Newsinternational Samstag, 13.09.2014 |  Drucken


Franz Beckenbauer mit Mohamed Bin Hammam im Juli 2000
Franz Beckenbauer mit Mohamed Bin Hammam im Juli 2000

Kommt die Fußballweltmeisterschaft nun nach Katar?

Viele grosse deutsche Firmen sind beteiligt - Gastarbeiter und WM in Katar - Fußball und unser Leben

Im folgenden ein Artikel, welcher kürzlich in der Zeitschrift "zentith" - siehe Link mit dem aktuellen Foto-Wettbewerb - erschien und den wie hier abdrucken:

Erst die WM 2022 lenkt den Blick auf Katar – und auf das Elend seiner Arbeiter. Doch wer ist dafür verantwortlich? Die bisherige Berichterstattung geht am Kern des Problems vorbei: Es ist zu einfach, mit dem Finger einzig auf das Emirat zu zeigen. Eine Reise an den Golf zeigt: An dem schmutzigen Geschäft verdienen auch viele andere – nicht zuletzt deutsche Unternehmen.   Von Kristina Milz   Eigentlich dürfte Raj Bahadoor gar nicht dort sein, wo er jetzt sitzt. Der 38-jährige Mann aus Kerala in Indien hat es sich im Schneidersitz auf seiner Matratze bequem gemacht. Es war wieder eine lange Woche und Bahadoor hat seinen freien Tag. Einer der unteren Plätze der Stockbetten wurde ihm zugeteilt. »Es ist verboten, Stockbetten zu benutzen«, heißt es in der Verordnung Nummer 17 des katarischen Ministeriums für Wohnungswesen, die immerhin schon aus dem Jahr 2005 stammt. Das Dekret regelt die zweckmäßige Unterbringung von Arbeitern. Etwa in Artikel 3, Absatz 1: Dass Bahadoor kein Einzelbett hat, ist demnach ein Verstoß gegen katarisches Recht. Ein ebenso kleiner wie systematischer.   Nach Einzelbetten kann man lange suchen in den Unterkünften in der »Industrial Area« im Südwesten von Katars Hauptstadt Dohas. Kaum eine Firma hält sich daran. Vielleicht hat sich die Al Habtoor Leighton Group (HLG), für die Raj Bahadoor arbeitet, auch deshalb nichts dabei gedacht. Ebenso wie bei der Tatsache, dass die Arbeiter zu sechst in einem Zimmer hausen anstatt zu viert, wie es behördlich vorgeschrieben ist. Oder dass Bahadoor und seine Kollegen 60 Stunden die Woche arbeiten. Und nicht maximal 48.   Die im Nahen Osten tätige HLG gehört zur Hälfte der australischen Firma Leighton. Und Leighton ist wiederum eine Tochter des traditionsreichen deutschen Baukonzerns Hochtief. Hochtief ist vermittels unterschiedlicher Joint-Ventures im Emirat Katar tätig, und die Dividenden der Aktionäre erwirtschaften auch Menschen wie Bahadoor und seine Kollegen.   Ein Nepalese, nicht älter als 20, sitzt auf dem Bett über Bahadoor und starrt ins Leere. Sein Name ist Jeevan und wenn er angesprochen wird, zuckt er regelrecht zusammen. Die Woche auf dem Bau scheint ihm jedenfalls nicht gutgetan zu haben. »Der ist noch nicht lange hier«, sagt Bahadoor. Er sagt es fast so, als müsse er seinen Stubenkameraden für dessen Benehmen entschuldigen.  

Bahadoor steht auf, stemmt die Arme in die Seiten und sagt: »Es ist alles gut hier. Wir haben keine Probleme.« Dabei nickt er mit dem Kopf, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Hier, in der Mitte des kleinen schmutzigen Raums, in dieser Lücke zwischen den Schlafplätzen links und rechts, stünden ihm laut Gesetz eigentlich mindestens vier Quadratmeter zur individuellen Entfaltung zu: Artikel 2, Absatz 1. Er kann sich hier aber gerade so einmal um die eigene Achse drehen, trotz seiner eher zierlichen Gestalt von einsfünfundsechzig.   Zwei Männer, der »Security Officer« und der »Assistant Camp Boss«, stehen mit im Raum und beobachten Bahadoor aufmerksam, während er erzählt. Dass er Zimmerer sei zum Beispiel. Sein Stolz ist nicht zu übersehen. Auf der Baustelle direkt neben der bekannten »City Center Mall« in Doha, dort, wo die Arbeiter der HLG drei Luxushotels bauen, ist seine Tätigkeit hoch angesehen. Denn sie ist besser vergütet als die gewöhnlicher Arbeiter. Er verdiene 1.800 Rial im Monat, erzählt Bahadoor. Einen Teil davon schicke er nach Hause, zu seiner Frau und den Kindern in Südindien. Wieder nickt er. Der »Assistant Camp Boss« stimmt nun geräuschvoll anerkennend zu.  

