Nach Türkei-Referendum: Nach der Wahl ist vor der Wahl?
Zwischen Hoffnung auf Normalität und Dauerwahlkampf
Istanbul (KNA) Der Tag nach dem Referendum hatte ruhiger begonnen, als die meisten Istanbuler es wohl erwartet hatten. Am Montagmorgen sitzen am Galataturm ein paar Menschen in den Straßencafes und genießen die Sonne des ersten warmen Frühlingstages. Die Gegend um den im 13. Jahrhundert von den Genuesern erbauten Turm war lange das Zentrum der religiösen Minderheiten. Hier drängen sich auf wenigen Straßen Synagogen, orthodoxe und katholische Kirchen - darunter auch die katholische Kirche Sankt Georg von Pater Alexander Jernej. Die dazugehörige österreichische Schule diente als Wahllokal. Pater Jernej zeigt sich gelassen: «Für die christlichen Minderheiten wird das Abstimmungsergebnis zunächst wenig Auswirkungen haben.»
Mit 51,4 Prozent hatten etwas mehr als die Hälfte der Wähler laut vorläufigem Endergebnis für die umstrittene Verfassungsänderung gestimmt, mit dem Präsident Recep Tayyip Erdogan mehr Macht erhält. Für Erdogans Kritiker ist das Ergebnis ein Schock. Noch in der Nacht nach Bekanntgabe der ersten Ergebnisse gingen aufgebrachte Bürger auf die Straßen. Die größten Oppositionsparteien zweifelten das Ergebnis an. Über ein Drittel der Wahlzettel seien ungültig.
Die Wahlbehörde dagegen bekräftigte am Montagmorgen, die Auszählung sei korrekt verlaufen. Befürworter der Verfassungsänderung vergleichen den von Erdogan vorangetriebenen Umbau des Staates oft mit dem Präsidialsystem der USA oder Frankreichs. Tatsächlich aber hat der türkische Präsident nun ungleich mehr Macht. Er ernennt das Kabinett und hat das Recht, das Parlament aufzulösen. Sein Einfluss auf die Rechtsprechung dürfte weiter steigen.
Zudem wurde die Pressefreiheit in den Monaten nach dem Putschversuch im Sommer vergangenen Jahres massiv eingeschränkt. Rund 150 Journalisten sitzen in türkischen Gefängnissen in Haft, darunter auch der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel. Vertreter der Zivilgesellschaft hatten in den letzten Wochen einen harten Wahlkampf gegen das Referendum geführt.
Trotz einer Niederlage seien viele motiviert, diesen Kampf fortzusetzen, meint Felix Schmidt, der das Büro der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Istanbul leitet. Die Situation bleibe schwierig. Allerdings habe das knappe Wahlergebnis Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen auch gezeigt, dass sie viel bewegen könnten. «Viele Organisationen also dürften jetzt noch politischer und aktiver werden.» Für ausländische Stiftungen und Organisationen werde die Arbeit nicht leichter, fügt Schmidt hinzu. «Vielen wurde während des Wahlkampfes vorgeworfen, die Nein-Kampagne zu unterstützen.» Pater Dositheos Anagnostopoulos, Sprecher des Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I., sorgt sich unterdessen um das Klima in der Türkei. «Schlimm wäre eine zunehmende Islamisierung des Landes», sagt er.
Bisher aber sei davon nichts zu merken. Ohnehin sehnen sich viele Türken nach Ruhe. Doch der erste Mann im Staate sorgt bereits für neue Schlagzeilen. Als erstes wolle er die Wiedereinführung der Todesstrafe auf die Tagesordnung setzen, kündigte Erdogan an.
Das dürfte für neue Debatten sorgen - und die ohnehin schon belasteten Beziehungen zu den europäischen Ländern vor neue Herausforderungen stellen. Die ersten Reaktionen von dort fielen zurückhaltend aus. Man nehme das Abstimmungsergebnis zur Kenntnis und warte nun auf den Bericht der Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), teilten EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und der für die Beziehungen zu den EU-Anrainern zuständige Kommissar Johannes Hahn in einer gemeinsamen Stellungnahme mit.
Ähnlich äußerten sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Sigmar Gabriel (SPD). Der knappe Ausgang der Abstimmung zeige, wie tief die türkische Gesellschaft gespalten sei. «Das bedeutet große Verantwortung für die türkische Staatsführung und für Präsident Erdogan persönlich.» Moderate Töne gegenüber dem Präsidenten, der im Wahlkampf den Europäern vorgeworfen hatte, einen «Kreuzzug» gegen den Islam zu führen.
|