Artikel Sonntag, 05.11.2006 |  Drucken

Emanzipation nur ohne Kopftuch? Von Naime Cakir

Die aktuelle Debatte um muslimische Frauen leidet an falschen Stereotypisierungen: Ihre Unterdrückung lässt sich nicht am Gegensatz "säkular" versus "religiös" festmachen
In der Debatte über den Islam in Deutschland sind die Rolle der Frau - und speziell das muslimische Kopftuch - in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Meist wird dem Islam eine generelle Frauenfeindlichkeit, wenn nicht gar Inhumanität unterstellt. Dieses Vorurteil geht davon aus, dass muslimische Männer einen homogenen Block bilden und auch muslimische Frauen eine kollektive Identität besitzen, ohne eigene Lebensentwürfe und Lebensauffassungen.

Auch bei der Islamkonferenz in Berlin, die Wolfgang Schäuble jüngst einberief, wurde das Thema "Frau im Islam" kontrovers diskutiert. Doch die große Mehrheit der muslimischen Frauen, über die dort gesprochen wurde, war dabei leider mit keiner Stimme vertreten. Natürlich gibt es keine Faustregel, nach der man eine "säkulare" Muslima von einer "praktizierenden" Muslima trennen könnte. Vielmehr trifft man auch unter muslimischen Frauen viele verschiedene Formen der Religiosität an. Diese lassen sich aber nicht nach einer Art "Aschenputtelprinzip" - die Guten ins Töpfchen, die Schlechten in Kröpfchen - trennen.

Doch solch ein scheinbarer Gegensatz wird in der Debatte um die "unterdrückte muslimische Frau" gerne aufgemacht: Konkret äußert sich das, indem sich selbst als "säkular" bezeichnende Frauen wie die Islamkritikerinnen Necla Kelek oder Seyran Ates, aber auch die Grünen-Abgeordnete Ekin Deligöz, die sich mit ihrer Kopftuchkritik hervorgetan hat, als beispielhaft für eine gelungene Integration präsentiert werden. Muslimische Frauen, die sich möglicherweise sogar mit Kopftuch zu ihrer Religion bekennen und um die es doch eigentlich primär gehen soll, werden hingegen als scheinbar integrationsresistent oder gar als Symptom einer misslungenen Integration hingestellt.

Eine solche Typisierung wird dem Problem jedoch nicht gerecht. Sie schränkt den Dialog auch von vornherein ein, weil den betroffenen Frauen gar nicht die Möglichkeit gegeben wird, sich selbst in eigener Sache zu äußern. Dabei ist es mittlerweile eine unübersehbare Tatsache, dass es eine große Zahl muslimischer Frauen gibt, die sich sowohl als "praktizierende" Muslime - ob mit oder ohne Kopftuch - wie auch im staatsrechtlichen Sinne als "säkular" verstehen.
Die Unterschiede zwischen muslimisch geprägten Frauen lassen sich nicht allein in der Differenz "säkular" versus "religiös" beschreiben, sondern nur vor dem Hintergrund von Bildungsmöglichkeiten, Chancen auf dem Arbeitsmarkt, Abhängigkeit von Ehemann und Familie sowie Sprachkenntnissen. Nur entlang dieser Merkmale lassen sich die Fragen nach Unterdrückung, der Diskriminierung und den Emanzipationsmöglichkeiten dieser Frauen beantworten. Denn unterdrückte und fremdbestimmte Frauen gibt es sowohl unter "säkularen" als auch unter "praktizierenden" Musliminnen - genau so, wie in beiden Gruppen auch Frauen zu finden sind, für die Gleichberechtigung und Teilhabe am Gesellschaftsleben eine pure Selbstverständlichkeit sind.
Es darf kein Zweifel daran bestehen, dass um die Rechte der Frauen, die unterdrückt werden, gekämpft werden muss. Dazu bedarf es nicht nur der entsprechenden Gesetze, die etwa vor Zwangsheiraten oder häuslicher Gewalt schützen. Dazu bedarf es vor allem eines entschiedenen gesellschaftlichen Eintretens gegen jede Form von physischer wie psychischer Gewalt gegen Frauen, die als Verletzung ihrer Menschenrechte verurteilt werden muss.

