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Dienstag, 26.08.2008 | Drucken |
Fastende Jugendliche im Schulalltag - Von Maryam Brigitte Weiß
Stellungnahme für den Interkulturellen Rat in Deutschland e.V. im Rahmen des bundesweiten Clearingprojekts „Zusammenleben mit Muslimen“
Einleitende Bemerkung:
Ziel dieser Informationsschrift ist es, den Informationsstand besorgter Lehrer und Pädagogen hinsichtlich der religiösen Fastenvorschriften zu verbessern, aber ihnen auch die pädagogischen Aspekte religiöser Verhaltensweisen nahe zu bringen und es ihnen so zu ermöglichen, die Jugendlichen in ihrer Identitätsbildung zu unterstützen. Dazu werden sowohl die religiösen als auch die pädagogischen und rechtlichen Aspekte des Fastens erläutert; doch zunächst Grundsätzliches:
Pädagogen wissen, wie der sozio-kulturelle Hintergrund - in erster Linie die Familie - das Selbstbild von Kindern beeinflusst. Aber auch die Schule (Lehrer, Mitschüler, Schulerfolg) hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Selbstbild der Jugendlichen. Das Fremdbild, das die Kinder anhand der Reaktionen von Lehrern und/oder Mitschülern wahrnehmen, beeinflusst wiederum ihr Selbstbild. Die Erfahrung einer Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdbild bleibt sicher keinem Menschen erspart und gehört zum Leben. Wenn sich Diskrepanzen aber gering halten lassen bzw. sich lediglich auf Randbereiche der Persönlichkeit beziehen, ist das während der sensiblen Zeit der Identitätsbildung sicher besser als die Erfahrung, dass die eigene kulturelle/religiöse Identität und damit das, was eine Person letztendlich ausmacht, vom Umfeld als Ganzes abgelehnt wird. Von Mitschülern kann man in dieser Hinsicht sicherlich nicht mehr als die Reproduktion gesellschaftlicher Wirklichkeit (d.h. der gängigsten Vorurteile) erwarten; Lehrer und Pädagogen dagegen müssen sich der Mühe unterziehen, das Selbstbild des jeweiligen Kindes tatsächlich kennenzulernen. Das ist nicht immer ganz einfach - vor allem, wenn die Klassen und der Zeitdruck groß sind, es eine heterogene muslimische Schüler- und Elternschaft gibt und die Frage nach der Integration bzw. eher der Assimilation derzeit von vielen Medien (jüngstes Beispiel die Diskussion um die Erstellung eines sog. „Lehrer-Leitfadsns“ bezüglich u.a. des Themas fastender Schüler in Berlin) als Kriterium gehandelt wird, von dem angeblich das Überleben oder der Untergang der Gesellschaft abhängt.
Es gehört zu den Binsenweisheiten, dass Abweichungen von einem als "normal" definierten Verhalten mehr Aufmerksamkeit erregen, als "unauffälliges" Verhalten und dass der Mensch versucht, "auffälliges" oder "abweichendes" Verhalten auf monokausale Ursachen zurückzuführen. Äußerungen einzelner Politiker, "Islamkenner" und die Medienberichterstattung haben dazu geführt, dass die Religionszugehörigkeit als Ursache jedweder Abweichung von hiesigen Verhaltensweisen angenommen wird, sobald es sich bei den beteiligten Akteuren um Migranten türkischen oder arabischen Ursprungs handelt. In den letzten Jahren haben wir erlebt, dass beim Thema "Ehrenmord" und "Zwangsverheiratung" zunächst nach diesem Schema vorgegangen wurde - beides wurde, sowohl von der Politik als auch von den Medien, als islamisch begründet definiert. Nach den entsprechenden wissenschaftlichen Forschungen und vehementen und gebetsmühlenartigen Wiederholungen der Muslime, dass dieses Verhalten islamisch verboten sei, ist die Politik von dieser Darstellung abgerückt; bei den Massenmedien und leider auch in den Köpfen vieler Mitmenschen ist diese Information bisher leider immer noch nicht in ausreichendem Maße angekommen. Nach wie vor wird ein Mordfall, in den Migranten mit vermeintlich muslimischem Hintergrund verwickelt sind, medial als "Ehrenmord" vermarktet; ist bei gleichem Motiv (z.B. Eifersucht) der kulturelle Hintergrund ein anderer, dann ist von einem "Familiendrama" zu lesen. Es muss also nicht verwundern, wenn Umfragen zeigen, dass sich diese Sichtweisen mittlerweile als "Wissen" über den Islam in der breiten Gesellschaft verankert haben. Dieses Hintergrund"wissen" befrachtet selbst praktisch einfach zu lösende Integrationsfragen mit einer Hypothek und verhindert häufig Lösungen, mit denen beide Seiten gut leben könnten. Es geht eben nicht bei jeder Integrationsfrage um "Alles oder Nichts" und nicht jeder Kompromiss ist ein "Einknicken" vor dem anderen.
