Newsinternational Montag, 08.09.2008 |  Drucken

In Kaschmir stirbt die Freiheit – Von Navid Kermani

Der vergessene Konflikt - „Verblüffend, dass die Wahrnehmung des Westens fast so selektiv ist wie in totalitären Staaten“

Ein paar Orte habe ich bisher auf der Welt gefunden, die allen Lobeshymnen, Besuchermassen und Postkarten, ihrer eigenen Ikonographisierung standhalten. Die unzähligen Beschreibungen und Bilder vor Augen, hatte ich mir bereits die Gründe zurechtgelegt, um die zwangsläufige Enttäuschung abzumildern, und dann war ich vom ersten Anblick an doch so verzaubert, als hätte niemand vor mir das Wunder gesehen, ja, als sei ich der Entdecker, und mochten ringsum noch so viele Touristen in kurzen Hosen schnattern oder Diktatorenposter auf die unfreundliche Gegenwart verweisen.

In Venedig ging mir das so, am Taj Mahal, vor den Skulpturen Berninis oder jedes Mal, wenn ich den Schah-Platz in Isfahan betrat - und in Kaschmir. Vielleicht hundertfach hatte ich aufgeschnappt, dass das Tal ein Paradies auf Erden sei, schon in der klassischen persischen Poesie, in alten Reiseberichten und in beinahe jedem dritten Artikel, der in meiner Pressemappe lag. Und dann war es tatsächlich das Paradies mit tiefgrünen Wiesen, riesigen Laubbäumen, vielfarbigen Seen, märchenhaften Gärten, den weißen Gletschern ringsum, der Anmut seiner Menschen und Schönheit der buntgekleideten Frauen, ja, das Paradies der Offenbarungen, als hätte Gott den Gerechten nicht etwas Himmlisches verheißen, sondern einen Ort, wie er ihn auf anderthalbtausend Metern Höhe bereits erschaffen hat, nördlich von Indien, östlich von Persien, westlich von China, südlich von Russland, um möglichst viele Weltreiche zu inspirieren. Nicht bedacht (im besten Fall) hat Gott, dass Inspirationen in der Weltpolitik meist Kriege zur Folge haben.

Seit dem 14. Jahrhundert hatte Kaschmir fremde Herrscher, die es eroberten, ausbeuteten und es gern auch verschacherten. Nach dem Rückzug der Briten 1947 fiel der größere Teil des Landes trotz seiner überwiegend muslimischen Bevölkerung an Indien, der Westen an Pakistan, ein Streifen im Nordosten später an China. Vor den Vereinten Nationen verpflichtete Indien sich auf ein Plebiszit, in dem die Kaschmiris selbst über ihr Schicksal entscheiden sollten. Dazu ist es nie gekommen, stattdessen zu drei Kriegen mit Pakistan. Immerhin gewährte Delhi der Provinz weitgehende Autonomie, doch nach einer Serie offenkundiger Fälschungen bei den Regionalwahlen brach 1989 ein bewaffneter Aufstand aus, der bis zu hunderttausend Menschen das Leben gekostet hat - bei einer Einwohnerzahl von 5 Millionen.

Etwa 600 000 Soldaten soll die indische Armee in der Provinz stationiert haben, die meisten im Kaschmir-Tal, das gerade einmal doppelt so groß ist wie das Saarland. Es gibt auf der ganzen Welt keine auch nur annähernd vergleichbare Präsenz von Streitkräften. Soldaten in allen Städten, in allen Dörfern, auf den Überlandstraßen genauso wie auf den Nebenstraßen, den Hauptstraßen, den Gassen und sogar den Feldwegen, ja auf den Feldern selbst. Für die Inder ist es ein Krieg gegen den Terrorismus. Für die Bevölkerung ist es Besatzung.

Als ich Kaschmir im letzten Herbst bereiste, schien der Aufstand sich erschöpft zu haben. Fed up war der Ausdruck, den ich mit Abstand am häufigsten hörte, fed up von den nächtlichen Durchsuchungen, den Ausweiskontrollen, den Straßensperren, den Verhaftungen, Vergewaltigungen und Entführungen, die alle relevanten Menschenrechtsorganisationen dokumentieren, fed up vor allem von der Willkür dieser fremden Soldaten, die mit ihren geladenen Maschinengewehren noch die Hühnerställe zu bewachen scheinen. Nicht zu überhören war, dass die Kaschmiris immer noch den Ruf nach Azadi im Herzen tragen, nach Freiheit, doch ungleich dringlicher schien der Ruf nach Frieden. So überraschte es mich nicht, als die indische Regierung verkündete, den militanten Widerstand besiegt zu haben.

Nun ist, wie aus dem Nichts und ohne viel Zutun der politischen Führer, eine Protestbewegung entstanden, die so groß ist wie jene von 1989. Bleibt sie den muslimischen Extremisten, pakistanischen Agenten und indischen Provokateuren zum Trotz friedlich, hätte Kaschmir doch noch eine Chance. Für die nach Zahlen größte Besatzungsmacht der Welt stellen einige Hundert Militante keine allzu große Herausforderung dar, gewaltfreie Massenbewegungen hingegen sehr wohl. Keine Nation weiß das besser als Indien.

