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Mittwoch, 29.08.2018 | Drucken |
Auschwitzreise: Der Geflüchtete Abdullatif Ghajar berichtet über seine Eindrücke einer nicht normalen Reise
25 junge Erwachsene, Juden und muslimische Flüchtlinge, besuchten gemeinsam die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, das ehemalige deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager Anfang August 2018. Eine solche Gruppe gab es dort noch nie: Die Reise wurde vom Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) und der Union progressiver Juden (UpJ) organisiert und durchgeführt. Der Vorsitzende des Zentralrates, Aiman Mazyek und der Vorsitzende der Union, Rabbiner Prof. Dr. Walter Homolka hatten sich dafür eingesetzt. Es ist der Versuch, sich an einem so schrecklichen Ort näherzukommen, und es soll ein Zeichen gegen Rassismus und Antisemitismus sein.
Die jungen muslimischen Erwachsenen sind aus Erfurt, überwiegend geflüchtete aus Syrien, die mehr über das Schicksal der Juden in Deutschland und Europa erfahren wollten. Abdullatif Ghajar, der 18 jährige Abiturient, ist seit zwei Jahren in Deutschland und nahm als einer der Jüngsten an der Reise teil. Seine Erfahrungen und Erlebnisse:
„Salam, Shalom und Hallo, ich heiße Abdu und bin vor zwei Jahren mit meiner Familie aus Syrien nach Deutschland gekommen. In Deutschland versuche ich den Spagat zwischen Integration und erhalt meiner aus der Heimat bekannten Traditionen zu erhalten, einfach das Beste aus den zwei Kulturen für mich umzusetzen. Um Erfahrungen darüber zu sammeln und anderen Geflüchteten zu helfen, begann ich ein soziales Praktikum bei „Wir Sind Paten“, einem Projekt des Zentralrates der Muslime, in Erfurt. Dort im Büro erfuhr ich vom Projekt und wollte an der interreligiösen Reise teilnehmen, die das Büro in Erfurt mitorganisierte. Es gab ein Vorbereitungswochenende in Erfurt, an dem das Programm der Reise besprochen wurde. Bei diesem Kennlerntreffen kam auch Zakaria Said aus Berlin dazu, der für unsere Gruppe gemeinsam mit Thaer Issa vom Zentralrat der Muslime zuständig war. Beim Kennlerntreffen lernten wir auch die Teilnehmer der jüdischen Gruppen kennen, die überwiegend aus Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfallen stammen. Ziel der Reise sollte sein, die Schrecklichkeit des Holocaust nachzuvollziehen und zudem den Dialog zwischen Muslimen und Juden zu fördern. Die Reise hatte das traurige Ziel, nach Auschwitz zu fahren, wo sich das größte Vernichtungslager der Juden befand. Trotzdem war ich voller Aufregung auf die Reise, mit der Erwartung, dass ich etwas über das Judentum und die deutsche Geschichte lernen werde.
2.Reihe links: Abdullatif Ghajar (18)
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2.Reihe links: Abdullatif Ghajar (18)
Am 05.08.2018 haben wir uns muslimischen Jugendlichen am Erfurter Bahnhof getroffen. Wir kannten uns vorher nicht wirklich, aber paar Minuten später sind wir ziemlich beste Freunde geworden. Die Stimmung erinnerte uns an unsere Heimat. Denn in Syrien ging man auch auf solche Reisen und man freute sich, endlich arabische Freunde im gleichen Alter kennenzulernen. Es ging so schnell, so dass wir zwei Stunden später in Berlin gemeinsame Selfies machten. Wir waren in einem arabischen Restaurant und flogen leider in zwei Gruppen in Richtung Polen. Doch es hörte nicht auf, wir haben uns lange in der WhatsApp Gruppe unterhalten.
Am nächsten Tag trafen wir die andere Gruppe, die jüdischen Jugendlichen. Am Anfang waren wir zurückhaltend, so dass ein Austausch kaum möglich war. Wir sind nach Krakau mit dem Bus gefahren und wir saßen getrennt, also jeder neben seinem Bekannten. In Krakau hatten wir eine Stadtführung durch das jüdische Viertel und besichtigten drei Synagogen und den jüdischen Friedhof. Wir Muslime hatten viele Fragen, die wir der anderen Gruppe stellten und somit ging es los. Die Jugendlichen aus der jüdischen Gruppe und die Betreuer waren alle nett und haben sich Mühe gegeben, uns ihre Religion zu erklären. Wir haben festgestellt, dass manche nicht aus Deutschland kommen und daher Deutsch als Fremdsprache sprechen. Lustigerweise war das eine Gemeinsamkeit zwischen uns. Zudem sind wir zum islamischen Zentrum in Krakau gefahren, wo der Austausch nun in umgekehrter Weise geschah. Auf der Rückfahrt saßen wir im Bus dieses Mal gemischt. Das war der Beweis dafür, dass der Tag erfolgreich war.