Nach Ehrenmorden und Zwangsverheiratungen tauchen in jüngster Zeit sukzessiv neue "Problemfelder" auf, die sich jetzt allerdings nicht mehr gegen traditionelle und/oder nicht-islamkonforme Verhaltensweisen richten, sondern gegen das Rückgrat der Religion selbst, im Falle des Fastens gegen eine der fünf Säulen des Islams.
Damit befinden wir uns in einer anderen Dimension der Diskussion, und bei dieser Diskussion muss vehement darauf geachtet werden, dass bestimmte Kriterien erfüllt werden. Die Diskussion muss
• fachlich qualifiziert
• sachlich und unemotional
• im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung
geführt werden.
Es ist uns klar, dass viele Schulen bisher eher eindimensionale Erfahrungen mit Muslimen haben, dass diejenigen auffallen und das Bild prägen, die nicht gerade als Aushängeschild ihrer Religion gelten können. Einzelerfahrungen aber zu generalisieren und sie als "Beleg" für oder gegen etwas anzuführen, ist weder fachlich qualifiziert noch führt es zu einer Lösung. Jedem, der sagt: "Mein Schüler XY ist morgens im Unterricht eingeschlafen, weil er fastet, daher ist das Fasten für Jugendliche abzulehnen" kann ein Fastender gegenüber gestellt werden, der sagt: "Gerade an Fastentagen erledige ich sehr viel, denn ich stehe nicht nur früh auf, mein Tag ist auch nicht durch mittägliches Essen mit anschließender Müdigkeit unterbrochen; ich muss nicht auf ein nachmittägliches Wiederansteigen meiner Energiekurve warten." Die Generalisierung von Einzelfällen wird weder zu einer zufrieden stellenden Diskussion noch zu Lösungen führen können.
Das heißt nicht, dass den Bedenken von Lehrern und Pädagogen keine Beachtung geschenkt werden soll, es soll lediglich darauf hingewiesen werden, dass die Wahrnehmung einer Verhaltensweise als "problematisch" oder als "unproblematisch" sehr stark vom herrschenden Mainstream abhängt. Dass alles, was mit dem Islam zusammenhängt oder damit zusammenzuhängen scheint, zunehmend als Problem gesehen wird, lässt sich mit den Heitmeyer-Studien der letzten Jahren (leider) sehr plastisch belegen.
Wir plädieren also für eine sensible Wahrnehmung des Anderen, indem man sich immer wieder fragt: Warum stört mich die Verhaltensweise des Gegenübers? Was ärgert mich daran genau? Wie definiert das Gegenüber seine eigene Handlung? Nehme ich diese Definition wahr? Habe ich überhaupt danach gefragt? Stülpe ich ihm meine eigene Wertung über? usw.
Im Folgenden werden die religiösen Grundlagen, die pädagogischen und rechtlichen Aspekte des Fastens skizziert.
1. Religiöse Grundlagen
1.1 Ist das Fasten im Ramadan eine Pflicht?
Das Fasten ist neben dem Glaubensbekenntnis, dem Gebet, der Zahlung der Zakat und der Pilgerreise eine der fünf Säulen des Islams, hat also eine große Wertigkeit.
Im Quran heißt es: „Oh die ihr glaubt, das Fasten ist euch vorgeschrieben, so wie es denen vorgeschrieben war, die vor euch waren…"(Sura 2, Vers 183) Das Fasten ist nicht nur in allen abrahamitischen Religionen vorgeschrieben, sondern auch in nicht-monotheistischen Religionen verbreitet und erfüllt daher anthropologisch gesehen offensichtlich eine Funktion, die sowohl unter psychologischen als auch gesellschaftlichen Aspekten von Fachleuten schon ausgiebig wissenschaftlich untersucht wurde.