So viele Bürger, wie die Stadt Wuppertal Einwohner hat: Das Emirat ist das reichste Land der Welt  

1.800 Rial, das entspricht etwa 360 Euro. Wenig für einen Knochenjob, der täglich um halb sechs in der Früh mit einer einstündigen Fahrt von der Unterkunft zur Baustelle beginnt und abends um halb sechs mit der Heimfahrt endet. Bahadoor weiß, dass es ihm damit vergleichsweise gut geht – immerhin kann er durch das Geld, das er regelmäßig überweist, seine Familie ein wenig entlasten.   Viele andere, die nach Katar kamen mit der Hoffnung, genügend Geld zu verdienen, können das nicht. Oftmals sehen sie nur einen Bruchteil des Gehalts, das in ihren Verträgen steht – wohin der Rest verschwindet, wissen sie nicht. Eine Studie von Amnesty International (AI) vom November 2013 hat zahlreiche Fälle dokumentiert, aber die Recherchen zu den Provisions- und Vermittlergeflechten in Katar stehen noch am Anfang. Immerhin: Bahadoor zumindest sagt, er habe noch nie auf sein Geld warten müssen.   Es ist ein Freitag, der einzige freie Tag für die meisten Arbeiter in Katar. Bahadoor und seine Zimmergenossen werden heute vielleicht noch Lebensmittel kaufen in der »Asian Mall«, die in der Nähe ihrer Unterkunft liegt. Reis und Brot. Dort schlagen sie auch die Stunden tot, wenn sie einmal nicht arbeiten: in einer trostlosen Gegend mit den unzähligen Schlaglöchern im Asphalt. Den Müllbergen auf den Straßen. Den zerbrochenen Fensterscheiben und heruntergekommenen Häusern. Da, wo ein Lkw sich an den anderen reiht und Silos, Kräne und Betonmaschinen nur feiertags zum Vorschein kommen, wenn sich die Staubwolke einmal legt.  

In Dohas Zentrum blüht das Leben: Funkelnde Einkaufszentren und Boutiquen, elegante Museen, Wolkenkratzer. Auch einen historistisch renovierten Altstadtkern gibt es. Dazwischen halbfertige Hochhäuser, eine Baustelle neben der nächsten, Investitionen, wohin das Auge blickt. Die Straßenverläufe ändern sich praktisch täglich. Der Fortschritt ist kaum einzuholen.   Die Skyline an der Corniche und die Arbeitercamps in der »Industrial Area«: Es sind zwei Gesichter eines kaum 42 Jahre alten Staates, der sich inmitten seiner industriellen Revolution befindet. Ein einzigartiges Phänomen des 21. Jahrhunderts, anschubfinanziert mit Öl und Gas. Eine Revolution, die weltweit nicht ohne Anerkennung bleibt und von der internationale Unternehmen in Milliardenhöhe profitierten, schon lange bevor die Fußball-WM 2010 an Katar vergeben wurde. Mit dabei sind natürlich auch die Industriegiganten Deutschlands: BMW, Audi, Siemens, Hochtief oder MAN.   Bis 2030 soll die »National Vision« der herrschenden Familie Al Thani erfüllt sein: Spitzenreiter in Architektur, Technik, Sport und Bildung will man dann sein. Die WM 2022 ist ein Stützpfeiler dieses nationalen Selbstverwirklichungsprogramms: Bis dahin werden 200 Milliarden US-Dollar investiert. Neun WM-Stadien sollen gebaut, drei bereits bestehende renoviert werden, alles »CO2-neutral«. Der neue Flughafen? Wird dreimal so groß wie der jetzige. Es soll ja kein Gedränge geben, wenn dann in acht Jahren die Welt zu Gast ist. 44.000 Betten hat das Land in seiner WM-Bewerbung versprochen – mehr als die Hälfte davon muss erst noch geschaffen werden. Das zweitgrößte Einkaufszentrum der Welt, »Festival City«, soll sich auf 433.847 Quadratmeter erstrecken und wird mit 1,7 Milliarden US-Dollar veranschlagt. Die Metro in Doha, der neue Hafen, eine künstliche Insel – die Liste der Megaprojekte ließe sich fortsetzen.  

Auch kleine und mittelständische deutsche Unternehmen lockt das an – wer würde sich solche Märkte auch entgehen lassen? Bereits 2012 waren 40 Prozent der Erwerbstätigen in Katar im weitesten Sinn im Bausektor beschäftigt, und die Auslandshandelskammer (AHK) rechnet mit einem drastischen Zuwachs. Erst ein Viertel der Aufträge sei überhaupt schon vergeben, hieß es dort bei einer Informationsveranstaltung für Mittelständler im November 2013. An Geld und Investitionswillen mangelt es in Katar sicher nicht. So listet denn auch eine »SWOT-Analyse« der AHK – sie untersucht Stärken, Schwächen, Chancen des Markts – keine finanziellen Risiken auf. Sondern benennt als Probleme: »veraltete politische Strukturen« und eine »extrem hohe Abhängigkeit von Fremdarbeitern«.  

Das Elend der Gastarbeiter in den Golfstaaten ist nicht neu. Aber jetzt geht es um Fußball  

