Newsnational Mittwoch, 20.07.2005 |  Drucken

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Abscheu und Verurteilung sind wichtig - reichen alleine aber nicht aus - Von Aiman A. Mazyek

Wie sich die Muslime nicht mehr zu Geiseln und Gefangenen der Ziele der Terrorristen machen können. Für eine innerislamische Debatte.

Die Terrorfratze hat in Europa, in London zugeschlagen. Diesmal sind die Täter wahrscheinlich Bürger des eigenen Landes mit vermeintlich muslimischen Hintergrund, so wie schon einer der Anführer des Anschlages in Madrid.

"Freut Euch, Gemeinschaft der Muslime", heißt es in einem Bekennerschreiben, das direkt nach dem Attentat im Internet kursierte und vermeintlich den Attentäter zuzurechen war. Diese an die Muslime gerichtete Botschaft kann hässlicher und verabscheuenswürdiger nicht sein, beschreibt sie doch genau das Gegenteil, von dem, was die Mehrheit der Muslime speziell in diesen Stunden und Tagen empfindet.

Angst und Schrecken geht bei allen Menschen um. Bei den Muslimen noch ein wenig mehr. Weil sie nicht selten die Wut und die Ohnmacht vieler nun besonders gegen sich gerichtet sehen. Abgesehen, dass Muslime selber zu direkt Betroffenen in den U-Bahnen, in den Bussen und auf den Strassen Londons zählen, jetzt müssen sie wieder mit den Gefühl leben, unter Generalverdacht gestellt zu werden.

Eine Gruppe weltweit operierender Verbrecher, die unter Missbrauch einer Weltreligion ihre schändlichen Ziele verfolgt, meint nun, sie kann uns zu Komplizen machen. Wir dürfen das nicht zulassen!
Und dennoch, sie macht uns zu Geiseln und zu ihren Gefangenen, wenn wir uns nicht dagegen deutlicher als bisher erheben.
Mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln müssen wir uns dieser menschenverachteten Botschaft und Tat entgegenstellen.
Von uns Muslimen wird jetzt mehr abverlangt, also nur unsere Bestürzung und Verurteilung zum Ausdruck zu bringen. Das haben die wichtigsten islamischen Organisationen in Europa und Vertreter der islamischen Staaten unmissverständlich und direkt getan. Das ist auch gut so. Alleine reicht dies aber nicht.

Wir brauchen jetzt Friedensgebete, Mahnwachen, Kundgebungen, deutliche Freitagsansprachen und Lichterketten, so wie dies z.B. die Aachener Gemeinde direkt einen Tag nach den Anschlägen gemacht hat. Stehen wir auf uns lasst uns diesen Verbrechern entgegenstellen! Das Friedensgebet der Religionen mit dem englischen Botschafter gestern in der Britischen Botschaft war ein weiteres wichtiges und hoffnungsvolles Signal. Solche Art Veranstaltungen brauchen wir mehr. Muslime sollen sich dazu anbieten oder besser noch, solche Aktionen selbst in die Hand nehmen.

Wir benötigen darüber hinaus eine intensivere innerislamischen Debatte über den Extremismus und die Verführbarkeit einiger durch diese Ideologie und seinen Sektierer und Scharlatane. Wir müssen mehr als bisher mithelfen, den Nährboden dieser nihilistischen, selbst zerstörerischen Kraft, der einige Anhänger anheim gefallen sind, zu beseitigen.
Wir müssen begreifen, das es falsch verstandene Solidarität bedeutet, wenn wir uns nicht von dieser "Fitna" (wörtl.: Heimsuchung, hier: Irrglaube) ganz klar abgrenzen und mit allen legalen Mitteln bekämpfen.
Dieser Irrglaube, über totalitäre Aktivitäten und die Pervertierung der eigenen religiösen Grundsätze Veränderungen herbeiführen zu wollen, trägt z.Z. maßgeblich zum Erscheinungsbild des Islam bei, obwohl der ganz große Teil der Muslime in der Welt sich damit keineswegs identifiziert.
Deshalb darf es mit diesem ideologischen Bodensatz keine noch so versteckte Affinität geben. Wir dürfen ihnen aus falsch verstandener islamischen Brüderlichkeit keinen Raum mehr in den Hinterhöfen, Vereinen und wo sie auch auftauchen mögen, geben. Das ist speziell die Lehre für die Muslime aus diesen Tagen.
Sie mögen uns deshalb zum "Kafir" (Ungläubigen) erklären, ja gar als Heuchler. Das nehmen wir gerne auf uns, sind sie es doch, die in die Irre gehen. Wie viele Beweise wollen wir noch abwarten?
Couragiert ist heute derjenige Muslim, der diese "Fitna" endlich beim Namen nennt und der in der innerislamischen Debatte klar macht:
Terrorismus und Selbstmordattentate haben weder eine Grundlage im Koran noch im Leben des Propheten eine Rolle gespielt, und Unrecht darf nicht mit Unrecht beglichen werden. Die Antwort auf Abu Ghraib und Guantanamo kann und darf nicht die Abschlachtung unschuldiger Zivilsten bedeuten.

