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Samstag, 05.04.2008 | Drucken |
Strenge Islamauslegung an allen Schulproblemen Schuld? - Aktuellen Handreichung „Herausforderungen und Chancen in Bildungseinrichtungen“ des NRW-Integrationsbeauftragten
„Aus Gruppen können Banden oder ähnliche Zusammenschlüsse werden, die aus Elternhaus und religiöser Bindung nur geringe Gewalthemmung entwickelt haben.“[1]
„Das ewige Hintenanstellen der eigenen Interessen vor den Familieninteressen kann schon hier zu Frustration und Übersprunghandlungen führen. Während der Pubertät kann das Verhalten dann bei einigen in ersten Straftaten münden.“[2]
„Tatsächlich ist es so, dass die Kinder zu Hause „brav“ sind. Doch die aufgestaute Wut darüber, dass man den Eltern nicht sagen kann, was einen stört, muss irgendwo und an irgendjemandem ausgelassen werden. Der beliebteste Tatort für Kinder ist die Schule. […] Das sich daraus ergebende machohafte Verhalten der Jungen wird von den Eltern sogar unterstützt, quasi als Rüstzeug für das künftige Leben.“[3]
„Häufig hört man Bemerkungen wie: „Die dürfen ja alles.“ Aus solchen Sätzen kann man ein wenig Neid heraushören. Am liebsten wären die Mädchen genauso. Sie definieren dieses Leben mit Freiheit. Aus dieser Perspektive haben sie definitiv kaum Freiheit. Die einzigen Momente der Freiheit kennen sie nur, wenn sie sich mit ihren Freundinnen treffen oder in der Schule sind. Sobald sie aus dem Haus gehen, beginnt ihr eigenes Leben.“[4]
Diese Zitate stammen nicht etwa aus einer wissenschaftlichen Studie über Jugendliche, Gruppenbildung und soziale Probleme. Sie wurden der aktuellen Handreichung „Herausforderungen und Chancen in Bildungseinrichtungen“ des Integrationsbeauftragten der Landesregierung NRW, Thomas Kufen, entnommen. Mit dieser Publikation sollen „Grundinformationen zum Islam und Anregungen zum Umgang mit muslimischen Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern“ vermittelt werden. Gleich zwei Autoren haben an der Handreichung gearbeitet: Lamya Kaddor, Vertretung der Professur für Islamische Religionspädagogik am Centrum für Religiöse Studien (Universität Münster) und Lehrerin für Islamunterricht sowie Jörgen Nieland, Gymnasiallehrer und Lehrbeauftragter für Religionspädagogik (Universität Bonn).
Zuerst muss ein Lob ausgesprochen werden: Der Integrationsbeauftragte musste nämlich viel Kritik aus konservativen Kreisen, wo man nicht einsehen möchte, weshalb es überhaupt notwendig ist, sich mit diesen Themen zu beschäftigen, einstecken. Dabei ist es doch eine Selbstverständlichkeit, wenn der Zuständige für Integration sich mit spezifischen Problemen der zu Integrierenden auseinander setzt. Denn die Schule ist nicht nur ein Ort, an dem das Zusammenleben und –arbeiten gelernt werden kann, sondern kann zugleich zum Ort diverser Probleme werden. Doch auch wenn die Absicht der Publikation zu begrüßen ist, kann von keinem zufriedenstellenden Ergebnis gesprochen werden.
An erster Stelle ist äußerst fragwürdig, inwieweit sich ein Muslim mit folgendem Gottesverständnis und der daraus gezogenen Schlussfolgerung einverstanden erklären kann.
„Der unbedingte Monotheismus führt dazu, dass viele Muslime sich Gott mit einer solchen Angst nähern, dass sie sich bereits bei jeder kleinsten Handlung fragen, ob sie sündhaft war und dafür nun Strafe fällig sei. […] Genau dieses Bild eines richtenden Gottes entdecken wir häufig bei Kindern und Jugendlichen. Von solchen Annahmen meist unheimlich eingeschüchtert, lehnen sie es förmlich ab, über Ihn zu reden.“[5]
Ebenso fremd erscheint die theologische Begründung, ob und weshalb Muslime sich den Landesgesetzen unterzuordnen haben, wie in folgendem Abschnitt erörtert wird. Dabei werden nicht nur längst veraltete und für die Lebenswirklichkeit der Muslime unbrauchbare juristische Begriffe (dār al-islām, dār al-harb) verwendet, sondern auch unverständliche Folgerungen gezogen.