Katar ist das »reichste Land der Welt« mit seinem Pro-Kopf- Einkommen von rund 100.000 US-Dollar im Jahr. Als »Köpfe« werden in dieser Rechnung eigentlich alle Einwohner gezählt, in Katar gilt dieser Reichtum aber nur für die Staatsbürger. Von 1,95 Millionen Einwohnern besitzen nur rund 350.000 einen katarischen Pass. So viele Menschen leben in Wuppertal. Der Rest der Menschen im Emirat, mehr als 80 Prozent, sind Ausländer, die meisten von ihnen Gastarbeiter aus Südostasien. Die 85 reichsten Menschen der Welt besitzen zusammen genauso viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, heißt es in einer Oxfam-Studie vom Januar 2014. Das Ergebnis gilt als Beleg dafür, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft. In Katar gibt es keine Schere – das gesamte Gesellschaftssystem des Landes basiert auf diesem Gefälle.   Aber warum sollte uns das erschüttern? Ähnliche Entwicklungen in den Golfstaaten sind längst bekannt – über Glanz und Elend von Ausländern im Emirat Dubai beispielsweise wird in Fachkreisen seit Jahren diskutiert. Was also macht den Fall Katar so besonders und so kontrovers? Die Antwort lautet: Etwas, das in uns noch andere Leidenschaften weckt, egal ob wir wissen, wo dieses Katar eigentlich liegt. Die Antwort lautet: Fußball.   Für den WM-Zuschlag durch die FIFA zahlen die Katarer derzeit einen Preis, mit dem sie nicht gerechnet hatten: Seit Monaten schlagen die Berichte über die Lebensbedingungen der Gastarbeiter hohe Wellen, auch wenn es den Asiaten in Ländern wie Saudi- Arabien oder Bahrain nicht unbedingt besser ergeht. Der britische Guardian berichtete im Sommer über dutzende Tote auf den Baustellen, es folgte ein ausführlicher Bericht von Human Rights Watch (HRW) über die Lebensbedingungen der Arbeitsmigranten, Amnesty International zog nach. Die Vereinten Nationen forderten Katar mit Blick auf die WM dazu auf, die Lage der Arbeiter zu verbessern.   Dass dort Menschen unter untragbaren Zuständen leiden, steht außer Frage. Bei näherem Hinsehen erweist sich aber auch manche Medienberichterstattung als falsch und oberflächlich. So ist etwa oft von »WM-Baustellen« die Rede. Dabei existieren solche noch gar nicht. Die Schuld an der Situation der Arbeiter wird den Katarern alleine zugeschrieben – Ressentiments gegen die reichen »Scheichs« schwingen nicht selten dabei mit. Auch deshalb stoßen die Schlagzeilen in Katar selbst übel auf – reflexartig wird dann zurückgeschossen. »Warum sollten die Arbeiter kommen, wenn es ihnen hier nicht besser ginge als zuhause?«, fragt gekränkt eine Mitarbeiterin des Außenministeriums in Doha. »Und warum gehen sie nicht einfach, wenn es ihnen nicht gefällt?« Ein Redakteur des Senders Al-Jazeera lässt sich bei Tisch sogar zu der Behauptung hinreißen, es gebe gar kein Arbeiterproblem: »Das sind alles Lügen.«   Deutsche Firmen, die mit Katar zu tun haben, sind angesichts der schockierenden, aber zum Teil auch polemischen Berichterstattung irritiert. Man möchte die Kunden und Partner im Emirat in Schutz nehmen. Für Yasmin Fürstmann, Geschäftsführerin von Gulf Project Partners, dem Verbindungsbüro der AHK in den Ländern der unteren Golfregion, bedeutet das: »Wir sind nicht an weiterer negativer Berichterstattung über Katar interessiert«. Fürstmann ist eine der Sprecherinnen auf der Münchner AHK-Veranstaltung für Mittelständler und zeigt sich erbost über das schlechte Image der Katar-Projekte. Immerhin fallen immer wieder Worte wie »Sklaverei«.  

»Man muss doch auch mal die Visionen sehen, nicht immer nur das Negative«, sagt ein Deutscher
 

Tatsache ist: Das in Katar wie in anderen Golfstaaten verbreitete »Kafala«-System verpflichtet jeden ausländischen Arbeiter im Land dazu, sich unter die Patronage eines katarischen Garanten oder »Sponsors« zu stellen. Der so genannte »Kafil« bürgt für den Arbeitnehmer und soll ihm eigentlich Schutz und Hilfe bieten. De facto bestimmt er dadurch aber auch, ob und wie lange der Arbeiter im Land bleiben darf. In zahlreichen Fällen führt das tatsächlich zu Verhältnissen totaler Abhängigkeit. Das System ist anfällig für Missbrauch, möglicherweise begünstigt es skrupellose Ausbeuter sogar. Aber »Sklaverei«?   Franz Beckenbauer jedenfalls hat »noch keinen einzigen Sklaven« in Katar gesehen. Dies beschied er noch vor kurzem live im Fernsehen. »Die« – wen auch immer Beckenbauer damit meinte – liefen alle frei herum und seien nicht »in Ketten gefesselt«. Der Fußballfunktionär sagt: »Ich habe mir vom arabischen Raum ein anderes Bild gemacht und ich glaube, mein Bild ist realistischer.« Unwissenheit oder Zynismus? Wer es gut meint mit dem »Kaiser«, plädiert auf ersteres.  