Frauenhäuser, Netzwerke und andere Formen der Unterstützung bieten konkrete Hilfen für betroffene Frauen an. Solches Engagement ist allerdings zum Scheitern verurteilt, wenn es mit der Herabsetzung und Diffamierung der Kultur und der Religion jener Frauen einhergeht, die solche Hilfe suchen. Nach der Logik, die von prominenten Stimmen wie Ayaan Hirsi Ali oder auch Necla Kelek vertreten wird, ist für Frauen die Befreiung aus dem Korsett traditioneller Zwänge lediglich durch die Abkehr von ihrem religiös-kulturellen Hintergrund möglich: durch den Bruch mit der eigenen Identität. Dies aber würde von vielen betroffenen Frauen als zusätzliche Diskriminierung empfunden.

Mehr Erfolg im Kampf um die Menschenrechte von Frauen versprechen die Erfahrungen, die etwa im Kampf gegen die Genitalverstümmelung afrikanischer Frauen gewonnen worden sind. So ist es in einigen Ländern erfolgreich gelungen, diese Verstümmelungen als inhuman zu brandmarken, so dass diese Praxis nun in immer mehr afrikanischen Ländern aufgegeben wird. Der Kampf gegen die Genitalverstümmelung wurde in jenen Ländern, in denen sie traditionell verbreitet ist, allerdings nicht gegen die religiösen und kulturellen Überzeugungen der betroffenen Menschen geführt. Vielmehr wurde bewusst auf die islamische Religion zurückgegriffen, indem die traditionelle Praxis der Beschneidung von anerkannten Autoritäten als unislamisch abgelehnt wurde.
Die Emanzipation unterdrückter Frauen lässt sich nicht einfach gegen deren Religion und Kultur durchsetzen. Vielmehr müssen gerade diejenigen Frauen gestärkt werden, die patriarchale Strukturen in der eigenen Tradition aufdecken und sie im Einklang mit den eigenen religiösen Überzeugungen zu bekämpfen versuchen. Genau solche Frauen sollte die Politik auch hierzulande unterstützen.
Eine Einladung zur Islamkonferenz wäre für solche Frauen daher ein wichtiger Schritt von hohem symbolischem Wert gewesen, denn er hätte eine doppelte Botschaft ausgesandt: Den Frauen, die sich für die Gleichberechtigung von Frau und Mann einsetzen, würde damit politische Unterstützung signalisiert. Und all denjenigen konservativen Muslimen, die die Rolle der Frau gerne auf die drei Ks - Kinder, Küche und Kirche, in diesem Fall Moschee - reduzieren möchten, würde deutlich gemacht, dass man es mit dem Selbstbestimmungsrecht der Frau ernst meint. An kompetenten Gesprächspartnerinnen, die für eine relevante Gruppe muslimischer Frauen sprechen, dürfte es jedenfalls nicht fehlen.

Wie mehrere wissenschaftliche Studien zeigen, entzieht sich eine beträchtliche Zahl deutschsprachiger Musliminnen den Kontrollansprüchen ihrer Eltern durch Rückgriff auf den Islam, und vermeidet so den Bruch mit ihrer Familie. Indem sie Religiosität und eine moderne Lebensauffassung verbinden, scheinen diese Frauen einen eigenen, islamischen Weg jenseits traditioneller Orientierungen zu finden. Durch ihre religiöse Kompetenz entziehen sich diese muslimischen Frauen den elterlichen und männlichen Autoritätsansprüchen und verändern damit die Machtbalance in der Familie. So umgehen sie etwa die traditionelle Praxis einer Ehevermittlung durch die Eltern, stattdessen nehmen sie die Wahl ihres Partners selbst in die Hand.

Vor diesem Hintergrund ist eine differenziertere Betrachtung islamischer Religiosität erforderlich, als sie in der öffentlichen Debatte üblich ist: Gesellschaftliche Entwicklung und Modernisierung der Religion können auch Hand in Hand gehen.
Naime Cakir, 37, ist Frauenbeauftragte der Islamischen Religionsgemeinschaft Hessen.

(Erstveröffentlichung in „Die Tageszeitung“ vom 4./5. November 2006, Mit freundlicher Genehmigung der Verfasserin)





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