1.2 Wer muss fasten?
Fasten muss derjenige, der religionsrechtlich gesehen mündig ist (mukallaf). Das sind Menschen, die in die Pubertät eingetreten und zurechnungsfähig sind.
1.2 Welche Ausnahmen gibt es?
Vom Fasten ausgenommen sind Menschen, die zeitlich begrenzt oder chronisch krank sind, sich auf Reisen befinden, menstruierende Frauen und Wöchnerinnen. Wenn der Ausnahmegrund nicht mehr gegeben ist, werden die Fastentage nachgeholt, ansonsten werden sie mit einer Ersatzleistung (Kafara) abgegolten (nicht bei chronischer Krankheit).
1.3 Was beinhaltet das Fasten?
In der Fastenzeit geht es nicht nur darum, das Essen und Trinken sowie die sexuelle Betätigung während des Tages einzustellen. Wenn sogar üblicherweise erlaubte (und sogar geforderte) Verhaltensweisen bewusst eingestellt werden, ist klar, dass üblicherweise negativ zu beurteilende Verhaltensweisen erst Recht nicht gezeigt werden sollen.
Der Prophet Muhammad (salla-llahu alaihi wa sallam) sagte: „Fasten bedeutet nicht, dass du auf Essen und Trinken verzichtest. Vielmehr bedeutet es, dass du Frevel und üble Nachrede unterlässt und dass du, wenn jemand mit dir schimpft oder dich belästigt, sagst: „Ich faste, ich faste.““ (nach A-Hakim)
„Wer falsches Zeugnis und das Handeln danach nicht unterlässt, bei dem liegt ALLAH nichts daran, dass er sich des Essens und Trinkens (im Ramadan) enthält.“ (nach Al-Buchari, Abu Dawud, At-Tirmidi, Ibn Mascha und An-Nisai)
Man kann das Fasten als ein einmonatiges Ritual, in dem positive Eigenschaften bewusst wieder gestärkt und negative Eigenschaften bewusst geschwächt werden sollen, ansehen.
Insbesondere die Tatsache, dass es für Außenstehende in der Regel nicht erkenntlich ist, ob jemand fastet, macht das Fasten zu einer besonderen gottesdienstliche Handlung (Ibada), die allein eine Angelegenheit zwischen Gott und dem Gläubigem ist.
Der Monat Ramadan dient also der Schulung des Charakters und der Stärkung der eigenen Religiosität; deshalb soll mit allen Sinnen Enthaltsamkeit geübt werden: nichts Schlechtes tun, nichts Schlechtes sehen, nichts Schlechtes hören, nichts Schlechtes sprechen und nichts Schlechtes denken.
1.4 Ernährung während des Fastens
Nicht nur während der Fastenzeit schreibt der Islam einen bewussten Umgang mit Essen und Trinken vor. Gemäß einem Hadith (Ausspruch des Propheten s.a.s.) soll man nur essen, wenn man hungrig ist und nur soviel essen, bis man satt ist. Dabei soll der Magen zu einem Drittel mit fester Nahrung, zu einem Drittel aus Flüssigkeit gefüllt sein und das übrige Drittel soll leer bleiben.
Traditionellerweise wird das Fasten mit einem Glas Wasser und zwei oder drei Datteln gebrochen, danach erfolgt das kurze Abendgebet und anschließend setzt man sich zum gemeinsamen Essen zusammen. Gemäß den o.g. Kriterien sind ausgedehnte nächtliche Essgelage mit schwer verdaulichen Speisen kein Verhalten, das sich islamisch begründen lässt.
2. Pädagogische Aspekte
2.1 Bedeutung von Initiationsriten
Was die anthropologische Forschung schon lange weiß, hat jetzt auch die aktuelle Jugendforschung bestätigt: Inititationsriten kommen bei fast allen Völkern vor und erfüllen eine unverzichtbare Funktion. In Gesellschaften, in denen sie nicht mehr existieren, werden oft Verhaltensweisen, die zu Konflikten mit Strafrechtsnormen führen, als Ersatzhandlung durchgeführt (Ladendiebstahl, Komasaufen, S-Bahn-Surfen usw.).