Natürlich ist das Bild der Sklaverei ein schiefes. Und natürlich ist Beckenbauers Aussage zynisch. Beides wird der komplexen Situation nicht annähernd gerecht, unter der in Katar de facto aber zigtausend Menschen leiden. Ja, die Arbeitsmigranten sind freiwillig im Land. Genauer: Sie, die Verlierer der Globalisierung, sind aus freien Stücken gekommen, um am Gewinn teilzuhaben. Was sie in Katar erwartet, wissen nicht alle, aber viele. Etliche werden bereits in ihren Heimatländern betrogen, zahlen horrende Summen an zweifelhafte Agenturen, um ein Arbeitsvisum zu erhalten. Nicht wenige arbeiten das ganze erste Jahr nur dafür, diese Kosten wieder abzubezahlen, oder sogar länger. Anderen wird der Pass von ihren Sponsoren entzogen – auch das ist gesetzlich verboten. Manche sind aber froh darüber, weil dann jemand auf das wichtige Dokument aufpasst. Für wieder andere bedeutet es, dass die Willkür des Arbeitgebers sie ans Land fesseln kann. Auch dann, wenn sie lieber gehen wollen.   Ein weiteres Problem ist die Sicherheit am Arbeitsplatz. Der Arbeiter aus Asien scheint eine schier unerschöpfliche Ressource zu sein. Manche Firmen legen auf die Sicherheit ihrer Arbeitnehmer daher offenbar weniger Wert als notwendig. Der Internationale Gewerkschaftsbund (ITUC) hat eine frappierende Hochrechnung vorgenommen: Wenn sich an den Verhältnissen auf dem Bau nichts ändert und alles so läuft wie bisher, werden bis zu 4.000 Arbeitsmigranten bis zum WM-Jahr 2022 sterben. Hauptgründe sind die hohen Temperaturen im Sommer, Dehydrierung, mangelnde Hygiene in den Unterkünften. Die Zahl ergibt sich aus einer Hochrechnung der Angaben der nepalesischen und indischen Botschaft.   Der Guardian berichtete zuletzt über 382 Arbeiter allein aus Nepal, die in den vergangenen beiden Jahren im Golfemirat gestorben sind. Das ist eine Sterbequote von 1 zu 500 – nur auf die nepalesischen Bauarbeiter bezogen. Zum Vergleich: Nach Angaben der deutschen Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft, die rund 2.750.000 Versicherte zählt, lag die Quote tödlicher Betriebsunfälle in Deutschland zuletzt bei 1 zu 3.000.  

Als die Berichterstattung zu den Baustellen in Katar einsetzte, ging es zunächst um 44 tote Nepalesen, die allein in den beiden Sommermonaten Juni und Juli 2013 am Arbeitsplatz starben. Menschenrechte und Arbeitsschutz aber stehen nicht auf den Vortragsfolien bei Veranstaltungen für deutsche Unternehmen. Auch nicht an jenem Vormittag in der Frankfurter IHK im November, beim »Wirtschaftstag Katar«. Die Veranstaltung ist gut besucht. Im offiziellen Rahmen wird die Situation der Arbeitsmigranten mehr oder weniger elegant umgangen. In den Pausen ist zu spüren, dass Manager und Unternehmer mit den Zuständen durchaus vertraut sind. »Die Pakistanis und Inder«, fachsimpelt einer am Buffet, »die sind ja eher von der groben Sorte«. Ein anderer feixt: »44 Tote in Katar? Da lachen die Saudis doch nur drüber! Das wäre für die ja wie eine Gesundheitsreform.« Die Männer am Stehtisch nicken zustimmend.  

»Es ist alles gut hier. Wir haben keine Probleme«, sagt der schmächtige Bauarbeiter aus Indien. Der Wachmann nickt
 

Nur einem scheint dabei nicht wohl. Der junge Mann wurde von einem Bundesliga-Erstligisten geschickt. Mission: Sponsoren aus Katar sondieren. Ganz wohl ist ihm beim Gedanken an die spendablen Geldgeber vom Golf offensichtlich nicht. Schließlich hatte sein Verein erst im Sommer 2011 mit Negativschlagzeilen und Fanprotesten zu kämpfen: Damals ging der Sponsor wegen mutmaßlicher Quälerei von Nutztieren durch die Presse, was kein Fußball-Klub gebrauchen kann.   Einer, der weder Sponsoren noch Geschäfte sucht, sondern in Frankfurt an das Bewusstsein appellieren will, ist Wenzel Michalski, Direktor von Human Rights Watch Deutschland (HRW). Beim Wirtschaftstag Katar spricht er in der Publikumsdiskussion das Thema Gastarbeiter an – und obwohl das nicht allen gefiel, sorgt er immerhin für Gesprächsstoff zwischen den Programmpunkten.  

»Mit unserem Material könnte man auch Panzer bauen«, sagt der Vertreter eines Herstellers von Präzisionswerkzeugen in der Raucherpause. Da dürfe man ja gar nicht ins Exportgeschäft einsteigen, wenn man sich über so etwas wie Menschenrechte Gedanken mache. Der Manager wirkt aufgewühlt: »Jetzt mal im Ernst: Probleme mit Menschenrechten gibt es überall. Man muss doch auch einmal die Visionen sehen, nicht immer nur das Negative«, sagt er und schiebt einen Vergleich zur Diskriminierung von Sinti und Roma in Osteuropa nach. »Mache ich deshalb keine Geschäfte mit Rumänien?« Würde man dem Mann etwas von der Problematik der Stockbetten in katarischen Arbeiterunterkünften erzählen – man möchte sich die Reaktion nicht ausmalen.  

Wo die Grenzen sind und was man mitmacht, bleibt bisher noch jedem selbst überlassen – aber auch daran könnte sich bald etwas ändern. Denn in Katar gibt es Menschen, die es ernst meinen mit verbindlichen Standards und einer neuen »Arbeitsethik«: Education City, Caféteria im »LAS«-Gebäude, ein gemeinsamer Campus für Studenten aller Universitäten in der katarischen »Bildungsstadt«. Aakash Jayaprakash schüttelt nur mit dem Kopf, als er von den Aussagen deutscher Manager hört. Der Menschenrechtsaktivist hat eine NGO gegründet und eine Hotline eingerichtet. Für Arbeiter, die nicht wissen, wohin. In und mit ihrer Not.  
Es gebe auch Fortschritte, sagt Jayaprakash. Zum Beispiel die Abteilung »Health, Safety, Security and Environment« der Qatar Foundation (QF): eine Stelle, die im September 2013 einzig dafür eingerichtet wurde, um die Situation der Arbeiter zu verbessern, die an Projekten der halbstaatlichen Stiftung beteiligt sind. Der QF steht Sheikha Mozah vor, die Mutter des jungen Emirs Tamim Bin Hamad Al Thani. Sie widmet sich der Förderung von Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftsprojekten. Von QF wurden Mindeststandards für Arbeiter entwickelt, die seit April 2013 in jedem neuen Vertrag stehen.  

