein vermittelt, dass diese Grundrechte eben keine spezifisch für Deutschland oder für Deutsche formulierten Rechte beinhalten, sondern demokratische Errungenschaften des Nachkriegsdeutschlands, die allen Menschen an jedem Ort und möglichst zu jeder Zeit zuteil werden sollten.

Die Schauspielerin Iris Berben fasst die Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1) als bewusstes Partei ergreifen gegen die Verletzung der Menschenwürde anderer Staaten und Regionen auf. Gerade weil dieses wunderbare Grundgesetz für ein Leben in Deutschland so viele Freiheiten ermöglicht, sollte die freie Entfaltung (Art.2) für Adnan Maral als Verpflichtung verstanden werden, diese Freiheiten den anderen Menschen gleichermaßen zuzugestehen. Deren Andersartigkeit darf, worauf Mo Asumang hinweist, dafür kein Hindernis darstellen, denn alle Menschen auf dieser Erde, so sehr sie sich auch sonst unterscheiden mögen, gelten vor dem Gesetz als gleich (Art.3).
Die evangelische Landesbischöfin Margot Kässmann erhebt angesichts des Rechts auf freie Religionsausübung (Art.4) gegen die weltweite Verfolgung von Christen ihre Stimme. Hier wäre es angebracht gewesen, zu ergänzen, dass im christlich geprägten Deutschland die nichtchristlichen Religionen, insbesondere der Islam, ihre gesellschaftliche Gleichberechtigung ebenfalls bis zum heutigen Tage erkämpfen müssen. Schließlich erhält ein Grundrecht erst die volle Wirksamkeit, wenn es von allen gesellschaftlichen Verantwortungsträgern im Sinne der Betroffen verstanden und diesen in vollem Umfang zugestanden wird.
Angesichts des grundgesetzlich garantierten Schutzes von Ehe und Familie (Art. 6) stellt Katharina Saalfrank heraus, dass Rechte immer auch Pflichten mit sich bringen und individuelle Freiheit ohne Verantwortung für die Mitmenschen nicht zu haben ist. Die Übernahme von Verantwortung des einzelnen Bürgers, insbesondere im Bereich von Ehe und Familie, erfordert jedoch einen Rückzug des Staates aus jeglichen Angelegenheiten, welche zwischenmenschliche Beziehungen betreffen. Hierauf hebt der Schauspieler und Moderator Ole Tillmann angesichts des Brief- , Post- und Fernmeldegeheimnisses (Art. 10) ab.
Dass nicht jedes Grundrecht jedem zu jeder Zeit die Realisierung seiner individuellen Anliegen sichert, problematisiert der Schriftsteller Thomas Brussig angesichts der Berufsfreiheit (Art. 12). Zwar könne man theoretisch jede gewerbliche Tätigkeit ausüben, der Traumberuf stehe in der Praxis aber nur den Wenigsten frei.
Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis wird auch bei den Ausführungen des freien Journalisten und Schriftstellers Mohamed Massad zum Asylrecht (Art.16 a) aufgezeigt. Der selbst auf einen Migrationshintergrund zurückschauende Massad schätzt die Aufnahmebereitschaft Deutschlands für Menschen von außerhalb, besonders für jene, denen in ihren Heimatländern elementare Menschenrechte verweigert werden, sehr. Diese Menschenrechte müssten jedoch in den für sie bestimmten Unterkünften im Aufnahmeland Deutschland in vollem Umfang erfahrbar werden. Gerade an den Beschäftigten in Asylbewerberheimen lässt sich exemplarisch verdeutlichen, welche Herausforderung das Grundgesetz in einer durch anhaltende Immigration zunehmend inhomogener und multikultureller werdenden Civil Society stellt. Ohne interkulturelle Kompetenz wird das Verständnis für das Begehren von Mitgliedern anderer Kulturen wohl kaum in erwünschtem Maße aufgebracht.
Die Möglichkeit, bei Missbrauch Grundrechte zu entziehen (Art.18), sieht die Sängerin Ulla Meinecke erst als Grundlage dafür, dem inneren Frieden und somit auch der Grundrechtsgarantie als solcher Dauerhaftigkeit zu sichern. Bundesjustizministerin Brigitte Zypries weist außerdem darauf hin, gegen eine behördliche Einschränkung von Grundrechten kann jeder sich gerichtlich zur Wehr setzen (Art.19).

In seinem abschließenden Resumé hebt der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering noch einmal gesondert darauf ab, dass das Grundgesetz sich nicht nur an die deutschen Staatsbürger richtet, sondern an alle Menschen, die in Deutschland leben. Hierin liegt letztlich das Fundament des Kulturpluralismus und der Einwanderungsgesellschaft. Freiwillig betreten Menschen von außerhalb deutschen Boden schließlich nur, weil sie davon ausgehen können, dass ihnen hier die gleichen Grundrechte wie den seit langem in Deutschland Ansässigen garantiert sind.

Indem ebenso viele Statements wie existierende Grundrechte in dieser Broschüre vorgebracht werden, demonstrieren die Herausgeber, dass sie den Auftrag des Grundgesetzes, Vielfalt zuzulassen, ernst genommen haben. Die permanente, bisweilen kritische Gegenüberstellung der Grundrechte und ihrer praktischen Durchsetzung, öffnet die Augen für gesellschaftliche Unvollkommenheiten. Diese können nur durch fortgesetztes Engagement jedes Einzelnen im Sinne des Grundgesetzes beseitigt oder zumindest verringert werden. Das Grundgesetz erweist sich nicht in erster Linie als 60 Jahre altes Dokument, sondern weit mehr bietet es einen Wegweiser für die Zukunft.



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