„Im Hinblick auf den kleinen Dschihad ist die Welt nach islamischen Recht (fiqh) in zwei Gebiete eingeteilt: 1. dār al-islām (Gebiet des Islams) und 2. dār al-harb (Gebiet des Krieges). Zum einen gibt es ein Gebiet, in dem der Islam und damit nach islamischem Recht Frieden herrscht. Und zum anderen existiert ein Gebiet, in dem die šarī‛a nicht vorherrscht. Demzufolge haben sich Muslime, die in einem Staat leben, in dem die šarī‛a das Staatssystem bestimmt, den landesüblichen Vorschriften unterzuordnen. Dass heißt, dass die Muslime hier in Deutschland dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gegenüber verpflichtet sind, da sie in keinem Land leben, in der die šarī‛a die Verfassung darstellt. Man kann sich gut vorstellen, dass dies im schulischen Bereich zu einem Dilemma führt, besonders wenn es beispielsweise um den koedukativen Schwimm- und Sportunterricht geht.
Neben den zahlreichen verwirrenden und aus theologischer Sicht fehlerhaften Stellen, erscheinen vor allem die den eingangs erwähnten Zitaten ähnelnde Aussagen anmaßend und aus muslimischer Perspektive völlig fremd.
Anmaßend ist es beispielsweise, wenn unterstellt wird, dass muslimische Mädchen in ihrer Freiheit eingeschränkt und Jungen bevorzugt[6] werden. Für Mädchen stellte die Schule demnach einen Ort der Freiheit dar. Sie „erleben in der Schule vielleicht erstmals, was bei Anerkennung der Unterschiede beider Geschlechter Gleichberechtigung bedeutet.“, während es muslimischen Jungen schwer falle, Lehrerinnen zu akzeptieren und ihren Anweisungen Folge zu leisten, „da viele Jungen in der Familie die klare männliche Dominanz und die Entscheidungsmacht des Vaters erleben…“[7]
Als Beispiel für eine aus muslimischer Sicht sehr befremdlich erscheinende Passage der Arbeit sei folgendes Zitat genannt.
„Da es jedoch zu einem islamischen Leben gehört, sich nicht gegen die Eltern aufzulehnen, muss ein anderer Weg gefunden werden, seine Emotionen abzureagieren. Bei vielen männlichen Jugendlichen kommt es zu Gewaltausbrüchen. Bei den Mädchen ist es weitaus komplizierter. Zwar findet man immer häufiger Mädchen, die sich ebenfalls mit anderen Mädchen prügeln und Aggressionen an anderen auslassen. Viel schlimmer ist allerdings, dass Mädchen zunehmend unter dem Schönheitswahn leiden und sich an anderen Mädchen messen. Im Aussehen ihre Frustrationen auszulassen birgt aber enorme Gefahren in sich: Bulimie und Magersucht gehören mittlerweile zum Tagesgeschäft von Sozialpädagogen. Für beide Geschlechter wird in diesem Altersabschnitt schnell klar, dass sie nicht perfekt sein können, wie es ihre islamische Umwelt (Eltern, Großeltern, Moschee etc.) gerne hätte. Meist verschwindet das Interesse relativ schnell, streng islamisch zu leben. Wichtiger ist, wer mit wem in der Pause spricht, wer wem eine SMS schreibt oder wer mit wem zusammen ist.“[8]
Kann man hier eindeutig das verbreitete Vorurteil erkennen, Gewalt sei dem Islam inhärent, wenn man liest, dass die aufgestaute Wut in der Schule ausgelassen wird, da man sich nicht gegen die Eltern auflehnen darf? Wird hier nicht das „Islamische“ als Ursache für unterdrückte Emotionen, Gewaltausbrüche sowie indirekt Bulimie und Magersucht (?) hingestellt?
Es ist offensichtlich, dass die Reduzierung solcher Probleme, die – wie es im Vorwort der Handreichung heißt – „ihren Ursprung womöglich in der Religionszugehörigkeit haben“[9], auf den Islam oder das „Islamische“ nicht über eine bloße Unterstellung hinausreicht und niemandem weiterhilft. Vielmehr handelt es sich um gesamtgesellschaftliche Fragestellungen, die von allen – egal ob Muslim oder nicht – beantwortet werden.
Die Handreichung mag zwar etwaige Lösungsvorschläge anbieten, jedoch können diese nicht wirklich umgesetzt werden, da sie an der Realität vorbeigehen, also die Ausgangslage nicht richtig erfasst wird. Aus demselben Grund ist zu bezweifeln, inwieweit die Publikation eine echte Hilfe für Lehrerinnen und Lehrer sein kann. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass die vorliegende Handreichung erheblichen Überarbeitungsbedarf aufweist. Vielleicht sollte man sich auch mal von islamischen Religionsgemeinschaften beraten lassen, um zu gewährleisten, dass man nicht an den Muslimen vorbeiredet. Denn um die geht es ja!
Mit freundlicher Genehmigung der IGMG, die eine aktuelle Kritik dieser Handreichung vorgenommen hat und dazu weiterer features auf der website igmg.de vorbereitet hat.
[1] „Herausforderungen und Chancen in Bildungseinrichtungen“, S. 15
[2] Ebd., S. 19
[3] Ebd., S. 36
[4] Ebd., S. 43
[5] Ebd., S. 6
[6] Ebd., S. 44
[7] Ebd., S. 38
[8] Ebd., S. 43
[9] Ebd., S. 3
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