Die Stockbetten seien noch das geringste Problem, sagt Jayaprakash. Wichtiger sei es, den Anwerbeumständen nachzugehen. Die Arbeiter müssten anständig bezahlt werden, die Baufirmen umfassend kontrolliert. Bisher verteilt sich diese Aufgabe auf wenige Schultern. Die Mitarbeiter der QF-Abteilung sind zu viert – und zuständig für alle Projekte der Stiftung mit ihren 30.000 Arbeitern. Beim katarischen Arbeitsministerium, das regelmäßig prüft, sieht es nicht besser aus: Wenige hundert Beamte kontrollieren die Lebensbedingungen von 1,2 Millionen Arbeitern.   Samstag, ein normaler Arbeitstag: Um 16 Uhr wartet im Industriegebiet ein Bus auf die Arbeiter, die zu einer weiteren Baustelle des Unternehmens HLG gebracht werden. Ihre müden Gesichter lehnen am Fenster, der Kopf eines Mannes ist nach vorne gefallen, er ist eingeschlafen. Nach einer Stunde erreichen sie das Stadtviertel Kartiyat. Hier baut HLG das Einkaufszentrum »North Gate Mall« und Bürogebäude. Der Bus passiert das überwachte Tor. Wenige Minuten später kommt er zurück und fährt auf einen großen Parkplatz, wo er, wie dutzende andere auch, darauf wartet, andere Arbeiter, die vom Schichtwechsel kommen, zurück in ihre Unterkunft zu bringen. Unzählige blaue Hosen, gelbe Helme und orangene Westen machen sich auf den Weg. Von den Menschen selbst ist wenig zu sehen, sie alle tragen Tücher über Mund und Nase, um sich vor dem Zementstaub zu schützen. Nur ihre Augen lugen hervor.  

Was hat euch Katar eigentlich getan? Manche Manager verstehen die öffentliche Kritik einfach nicht
 

Der Fahrer des Busses ist nervös. »Ich verdiene 1.800 Rial, weil ich Fahrer bin«, sagt er. »Die normalen Bauarbeiter bekommen zwischen 600 und 1.000 Rial im Monat – je nachdem, aus welchem Land sie kommen«, schiebt er hastig hinterher. Die Botschaften der Länder, aus denen die Arbeiter kommen, handeln unterschiedliche Mindestlöhne aus. Aber 120 bis 200 Euro? Da bleibt nicht viel mehr als das nackte Überleben. Er habe Angst, mit Fremden über die Firma zu sprechen, sagt der Fahrer und steigt wieder in seinen Bus Richtung Industriegebiet.   Unter Berufung auf vertrauliche Geschäftsinformationen verweigert HLG schriftlich Auskunft über die Bedingungen der Arbeiter: »Wir glauben, dass glückliche, gesunde, engagierte und motivierte Arbeitnehmer ein eindeutiger Wettbewerbsvorteil sind und wir behandeln unsere Arbeitnehmer entsprechend«, teilt die Firma allerdings mit. Der Unternehmenskodex stellt laut Homepage sicher, dass die Firma »höchsten Standards ethischen und professionellen Verhaltens« verpflichtet sei. Die Sicherheit und das Wohlbefinden »derjenigen unter unserem Verantwortungsbereich« werden dabei ausdrücklich genannt. Für Verstöße hat HLG eine »Ethik-Hotline« eingerichtet: +971 (0) 4 20 606 06. Anrufe werden streng vertraulich behandelt.  

Viele Firmen in Katar verstoßen gegen internationale Standards und katarisches Recht. Sie zu kontrollieren, ist die größte Schwierigkeit in diesem Kampf um menschliche Würde, den der NGO-Aktivist Jayaprakash und andere Aktivisten täglich kämpfen. Beteuerungen der Behörden, die Arbeitsbedingungen und Unterkünfte besser zu beobachten, haben bisher noch kaum greifbare Ergebnisse gebracht. Wenn Hassan al-Thawadi, Generalsekretär des katarischen WM-Komitees, im Bild-Interview von den neuen Richtlinien für Arbeiter schwärmt, die er zusammen mit internationalen Menschenrechtsorganisationen ausgehandelt habe, so hat die Sache nicht nur einen Haken.  

Die Kontrollen, die al-Thawadi nennt, beziehen sich explizit nur auf Baustellen, die direkt mit WM-Projekten zusammenhängen. Von den geplanten 200 Milliarden US-Dollar an Investitionen wird für die WM aber nur ein Bruchteil ausgegeben. Den meisten Gastarbeitern, die an der »nationalen Vision« schuften, wäre mit den neuen Richtlinien daher nicht geholfen.  

Interessant ist auch, dass weder HRW noch Amnesty diese Richtlinien bisher gesehen haben wollen. Nicholas McGeehan, Katar-Experte von HRW, sagt, dass er sich mit dem WM-Komitee getroffen habe, um die Probleme zu besprechen. Man stehe mit dem Komitee in Kontakt und gehe davon aus, dass die Richtlinien »vermutlich in einigen Monaten« veröffentlicht werden. Es gibt auch strukturelle Probleme bei der Bekämpfung der Missstände: zu wenig Personal, zu langsam die bürokratischen Mühlen.  