In Deutschland gibt es mittlerweile Organisationen, die solche Initiationsriten - in Form einer Visionssuche, basierend auf indianischen Wurzeln - anbieten. Der Sozialpädagoge Matthias Hasenbach von der Universität Siegen bescheinigt diesen Riten einen positiven Effekt, wenn der durchgeführte Ritus auch durch die Familie anerkannt wird und der Jugendliche anschließend ernster genommen wird und mehr Verantwortung trägt.
Das Konzept der islamischen Erziehung entspricht o.g. Kriterien: In der Regel ist es so, dass muslimische Kinder - wie alle Kinder dieser Welt - ihre Eltern im Alltagsleben nachahmen wollen und das auch tun. Dies gibt den Eltern die Möglichkeit, sie Schritt für Schritt an die Erfüllung der religiösen Pflichten heranzuführen. Gleichzeitig lernen die Kinder, dass sie mit Eintritt in die Pubertät in religionsrechtlicher Sicht dem Erwachsenen gleichgestellt sind, dass sie dementsprechend dann die Verantwortung für ihr Handeln selbst tragen. Das erste Gebet und das erste Fasten nach Eintritt der Pubertät hat für die Jugendlichen daher eine besondere Bedeutung - der erste Schritt ins Erwachsenenleben ist erfolgreich getan. Ein von außen aufgedrücktes Verbot des Fastens oder Betens würde dementsprechend als eine zwangsweise "Zurückstufung" aus dem schon erreichten Erwachsenenstatus empfunden, als Bevormundung und Eingriff in die Persönlichkeitsrechte.
2.2 Bedeutung von Ritualen
Nachdem Rituale lange als "altbacken" abgetan wurden, werden sie seit einigen Jahren wieder entdeckt und diverse Studien belegen ihre Bedeutung insbesondere für Kinder und Heranwachsende. Auf die wichtige Funktion von Ritualen bei der Erziehung und Bildung von Kindern weist u.a. Christoph Wulf, Professor für Anthropologie an der Freien Universität Berlin hin. "In Ritualen bearbeiten Menschen soziale Differenzen, erzeugen soziale Ordnungen und schaffen Gefühle der Zugehörigkeit. Sie bieten Menschen die Möglichkeit, sich im gemeinsamen Handeln zu begegnen, miteinander zu kommunizieren und zu interagieren. Rituale vermitteln emotionale Sicherheit und soziale Verlässlichkeit. Besonders in Zeiten ökonomischer, politischer und sozialer Ungewissheit spielen ihre Möglichkeiten, Gemeinschaften zu erzeugen, eine wichtige Rolle."
Er weist auch darauf hin, dass auch die Schule von Ritualen durchdrungen ist, angefangen vom Einschulungsritual über die Inszenierung von Festen und Feiern bis zu den Mikroritualen jedes einzelnen Schultages (z.B. Begrüßung): "Mit Hilfe von Ritualen und der für sie konstitutiven Wiederholung schreibt die Institution Schule ihre Werte, Normen und Praktiken in die Körper der Schüler ein."
( http://www.fu-berlin.de/presse/publikationen/tsp/2006/ts_20060211/ts_20060211_07.html )
Sowohl das Fasten als auch das Gebet sind Rituale, die die o.g. Funktionen erfüllen. Sie schaffen Gemeinschaft, geben dem Tag, dem Jahr Struktur, erinnern den Einzelnen immer wieder an das Wesentliche und helfen mit, sich nicht von der Hektik des Hier und Jetzt überwältigen zu lassen. Und: sie kollidieren im Regelfall mit den Ritualen des Schulalltags nicht, sie konkurrieren nicht mit ihnen, und es sollte vermieden werden, einen "Clash der Rituale" heraufzubeschwören. Dies kann weder im Interesse der Mehrheitsgesellschaft sein, noch ist es sicherlich das Interesse von Pädagogen und Lehrern, die ja auch die muslimischen Kinder zu selbstbewussten Mitgliedern der Gesellschaft erziehen wollen und sollen. Dies gelingt nur, wenn das Selbstverständnis dieser Kinder be- und geachtet wird.