Es war, wie gesagt, keine touristische Reise, viel mehr war es eine tiefgehende Erfahrung. Ein wichtiger Teil unseres Programms war das Konzentrationslager Auschwitz zu besuchen. Dort sind wir am nächsten Tag hingefahren und haben das Lager gesehen. Es war hart, sich die Situation in diesem Lager vor 75 Jahren vorzustellen. Mit Respekt und Mitleid überspringe ich die traurigen Szenen. Am Ende der Führung hielten wir beide Gruppen, Muslime und Juden, zwei Totengebete, einmal auf jüdischer und einmal auf islamischer Art. Da war der Moment, in dem wir uns an unsere Flucht vom Krieg erinnerten. Wir waren für eine Weile still und haben unsere Gedanken schweifen lassen. Ich persönlich habe über die Konflikte in meiner Heimat nachgedacht. Was auch zum Thema passt ist natürlich der Palästina-Israel-Konflikt. Ich habe mich getraut, einen Jugendlichen aus der jüdischen Gruppe danach zu fragen. Ab diesem Moment hat sich der religiöse Austausch zu einem politischen Austausch für kurze Zeit entwickelt. Nach langem Gespräch mit einem netten Jungen aus Israel, mussten wir beide einsehen, dass es im Nahen Osten viele Fehler von beiden Seiten begangen werden und dass die Medien uns nicht das komplette Bild vermitteln können. Das Ergebnis lässt sich wie folgt zusammenfassen: es gibt keinen richtigen Krieg, sondern eine unendliche Abwechslung von Reaktionen. Frieden durch Dialog ist die einzige mögliche Lösung.
Der letzte Tag war der wichtigste Tag. Denn es kamen Gäste zu uns, und zwar der Ministerpräsident Ramelow aus Thüringen, der Ministerpräsident Günther aus Schleswig-Holstein und die Bildungsministerin aus Schleswig-Holstein. Sie haben bei unserer gemeinsamen Gedenkveranstaltung in Auschwitz teilgenommen. Im Anschluss an der Gedenkfeier haben die Politiker Kränze und wir Rote Rosen niedergelegt. Nach dem gemeinsamen Mittagessen, haben wir eine gemeinsame Diskussionsrunde mit den Politikern gehabt. Ich habe die Frage gestellt, ob ich als Flüchtling mir Sorgen machen sollte, wenn ich sehe, dass die AFD mächtiger wird. Der Ministerpräsident Ramelow hat damit geantwortet, dass das Fördern der Integration der Flüchtlinge seine Aufgabe als Politiker ist. Wenn die AFD mal an der Regierung sein sollte, dann heißt das ein großer Verlust für uns alle in Deutschland. Die Antwort hat mich halbwegs beruhigt.
Schnell war die Zeit zu Ende gegangen. Wir mussten Nachts losfahren. Ich hatte Angst, dass ich verschlafe, deshalb bin ich wach geblieben und habe den letzten Moment dort mit den Anderen genossen. Wir mussten uns verabschieden und gerade das war für uns kein Ende, sondern ein Anfang für eine wunderbare Freundschaft. Wir haben unsere Kontakte unter einander ausgetauscht. Damit endete am 10.08.2018 die Reise.
Als Fazit würde ich allen solche Reisen empfehlen. Es lohnt sich wirklich die andere Seite anzuhören und sich mit den gegenseitigen Vorurteilen auseinander zu setzen. Nur durch den Dialog lernen wir uns gegenseitig kennen. Außerdem, es macht Spaß!
Großer Dank gilt den Veranstaltern und den Projektorganisatoren vom Zentralrat der Muslime und der Union der progressiven Juden, die viel Zeit und Mühe investiert haben. Sie haben uns diese Bildungsreise ermöglicht, bei der wir alle so viel mitnehmen konnten. Ich hoffe, dass das Projekt auch in Zukunft weiter gehen wird und viele andere die gleiche Erfahrung machen werden, wie unsere Gruppe.“
Allgemein zur Reise:
Über ein halbes Jahr dauerten die Vorbereitungen für die Reise. Mazyek und Homolka begleiteten die Gruppe und nahmen an der gemeinsamen Gedenkveranstaltung neben den Ministerpräsidenten aus Thüringen und Schleswig-Holstein, Bodo Ramelow (Linke) und Daniel Günther (CDU), teil. Die gemeinsame Gedenkveranstaltung war der Höhepunkt der Reise. Eröffnet wurde die Gedenkveranstaltung mit der Rezitation des Imam Assem Halaks aus dem Koran, die von der Schülerin Masa Alimam ins Deutsche übersetzt wurden ist. In seiner Rede zur Andacht mahnte Mazyek, dass der Rassismus und der Antisemitismus eine Sünde im Islam darstellen und bekämpft werden müssen. Er bezeichnete das ehemalige Vernichtungslager als ein "furchterregendes Symbol für die Entrechtung, Entmenschlichung und Verfolgung von Millionen Menschen". "Wir versprechen, dass wir uns mit unserer Kraft, mit der Kraft unseres Glaubens, gemeinsam für das 'Nie wieder Auschwitz' einsetzen werden". Bei der Andacht sprach auch der Rabbiner Dr. Henry G. Brandt: "Ich bin tief beeindruckt, dass Muslime und Juden hier zusammen sind", sagte er. Er hoffe, die jungen Menschen würden als "Architekten des Morgens" Lehren für das Leben daraus ziehen.
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