Ist vielleicht auch der Wille zu schwach? Die Empathie zu gering? Ist der in Katar vorherrschende Rassismus vielleicht auch ein Grund dafür, dass so lange nichts gegen die Probleme unternommen wurde? Ein Aktivist, der gegen die Diskriminierung der Arbeitsmigranten kämpft, aus Vorsicht aber in diesem Zusammenhang nicht namentlich zitiert werden will, ist jedenfalls davon überzeugt.

Die Qatar Foundation – die schließlich eigens eine Abteilung für die Belange von Arbeitsmigranten eingerichtet hat – will davon nichts wissen. In einem Interview äußert sich ein Mitarbeiter zwar zum Thema Rassismus, später aber wird die Veröffentlichung des Zitats, in dem von »Hierarchie« die Rede war, von der Pressestelle untersagt.   Das Stichwort »Hierarchie« träfe es dabei ganz gut – auch wenn es das Problem noch deutlich verharmlost. »Ich selbst habe einen indischen Pass, obwohl ich in Katar geboren wurde«, sagt der Aktivist. In Katar zählt nur der als Bürger, dessen Vater bereits die Staatsbürgerschaft hatte. Katarer, die sich auf eine Stelle bewerben, schicken manchmal sogar eine Kopie des Ausweises der Mutter mit – um ihre Abstammung hervorzuheben. Manche sind eben ein bisschen gleicher. Internationale Standards relativieren sich auf diese Weise schnell. Er habe den Rassismus am eigenen Leib oft genug erlebt, so der Inder – einer der Gründe für sein heutiges Engagement, sagt er ernst.  

Die Diskriminierung richtet sich insbesondere gegen die asiatischen Fremdarbeiter im Land. »Wenn wir den Nepalesen gute Matratzen kaufen würden, wäre das verschwendetes Geld. Sie schlafen ohnehin lieber unter den Betten – so, wie sie es von zuhause gewöhnt sind«, gibt ein deutscher Manager die Aussage eines katarischen Geschäftsfreundes aus dem Baugewerbe wieder. Raj Bahadoor jedenfalls, der Zimmermann, saß auf dem Bett. Nicht darunter.   Stereotypen haben nicht nur Katarer im Kopf. Eine deutsche Managerin, die in Doha lebt, berichtet stolz von der »Entwicklungshilfe«, die sie mit ihrem philippinischen Hausmädchen betreibe. Die seien doch daran gewöhnt, in ihren »Lehmhütten zu hausen«, und machten mit 300 Euro im Monat sehr viel Geld. Die Diskussion um die widrigen Arbeitsbedingungen hält sie für ein Komplott der englischen Presse, die Katar die WM nicht gönne.  

Noch gibt es keine einzige WM-Baustelle, folglich auch keine WM-Toten. Am Problem ändert das nichts
 

