Newsinternational Mittwoch, 23.06.2004 |  Drucken


Bonn: „Islam, Globalisierung und Terrorismus“

Vortrag von Dr. Murad W. Hofmann fand großes Interesse. Jeder "Selbstmord" ist im Islam kategorisch ausgeschlossen

(islamische zeitung) Ein von der Islamischen Hochschulvereinigung (IHV) Bonn organisierter Vortrag des bekannten Autors und ehemaligen deutschen Botschafters Dr. Murad Wilfried Hofmann zog – trotz Fußball-EM und Schauerwetters – zahlreiche Interessierte ins Hauptgebäude der Bonner Universität. Im Vortrag ging es um eventuelle Zusammenhänge zwischen der Globalisierung und dem Phänomen des Terrorismus von Muslimen. Dr. Murad Hofmann stellte dabei gleich zu Anfang klar, dass er einen Zusammenhang zwischen Islam und Terrorismus nicht sehe, wohl aber zwischen Globalisierung und Terrorismus. Angesichts desen, dass Globalisierung von Muslimen oft nur als eine anti-islamische Bedrohung gesehen werde, erinnerte Dr. Hofmann daran, dass Globalisierung weltgeschichtlich gesehen kein neues Phänomen sei, sondern es sie vielmehr schon immer gegeben habe. Als Beispiel dafür wurde die Hellenisierung des Römischen Reiches genannt, also die kulturelle Prägung der Römer durch das antike Griechentum, sowie die Latinisierung Europas durch römische Einflüsse, die etwa durch die Rolle der lateinischen Sprache bis ins letzte Jahrhundert unübersehbar gewesen sei.

In der islamischen Geschichte wurden die mongolischen Eroberer schnell islamisiert, und Dr. Hofmann erinnerte daran, dass die Deutschen schon durch das Christentum paulinischer Prägung orientalisiert worden seien, jenem „synkretistischen Konglomerat aus jüdischen, neoplatonischen, manichäischen und gnostischen Elementen sowie solchen des Mitras-Kultes“. Auch die Übertragung griechischer und arabischer Wissenschaften durch die Muslime Andalusiens und Siziliens an Europa ist in diesem Zusammenhang zu nennen. So kann laut Hofmann „die gesamte Weltgeschichte als Geschichte der Globalisierung verstanden werden“. Die Globalisierung sei auch keine Verschwörung, wie in muslimischen Ländern oft gedacht werde, sondern folge vielmehr den „natürlichen Marktgesetzen“. Globalisierung sei zudem auch ein innerwestliches Phänomen, was etwa an der kulturellen Amerikanisierung Europas gesehen werden könne. Das Gefühl einer Belagerung durch die Globalisierung könne in Wut umschlagen und die Angst vor einem Identitätsverlust letztlich Terrorismus erzeugen, womit eine der möglichen Ursachen für Terrorismus genannt sei. Zwar verlaufe, so Hofmann, die Globalisierung als rein technisches Phänomen derzeit von West nach Ost und von Nord nach Süd, kulturell sei die Globalisieurng aber durchaus „keine Einbahnstraße“. So mache der Islam gerade im Westen Fortschritte, einschließlich kultureller Einflüsse auch auf der Ebene von Couscous und Döner Kebap, im Zuge der Migration von Muslimen in den letzten Jahrzehnten. Zwar sei der Islam von Anfang an die einzige universelle Religion (neben dem Christentum) gewesen, erst heute sei er aber de facto universell. So gebe es in England mittlerweile drei muslimische Lords im Oberhaus des Parlaments, in Frankreich jeden Sonntag eine Stunde islamisches Programm im Fernsehen, und jeder fünfte Mediziner in den USA sei mittlerweile Muslim, um nur einige Beispiele zu nennen.