2.3 Einübung von Empathie, Stärkung der Gemeinschaft
Das Fasten führt bei dem, der es bewusst durchführt, zu vermehrtem Verständnis für die Armen und Mittellosen, die unfreiwillig auf Nahrung und vielleicht sogar auf Wasser verzichten müssen; auch die Bereitschaft, eben diesen Armen zu helfen, wird dadurch gestärkt.
Insbesondere wird die Brüderlichkeit durch das Fasten – besonders das gemeinsame Fasten im Monat Ramadan – gestärkt: durch den gemeinsamen Verzicht (das Fasten) und das gemeinsame Fastenbrechen (Fitr) und die besonderen freiwilligen Nachtgebete (Tarawih), in denen die geistige, jenseits gerichtete Seite des Islams bewusst wird.
Das Fasten – und dabei speziell das Fasten im Ramadan – wird außerdem von Gott besonders belohnt. Viele Sünden werden durch das Fasten ganz und gar bei Gott durch den Lohn für das Fasten ausgelöscht, und daher ist das freiwillige Fasten eine der besten und einfachsten Möglichkeiten des Gläubigen, seine Stellung und sein Ansehen bei Gott zu verbessern.
Die gesundheitliche Seite ist dabei auch nicht zu vergessen: Für einen gesunden Menschen ist das Fasten, wenn es in der islamisch empfohlenen Form (siehe Ernährung in der Fastenzeit) durchgeführt wird, eine hervorragende Methode, neben der geistigen Erholung auch eine körperliche zu erreichen.
3. Rechtlicher Aspekt
Die emotionale Art, mit der gerade aktuell das Thema Fasten in einem Massenblatt "diskutiert" wird, macht es unerlässlich, auf den rechtlichen Rahmen hinzuweisen, in dem wir uns alle bewegen.
Grundlage dieses Staates ist das GG, in dem ein Staatsverständnis herrscht, das auf der Würde des Menschen, der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fußt. Bezüglich der Religionsfreiheit bedeutet dies, dass Artikel 4 den Handlungsrahmen des Einzelnen absteckt:
Artikel 4 (Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit)
(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
Was das genau bedeutet, dazu hat sich das BVerfG detailliert geäußert:
( 2 BvR 1436/02 ).
"Beide Absätze des Art. 4 GG enthalten ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht. Es erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten. Dazu gehört auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln. Dies betrifft nicht nur imperative Glaubenssätze, sondern auch solche religiösen Überzeugungen, die ein Verhalten als das zur Bewältigung einer Lebenslage richtige bestimmen.“
Weiter führt das BVerfG aus:
Der Staat ist die Heimstatt aller Staatsbürger und hat die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität, das bedeutet:
- Offenheit gegenüber der Vielfalt von Überzeugungen
- keine Privilegierung bestimmter Bekenntnisse
- keine Ausgrenzung Andersgläubiger
- keine staatliche Identifikation mit bestimmten Religionsgemeinschaften
Vor dem Hintergrund dieser Entscheidung ist deutlich zu erkennen: wer als Jugendlicher während der Schulzeit fastet (oder betet) bewegt sich im Rahmen des Grundgesetzes; wer das verbieten möchte, der bewegt sich außerhalb dieses Rahmens.
4. Praktischer Schulalltag
Die Mehrzahl der muslimischen Schüler und Schülerinnen in Deutschland wächst in traditionell geprägten Elternhäusern auf. Dort ist die Wichtigkeit des Fastens im Ramadan unumstritten, selbst dann, wenn nicht die gesamte Familie durchgängig fastet. Selbst wenn die Eltern nicht alle Tage fasten, so sind sie doch stolz auf ihre Kinder, wenn diese mitfasten wollen bzw. wenn sie von sich aus das vollständige Fasten anstreben.
Die islamische Zeitrechnung basiert - wie die jüdische - auf dem im Vergleich zum Sonnenjahr rückwärts laufenden Mondkalender. In den Monaten vom Oktober zum März fällt der Ramadan in den hiesigen Breitengraden in eine Zeit, in der die Tage kurz bis sehr kurz sind und die Zeit des Fastens entsprechend ebenfalls. Im September dauert der Fastentag zwischen 13 und 15 Stunden, in den Monaten Juni/Juli ungefähr 18 Stunden. Die längste Tages- und Fastenzeit fällt also in die Sommerferienzeit.