Ausgelöst hat den Protest die Vergabe eines 40 Hektar großen Landes an eine indische Pilgerorganisation im vergangenen Juni. Pilgerten bis 1989 jährlich etwa 20 000 Hindus zu den Höhlen von Amarnath, sind es inzwischen 400 000, die in den Augen der Hindu-Nationalisten den Anspruch auf Kaschmir demonstrieren. Richtig oder falsch, die Muslime sahen in der Landvergabe den Beginn einer Siedlungspolitik wie in Palästina, mit der die hinduistische Präsenz in Zement gegossen werden sollte.

Innerhalb von Tagen war das gesamte Tal in Aufruhr. Die Streiks und Demonstrationen zwangen die Behörden dazu, die Landvergabe rückgängig zu machen. Das empörte die Hindu-Nationalisten in Jammu so sehr, dass sie die einzige Verbindungsstraße nach Kaschmir blockierten. Daraufhin zog ein gewaltiger Protestmarsch von Kaschmiris in Richtung der pakistanischen Grenze, um die Öffnung der Straße nach Muzaffarabad zu verlangen. Als die indische Armee das Feuer eröffnete, starben vier Menschen, unter ihnen Separatistenführer Scheich Abdul Aziz. Zur Beerdigung und in den Tagen danach strömten die Menschen auf die Straße, täglich 200 000, sagen die Behörden. Ein Witz, sagen Augenzeugen. Weitere Menschen starben, inzwischen 42 seit Beginn der jüngsten Unruhen. Jetzt haben die Behörden ein strenges Ausgehverbot verhängt.

Wieso erfährt man kaum etwas über diesen Aufstand, von den Schüssen in die Menge, dem Verlangen eines Volkes nach Freiheit? Hier und dort eine Meldung, meist dann, wenn versprengten Gruppen doch ein Anschlag gelingt, ausführliche Berichte dagegen nur in England. Jedes Mal verblüfft es einen von neuem, dass die Wahrnehmung des Westens fast so selektiv ist wie in totalitären Staaten. Russland ist wieder schlecht, also sind es auch die abchasischen Separatisten. Wunderbar, denke ich, wenn sich das Recht weltweit Geltung verschafft, und bin umso ernüchterter, wie simpel auch wir die Welt in Gut und Schlecht aufteilen. Iran ist nach den Kriegen in Afghanistan und im Irak noch schlechter, als es ohnehin schon war, seitdem bedroht sein Atomprogramm den Weltfrieden. Indien hingegen, weil es seit dem 11. September 2001 gut ist, darf den Atomwaffensperrvertrag - mit ausdrücklicher Absegnung durch einen amerikanischen Vertrag - verletzen. Und in Kaschmir tut es nichts anderes, als sich gegen islamische Terroristen zu wehren.

Dass politische Blöcke die Wirklichkeit so filtern, liegt nahe. Weil aber eine freie Öffentlichkeit diese Filterung übernimmt, stirbt in Regionen wie Kaschmir die Freiheit. So kompliziert der Konflikt ist, so verheerend es für jede Minderheit wäre, würde man die Geschicke des multireligiösen Bundesstaates von der Mehrheit bestimmen lassen, so fest stehen dennoch seit Jahren die Grundzüge eines möglichen Friedens: Autonomie mit offenen Grenzen zum pakistanischen Teil, regionaler Selbstverwaltung in den drei Provinzen Jammu, Kaschmir und Ladakh, Rückzug der Armee.

Nichts anders hatten in den neunziger Jahren der indische Ministerpräsident Vajpayee und der pakistanische Präsident Musharraf vorgeschlagen. Sie reagierten damit auf den Druck der Clinton-Administration, die Kaschmir wegen der indischen und pakistanischen Atombomben zum gefährlichsten Konflikt der Welt erklärt hatte. Bis auf einige Radikale signalisierten alle politischen Gruppen in Kaschmir Zustimmung und erklärten den bewaffneten Kampf für beendet.

Auch Vajpayees Nachfolger Singh hat sich noch in diesem Sinne geäußert: Die Grenzen sollten nicht aufgehoben, aber irrelevant gemacht werden. Geschehen ist seit 2004 jedoch nichts, keine weiteren Verhandlungen, keine Friedenskonferenzen. Mit der neuen indisch-amerikanischen Allianz ist der äußere Druck von Indien gewichen, sich auf einen Kompromiss einzulassen. Mit ihren gewaltfreien Demonstrationen haben die Kaschmiris zum einzig verbliebenen Mittel gegriffen, von innen Druck auszuüben.

Nachdem die meisten Separatistengruppen ihre Waffen niedergelegt hatten, waren zumindest die indischen Touristen in die Hausboote am Dal-See zurückgekehrt. Käme das Tal dauerhaft zur Ruhe, würde der Massentourismus nicht auf sich warten lassen. Kaschmirs Zauber hielte ihm stand.(Erstveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung in er Süddeutschen Zeitung vom 02.09.08)


Zum Autor: Navid Kermani ist Schriftsteller und Orientalist aus Köln und veröffentlichte zuletzt den Roman "Kurzmitteilung" (Ammann Verlag). Zurzeit lebt er als Stipendiat der Villa Massimo in Rom. Er ist Mitglied der staatlichen Islamkonferenz der Bundesrepublik Deutschland





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