Der fast vier Jahre dauernden Krieg gegen den internationalen
Terrorismus, hat weil er mit Angriffskriegen und militärisch geführt wird, wie zu erwarten war und wie von dem meisten vorausgesehen, nicht den erwünschten Erfolg gebracht, denn sonst wären solche barbarischen Akte nicht möglich gewesen.
Und so belastet jeder weiterer Anschlag der Terroristen das Verhältnis zwischen Muslimen und Mehrheitsgesellschaft. Das ist auch das Kalkül der Verbrecher. Weil sie weder die Macht noch die Kraft haben, gegen „ihren“ Feind zu Felde zu ziehen, wollen sie die Muslime in den Strudel mit hineinziehen.
Ihr Ziel ist es, die Volksgruppen und Religionsgruppen gegeneinander aufzuhetzen, Angst und Schrecken zu verbreiten, die zerstörerische Kraft des Hasses weiter zu sähen. Lassen wir das nicht mehr zu!
Die Botschaft der Mörder lautet: Muslime sind alle Terroristen.
Doch in Wahrheit heißt die Botschaft: Heute sind wir alle Londoner, gleich ob Muslim, Christ, Jude oder Atheist.

Bei aller Wut und Ohnmacht, die wir teilen, in Hysterie zu verfallen und marktschreierisch nur nach weiteren Sicherheitsgesetzen zu rufen ist genau das, was die Terroristen jetzt wollen.
Das schlimmste was ihnen widerfahren kann, ist, wenn eine Politik der Anerkennung und des Vertrauens gebildet wird. Wenn deutlich wird, wie z.B von Tony Blair noch am Tag der Anschläge in London klarstellte, dass die überwältigende Mehrheit der Muslime Großbritanniens gesetzestreue Bürger sind und der Kampf gegen den Terror nur mit den Muslimen und nicht gegen sie zu gewinnen ist.

Wir brauchen vertrauensbildende Maßnahmen, beispielsweise Moscheebesuche seitens der Politiker, die immerhin in Spanien oder auch in England keine Seltenheit sind. Sie dann zu ermutigen und darin zu bestärken gegen extremistische Tendenzen vorzugehen, ist weit aus effektiver undklüger, nicht zuletzt weil sich so die Chance immer wieder eröffnet, im Dialog so manchem Unentschlossenen auf die richtige Seite zu verhelfen.

Medien und Politik dürfen Spekulationen, Mutmaßungen, aber auch Verdächtigungen jeder Art nicht mehr Tür und Tor öffnen. Vor allem derart: Steht der Islam nicht indirekt doch diesen Attentätern nahe? So wie ein Mladic oder Karacic, der vor der Ermordung der Muslime in Srebenica nochmals die Segnung der orthodoxen Kirche einholte, rein gar nichts mit den Christentum zu tun hat, so erwarten auch die Muslimen ihrerseits eine klare und sachliche Differenzierung der Dinge. Es gibt keine zwei Kategorien von Terroristen, einmal der muslimische und der andere, der IRA- oder PKK-Terrorist. Alle sind und bleiben am Ende was sie sind, nämlich Mörder.
Und so darf die verschärfte Sicherheitspolitik am Ende nicht die Falschen treffen (wie oft geschehen, siehe Rasterfandung und Moscheedurchsuchungen). Schließlich erlegt man eine im Busch versteckte Schlage auch nicht, indem man die ganze Steppe niederbrennt. Dies wäre sprichwörtlich eine Politik der verbrannten Erde.
(Erstveröffentlichung des ähnlichen Wortlautes in sueddeutsche.de und qantara.de)




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