Besondere Bedenken haben Lehrer und Pädagogen häufig bezüglich des Fastens von Schülern, die sich in Abschlussklassen befinden. Dazu lässt sich Folgendes sagen:
Abschlussklassen sind die Klassen 9 (Hauptschulabschluss), Klassen 10 (Sekundarstufenabschluss I bzw. Mittlere Reife) und Klassen 12 und 13 (Abitur). Diese Schüler und Schülerinnen sind in der Regel 16 bis 19 Jahre alt. Damit haben sie die Pubertät längst erreicht und sind sowohl aus religiöser Sicht als auch aus biologischer Sicht voll fastenfähig (wenn keine der zuvor genannten Einschränkungen vorliegt).
Schulen beginnen um 8 Uhr und enden entweder um 13.30 Uhr oder im Ganztagsgetrieb etwa um 16 Uhr. Während die Schüler normalerweise um 6.30 Uhr aufstehen (sollten), stehen die fastenden Schüler im September kurz vor 5 Uhr auf und nehmen möglichst eine kleine nahrhafte, aber nicht belastende Mahlzeit ein - Anregungen dazu gibt es in jedem besseren Gesundheitsratgeber. Danach können sie entscheiden, ob es sinnvoll ist, sich noch einmal hinzulegen oder nicht. Häufig ist es besser wachzubleiben.
Fastende Schüler haben damit im Gegensatz zu ihren häufig nicht frühstückenden Mitschülern zu Schulbeginn schon eine Mahlzeit zu sich genommen.
Zwar fehlt ihnen ein Pausenbrot, das ist aber auch bei einer großen Zahl der nichtmuslimischen Schüler der Fall, die häufig erst ein Frühstück in der ersten oder zweiten Pause zu sich nehmen und das dann noch nur in Form von Süßigkeiten und süßen Limonaden. Nicht zuletzt diese seit Jahren bestehende Situation hat dazu geführt, dass man systematischen Unterricht über gesunde Ernährung in den Schulen einführen musste.
Mit ihrem frühen Frühstück sind damit die fastenden Schüler und Schülerinnen mittags immer noch auf einem höheren Versorgungsniveau als ein Kind ohne Frühstück und ohne Pausenbrot und mit einem verspäteten Süßigkeiten-Pausensnack.
Es ist schon erstaunlich, dass die doch sicherlich ebenfalls eingeschränkte Leistungsfähigkeit dieser Kinder bisher nicht Gegenstand öffentlicher Debatten und Grund für einen Ruf nach dem Gesetzgeber war, der doch wenigstens die Süßigkeiten-Automaten in den meisten Schulgebäuden verbieten müsste.
Dass das Fasten der muslimischen Jugendlichen im Vergleich zu nicht-fastenden Jugendlichen zu einer signifikanten Verschlechterung der Konzentration oder Leistung und zu vermehrter Aggressivität (ein häufiger Vorwurf in diesem Zusammenhang) führen soll, ist daher logisch nicht nachvollziehbar. Zur Generalisierbarkeit von Einzelfällen, die einem als Lehrer im Schulalltag begegnen, haben wir schon ausführlich Stellung genommen.
Gegen 13.30 Uhr gehen die Schüler entweder nach Hause oder haben eine längere Mittagspause (Ganztagsschulen). Zu Hause können sie sich ausruhen oder sich ihrem Hobby widmen, in der Ganztagsschule wird es Ruheräume geben. Die Hausaufgaben (in Abschlussklassen häufig frei gestellt) werden nachmittags zu Hause oder unter Betreuung in den Ganztagsschulen angefertigt.
Bis zur abendlichen Essenszeit (im September auf Grund der kürzer werdenden Tage während des Ramadan zwischen 20.20 Uhr und 19.15 Uhr) steht die Freizeitgestaltung an bzw. eine Schlafpause.
Das abendliche Essen wird in der Regel im Rahmen der Familie bzw. mit Gästen genossen, man kommuniziert, pflegt die Gemeinschaft. Wenn die Jugendlichen dann zwischen 22 und 23 Uhr schlafen gehen (das letzte Gebet des Tages findet ebenfalls aufgrund der kürzer werdenden Tage um ca. 22.00 bzw. 21.00 Uhr statt), ist ein ganz normaler Tag zu Ende gegangen.