Andererseits seien in den letzten 200 Jahren alle großen natur- und geisteswissenschaftlichen Impulse im wesentlichen aus Europa und insbesondere aus Deutschland gekommen. Von vielen Muslimen werde diese Tatsache als entwürdigend im Sinne eines Minderwertigkeitskomplexes empfunden. Während die Zeit der kolonialen Besetzung der muslimischen Gebiete sich kaum auf das Innenleben der muslimischen Gemeinschaften und deren Alltag ausgewirkt habe, seien heute die Einflüsse der nichtmuslimischen Welt viel stärker und tiefgehender, allein durch Fernsehprogramme und technologische Veränderungen des Alltags wie z.B. exzessive Handy-Nutzung selbst bei der Hadsch, der Pilgerfahrt, wie Hofmann aufgrund seiner jüngsten Erfahrungen berichtete. Durch die Schnellebigkeit der Moden und auch der wisssenschaftlichen Erkenntnisse und technologischen Entwicklungen habe zudem das Tempo dieses Prozesses erheblich zugenommen. Doch parallel zum Wachstum von Fortschritt und Reichtum wachse auch Armut und Unfreiheit in der Welt, so Dr. Murad Hofmann. Schon Gandhi habe die „sozialen Sünden“ der modernen Welt treffend aufgezählt: „Politik ohne Prinzipien, Wirtschaft ohne Moral, Reichtum ohne Arbeit, Erziehung ohne Charakterbildung, Vergnügen ohne Gewissen und Glauben ohne Hingabe.“ So sei das heutige Lebensgefühl vieler geprägt von der Wahrnehmung „fremdbestimmt auf einer Reise ins Nichts, in einem nicht mehr durchschaubaren System“ zu sein. Die daraus folgende dumpfe Angst könne auch in Aggression umschlagen, womit eine weitere Ursache des Terrors als allgemeines, nicht islamspezifisches Phänomen genannt sei. Doch reichten Armut und Marginalisierung allein dafür noch nie aus, so Hofmann, denn schließlich hätten Völker damit Jahrhunderte gelebt und es geduldig getragen, ohne sich zu erheben. Es müsse dafür das Gefühl der Ungerechtigkeit hinzukommen. Auch seien die Protagonisten revolutionärer Erhebungen oder auch terroristischer Anschläge ja meist nicht die Ärmsten, sondern stammten eher aus der wohlhabenden Mittelschicht. Entsprechend sei die Haupttriebfeder des Terrorismus in der muslimischen Welt heute das allgemeine Gefühl, Opfer von Ungerechtigkeit zu sein und gedemütigt zu werden. „Muslimen wird himmelschreiendes Unrecht angetan“, so Hofmann dazu. Man könne sich jedoch nicht so einfach von Terroristen lossagen, da sie immer noch Muslime seien. Denn soziologische Ursachen seien noch lange keine theologische Rechtfertigung für Gewalt, welche der Islam gemäß seinen Quellen nur unter wenigen definierten Umständen und mit starken Einschränkungen bezüglich des „Wie“ der Kriegsführung erlaube, wozu das Verbot der Tötung von Frauen, Kindern, Greisen oder Mönchen sowie das Vernichten von Feldern, Pflanzungen und ähnlichem gehöre. Al-Qaida gehe heute hingegen davon aus, dass aufgrund der amerikanischen Unterstützung für den Staat Israel jeder einzelne Amerikaner Kombattant, also legitimes Ziel, sei, während viele Palästinenser alle Juden, einschließlich Frauen und Kinder, die in den besetzten Gebieten lebten, als Kombattanten betrachteten. Dadurch werde jedoch, so stellte Hofmann klar, das islamische Kriegsrecht ausgehebelt, ebenso das durch die Offenbarung Allahs im Qur’an kategorische Verbot des Selbstmordes.

Die Argumente derjenigen islamischen Gelehrten, wie Tantawi oder Qaradawi, die heute Selbstmordattentate durch Hinweis auf die Waffenlosigkeit und Wehrlosigkeit der Palästinenser zu rechtfertigen versuchten, seien eher praktisch als theologisch orientiert und begründet. Hofmann widersprach dieser Argumentation hingegen ausdrücklich: Es sei immer noch ein großer Unterschied, ob jemand sich, etwa durch Auslösen einer Bombe, selbst töte, oder in einem „Himmelfahrtskommando“ gegen eine Übermacht sein Leben in Allahs Hände, nicht in seine eigenen, lege. Selbstmord sei hingegen Rebellion gegen den Schöpfer und Allmächtigen. Aus islamischer Perspektive könne man gegen Terrorismus zweierlei unternehmen: Zum einen Gerechtigkeit einfordern und sich deutlich gegen die mediale und politische Ungleichbehandlung und ungleiche Wahrnehmung wehren (etwa was das seitens Israel begangene Unrecht betreffe, die Lage in Tschetschenien usw.). Zweitens müsse man zu einem maßvollen Umgang mit der modernen Technik finden, ohne zu deren Sklaven zu werden. Durch eine angemesssene Erziehung sollten muslimische Kinder auf die moderne Welt vorbereitet werden. Dazu bedürfe es einer Revolutionierung der Erziehung in der islamischen Welt, hin zu Skepsis und eigenständigem Denken. Statt reinem Wiederholen von bereits von anderen gesagtem müsse zuerst ein Gedanke entwickelt werden, der dann zu belegen ist, statt nur Belege anzuführen, ohne einen Gedanken entwickelt zu haben. Und schließlich komme heute nach den nihilistisch, matarialistisch und ideologisch geprägten vergangenen Jahrhunderten auch in der Wissenschaft wieder der Glaube zurück. Angesichts vielfältigster Hypothesen in der heutigen Wissenschaft könne man genauso gut mit der „Hypothese Gott“ arbeiten, so Hofmann. „Wittgenstein kam zu der Erkenntnis, dass man schweigen müsse, worüber man nicht reden kann. Wir können darüber reden, dank der göttlichen Offenbarung“, lautete Hofmanns Schlusswort.

In der anschließenden, ausführlichen Frage- und Diskussionsrunde ging Hofmann unter anderem auf eine Frage zur Kopftuchproblematik ein, wozu er anmerkte, dass man in Deutschland unglaublich kleinlich in Bezug auf dieses Stück Stoff sein und sich völlig unverhältnismäßig darauf fixiere. In den USA und England hingegen herrsche eine völlig andere Haltung. Während es in den USA sogar in der Armee muslimische Frauen mit Kopftuch gebe, denke man auch in England gar nicht daran, das Kopftuch zu verbieten, sondern betrachte „diversity as a source of richness“, also Vielfalt als Reichtum und positiven gesellschaflichen Faktor. Angesichts dessen, dass die Kopftuchverbote von Ländern wie Bayern - bei gleichzeitiger Erlaubnis christlicher und jüdischer Bekleidungsstücke -höchstwahrscheinlich vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben werden, sagte Dr. Murad Hofmann im Hinblick auf die Kirchen in Deutschland, die sich derzeit in der Kopftuchdiskussion nicht hinter die Muslime stellen wollten, dass diese Deutschland gerade dadurch möglicherweise in einen Laizismus französischer Prägung trieben, welcher dann alle Gläubigen, auch Christen und Juden, treffen würde.



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