Deutsche Expats in Doha gehören nach katarischer Gesellschaftsordnung der Kaste der »Experten« an. Ingenieure, Manager, PR-Berater. Fachkräfte, vor allem aus Europa und den Vereinigten Staaten, die meist unter sich bleiben und privat weder mit Katarern noch mit den Arbeitern aus Asien verkehren. Eine Auswahl der populärsten Argumente, mit denen sie die WM-Debatte kommentieren: »So ist das nun mal auf einem globalisierten Arbeitsmarkt. Alle profitieren ja von diesem System. Die Leute nicht zu beschäftigen, ist auch keine Lösung.« – »Wir können nichts für unsere Subunternehmer.   Bei den europäischen Firmen herrschen solche Zustände bestimmt nicht.« – »Wie arrogant, den westlichen Maßstab hier anzulegen! In Saudi-Arabien ist es außerdem noch schlimmer. In Katar gibt es doch sogar Mindestlöhne!« – »Was können die internationalen Unternehmen dafür, wenn die Katarer ihre Projekte nach Preis vergeben? – man befindet sich schließlich in einem internationalen Wettbewerb.«   Tatsächlich ist da nicht nur der harte Wettbewerb im Land, sondern auch die Abhängigkeit von Katars Gunst. Die beginnt bei den Joint-Ventures, die zu mindestens 51 Prozent einem katarischen Partner gehören. So schreibt es das Gesetz vor. Anders können sich ausländische Unternehmen in vielen Branchen gar nicht bewerben. Geben die Firmen mit der Mehrheit der Aktien auch ihre Verantwortung für die Arbeitnehmer ab? Viele sagen das.   Doch: Die Gewinn-Verlust-Beteiligung ist oftmals ganz anders verteilt. Oft verdienen internationale Unternehmen mehr als die lokalen Partner – an dieser Stelle macht es das katarische Recht den ausländischen Unternehmen geradezu bequem. Viele große Firmen sind auch auf Aktionärsebene eng mit dem Emirat verschränkt. »Wahre Partnerschaft ist niemals eine Einbahnstraße«, beschreibt Frank Asbeck, CEO der deutschen Solarworld, dieses Prinzip auf einer Veranstaltung der Ghorfa im Berliner Hotel Adlon Kempinski. Die deutsch-arabische Handelskammer hatte ihn wegen seiner Erfahrungen mit Katar beim »Arab-German Energy Forum« im Oktober 2013 auf die Rednerliste gesetzt. Das Emirat werde sich mit 29 Prozent an Asbecks Firma beteiligen, wurde dort bekanntgegeben.   Im Sommer 2013 schrammte das Solarunternehmen haarscharf an der Insolvenz vorbei. Nur durch ein Investment aus Katar konnte es überleben. Seitdem baut es auf den Markt am Golf. Der Preiskampf mit China und Subventionskürzungen der gesamten Solarbranche, insbesondere in Deutschland, hatten der Firma heftig zugesetzt. Sollte das katarische Modell, verstärkt auf Solarenergie zu setzen, zum Vorbild für die Region werden, wäre der Markt für die Zukunft gesichert. Asbeck hat mit der QF das Gemeinschaftsunternehmen Qatar Solar Technologies (QSTec) gegründet; sein Haus ist zu 29 Prozent an dem Joint-Venture beteiligt.   Die Firma baut in der Industriestadt Ras Laffan eine Polysilizium-Fabrik und investiert dafür eine Milliarde US-Dollar. Ähnlich liest sich die jüngere Geschichte von Hochtief: Katar stockte seine Anteile 2010 auf 9,1 Prozent auf. Beim damaligen Kampf gegen die Übernahme durch die spanische ACS-Gruppe sprang das Emirat als so genannter »weißer Ritter« in Gestalt der Qatar Holding ein. Geholfen hat es langfristig nicht, die enge Verbindung des Unternehmens zu Katar aber blieb – mit zehn Prozent.   Auf katarische Empfindlichkeiten nehme man auch aufgrund der Abhängigkeiten Rücksicht, sagen Branchenkenner. Da werde lieber nicht zu detailliert nachgefragt, Kritik an Missständen nicht offen kommuniziert. Mancher aber will es doch genauer wissen: Eine mittelständische Firma, die über ein Engagement in Katar nachgedacht hat, habe ihn kontaktiert, erzählt ein deutscher Anwalt, der namentlich nicht genannt werden will. Er sorgt sich um Aufträge, sollte sein Name mit negativer Berichterstattung über Katar auch nur in Zusammenhang gebracht werden – sogar dann, wenn er selbst nur Positives sagt. Der Mandant habe wissen wollen, ob er mit dem angedachten katarischen Partner auch wirklich zusammenarbeiten könne. Er habe Bedenken wegen der Berichte über die Ausbeutung der Fremdarbeiter im Land. »Es ist dann nicht weiterverfolgt worden, aber im Zweifelsfall wäre ich selbst zur Prüfung auf die Baustelle gegangen«, sagt der Anwalt selbstbewusst.   Die Sicherheit auf den Baustellen in Lusail City war ganz besonders Gegenstand der Diskussion, weil der Guardian im Zuge der Berichterstattung über den Tod nepalesischer Bauarbeiter den Unglücksort namentlich genannt hatte. Die Retortenstadt wird für 45 Milliarden US-Dollar buchstäblich aus dem Sand gehoben, in der Wüste nordöstlich von Doha. Auf 38 Quadratkilometern sollen hier einmal 200.000 Menschen leben, 170.000 arbeiten und 80.000 Urlaub machen können. Bis zur WM sollen in Lusail 22 Hotels für Touristen entstehen.   Auch das größte der neuen WM-Stadien soll hier gebaut werden. »Qatar deserves the best«, steht auf großen grünen Bannern am Rande der Straßen auf dem Weg nach Lusail. Unzählige Arbeiter helfen dabei, den teuren Traum zu verwirklichen. Die der Firma Rabya Qatar bepflanzen die Grünflächen der künftigen Luxusstadt. Dafür verdienen sie nicht mehr als 600 Rial monatlich, 120 Euro. Unabhängig voneinander bestätigen etliche diesen Betrag.  

Bislang hat niemand ausgerechnet, was es kosten würde, die Menschen anständig zu behandeln
 

Bikash Gurung hingegen arbeitet für 750 Rial pro Monat, sagt er am Rande der Baustelle schnell. Er zeigt seine ID-Karte vor, ohne danach gefragt zu werden. Gurung ist es offenbar gewöhnt, kontrolliert zu werden. Sein Arbeitgeber ist die chinesische Firma Sinohydro, die ihre »Labour camps« in einer noch unbebauten Ecke auf dem riesigen Gelände Lusails aufgestellt hat.  

Viel Zeit für ein Gespräch habe er nicht, sagt Gurung und lächelt, nachdem er sein Tuch, das ihn vom Staub schützt, kurz abgenommen hat. Der Weg zu seiner Unterkunft ist aber ohnehin schnell beschrieben, denn Gurung arbeitet nicht nur in Lusail: Er schläft auch dort. Das riesige Gelände, das an einem arbeitsfreien Tag wie ausgestorben ist, sei für ihn wie ein Gefängnis, sagt er. Sein Pass liege beim Arbeitgeber. Er will eigentlich nur noch fort. Auf dem Weg zu seiner Unterkunft: Steine, Sand und Staubwolken, wohin man blickt. Dazwischen Betonmischer und Baumaschinen, ein einziges Grau in Braun. Der Zementstaub kratzt unangenehm in der Kehle. Bei dauerhaftem Einatmen führt das Pulver zu chronischen Lungen- und Atemwegserkrankungen, auch bleibende Augenschäden sind nicht ausgeschlossen. Hier zu arbeiten ist eine Sache. Hier zu wohnen und zu schlafen eine andere. Es sind nur wenige Kilometer zur Corniche, doch die glänzenden Wolkenkratzer scheinen Welten entfernt.  