Von einem negativen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit aufgrund des Fastens kann im Normalfall also nicht ausgegangen werden - es sei denn, man macht die Nacht zum Tag und verhält sich auch bezüglich des Ausmaßes und der Auswahl des Essens nicht an islamische Empfehlungen.
In Familien, die sich rein „traditionell“ verhalten und der Unsitte der Völlerei verfallen sind, kann es durchaus passieren, dass sich die Familienmitglieder nicht wohlfühlen, über Bauchschmerzen und Kopfschmerzen klagen und Kreislaufprobleme haben.
Mit Hilfe der vorliegenden Informationsschrift können Lehrer und Pädagogen ggfs. Aufklärungshilfe leisten oder aber die muslimische Gemeinde bzw. auch den muslimischen Religionspädagogen ansprechen.
Übermäßige Müdigkeit ist bei dem geschilderten Fastentagesablauf ebenfalls nicht zu erwarten. Alle Jugendlichen (im Abschlussklassenalter) gehen in der Regel spät ins Bett - vermutlich später als das für einen fastenden Jugendlichen, der anschließend noch essen möchte, notwendig wäre. Ungewöhnlich ist allenfalls das frühere Wachwerden. Hier muss jeder Mensch selber entscheiden, ob es für ihn besser ist, sich nach der Mahlzeit noch einmal hinzulegen oder aus Kreislaufgründen aufzubleiben und vielleicht sogar mit frischem Geist noch für die Schule zu lernen, was am Vortag nicht geschafft oder bewusst verschoben wurde.
Sollte ein muslimischer Schüler mit der Ausrede, wegen des Ramadans verschlafen zu haben, in die Schule kommen, so ist dies nicht als Entschuldigung anzuerkennen.
Auch hier noch mal die dringende Bitte, die eigene Wahrnehmung zu überprüfen:
Das Phänomen der Schüler-Müdigkeit ist offenbar so verbreitet, dass es mittlerweile wissenschaftliche Untersuchungen dazu gibt, deren Einzelergebnisse unter
http://www.kindergesundheit-info.de/schlafen3.0.html einsehbar sind.
Aus diesen Studien geht deutlich hervor, dass wir es nicht mit einem Phänomen, das aufgrund einer islamischen Lebensweise entsteht, zu tun haben.
Die Konzentrationsfähigkeit ist meiner langjährigen Erfahrung nach in den früheren Schulstunden (2-4 Stunde) höher, als in den späteren Stunden. Danach fällt die Leistungskurve bis in ein Mittagstief ab. Schon aus diesen Gründen sind Klassenarbeiten in den früheren Stunden zu bevorzugen. Dies wird bereits an vielen Schulen so gehandhabt. Es muss also auf fastende Schüler keine besondere Rücksicht genommen werden.
Sport am Nachmittag (Ganztagsschulen) fällt wahrscheinlich schwerer. Da der Ramadan aber lediglich 4 Wochen dauert und nicht unverhofft kommt, lässt es sich in der Jahresplanung sicherlich einrichten, nicht gerade in dieser Zeit Kraft raubende Sportarten zu trainieren. Selbst wenn eine Rücksichtnahme seitens der Schule/des Lehrers nicht möglich oder gewünscht ist, kann der einzelne Schüler auch in den in der Regel in Frage kommenden 4 (!) Doppelstunden während des Ramadan einfach etwas "kürzer" treten. Das wird einen Schulabschluss kaum gefährden.
Bei der Planung von Klassenfahrten und den Bundesjugendspielen sollte der Monat ausgeklammert werden. Erfreulicherweise ist sein Anfang und Ende bereits in Lehrerkalendern verzeichnet, so dass man keine großartige Recherche betreiben muss.
Dies wird auch in vielen Schulen, die es gewohnt sind, mit unterschiedlichen Nationalitäten umzugehen und bei denen Integration nicht nur eine leere Formel ist, so gehandhabt.
Maryam Brigitte Weiß
Frauenbeauftragte und stellvertr. Vorsitzende des ZMD
Hauptschullehrerin in NRW
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Hintergrund/Debatte
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