Das deutsche Ingenieur- und Planungsbüro Dorsch hat mit Lusail den wohl größten Wurf seiner Geschichte gelandet: Die Tochter Dorsch Qatar hält die Bauaufsicht über die Projekte in der Stadt. Die Aufgabe des Unternehmens ist es also, zu prüfen, ob die Umsetzung eines jeweiligen Projekts dem entspricht, was der Kunde – die staatliche Lusail Real Estate Development Company (LREDC) – in Auftrag gegeben hat.   »Die Bauunternehmen schicken Zeichnungen und Pläne zu uns. Wir prüfen dann, ob diese und die aufgeführten Materialen, die Sicherheitsvorkehrungen, das veranschlagte Equipment und Personal das Projekt in der Form realisieren kann, wie es bestellt wurde«, erklärt Katharina Abul Ezz, »Coordination Managerin« der Firma, diese Aufgabe. Die 35-Jährige sitzt in ihrem Büro in Doha. Heute ist sie ausnahmsweise nicht mit ihren Gummistiefeln auf Lusails Baustellen, um nach dem Rechten zu sehen. Dorschs Ingenieure kontrollierten tagtäglich die Baustellen und Sicherheitsmaßnahmen, versichert sie.   Auf dem Gelände haben im Juli vergangenen Jahres fünf Nepalesen und zwei Inder ihr Leben gelassen – so zumindest berichteten lokale Medien. Ein Fahrzeug sei in eine Gruppe im Schatten schlafender Arbeiter gerast. Der Guardian bezieht sich in seinen Berichten über die Toten in Lusail auch auf diesen Unfall. Belegt werden die Zahlen mit internen Dokumenten der nepalesischen Botschaft, die mit Überlebenden gesprochen hat. Olaf Hoffmann, der CEO der deutschen Dorsch Gruppe, sagte dazu Anfang Oktober 2013 in einem Interview mit dem Handelsblatt: »Auf den Baustellen in Lusail City ist in den vergangenen zwei Jahren kein einziger Arbeiter gestorben.« Diese Formulierung wurde womöglich sehr genau gewählt. Denn Verkehrsunfälle abseits der Baustelle sind nicht Sache der Bauaufsicht.   Anders ist das mit Berichten über einen zweiten Vorfall. Mehrere lokale Medien schrieben, dass im September 2013 in Lusail 18 Männer beim Einsturz einer halbfertigen Brücke zum Teil schwer verletzt worden seien: Stahlstangen seien auf Arbeiter der Firma MIDMAC gefallen. Sie seien sofort ins Hamad-Krankenhaus gebracht worden. Die projektverantwortliche Firma LREDC habe daraufhin die Arbeiten an der Baustelle zunächst vollständig eingestellt, heißt es in dem Bericht von Doha News, in dem auch ein entsprechendes Statement des Unternehmens zitiert wird. Auch die arabischsprachige Presse Katars berichtet über ein Ereignis in Lusail an diesem Tag, bei dem 18 Arbeiter verletzt worden seien – genauere Umstände des Hergangs werden nicht genannt, vielmehr die vorbildliche Reaktion von LREDC und ihrer Muttergesellschaft Qatari Diar herausgestellt, deren Vorstandsvorsitzende persönlich die Verletzten besucht hätten.  

15 der Arbeiter seien schnell wieder entlassen worden, drei zur »verlängerten Beobachtung« im Krankenhaus geblieben. Weder das Krankenhaus noch die Firmen MIDMAC oder LREDC antworten auf schriftliche Nachfrage. Katharina Abul Ezz selbst nennt, noch bevor sie auf die Unfallberichte angesprochen wird, als Teil von Dorschs Verantwortugsbereich beispielhaft auch diesen Punkt: »Hält die Brücke, wenn sie so gebaut wird?« Damit ist klar, dass auch der beschriebene Unfall in das Ressort von Dorsch Qatar fiele.  

Konfrontiert mit den Medienberichten über den Vorfall am 18. September 2013, lacht sie belustigt auf. Dann trifft sie eine Aussage, die zu zitieren sie zenith später untersagt. Auch eine offizielle Stellungnahme zur Sache ist von Dorsch nicht zu erhalten: Es wird lediglich auf die »nach wie vor aktuelle« Aussage von Unternehmenschef Hoffmann gegenüber dem Handelsblatt verwiesen. Dem gebe es nichts hinzuzufügen. Von möglichen Verletzten jedoch war in Hoffmanns Einlassungen nie die Rede.  

Das Geschäft in Katar ist eine einmalige Gelegenheit. Der Stress ist groß, die Angst vor dem Scheitern schwingt ebenso mit wie die Hoffnung auf den großen Erfolg. Es sind Pionierzeiten, in denen viele mit dem, was sie sich zutrauen, überfordert sind. Und Zeiten, in denen sich zuweilen jeder selbst der nächste ist.   Aber was würde es kosten, auch nur die Standards, die katarisches Recht vorschreibt, einzuhalten? Und wäre das Emirat bereit, von der Praxis abzurücken, dass Projekte einzig nach Kostengesichtspunkten vergeben werden? Das Geld dafür wäre vorhanden. Katar ist ein Entwicklungsland, das beweisen kann, dass eine industrielle Revolution auch ohne den Kollateralverlust der Menschenwürde funktioniert. Weil es sich wie kaum ein anderer Kleinstaat auf der Weltbühne exponiert hat, muss es sich kritische Nachfragen gefallen lassen. Aber es spricht einiges dafür, dass es so nicht weitergehen wird. Einfach, weil die WM und der große Plan glücklicher Sportfestspiele den Katarern zu wichtig sind. Wenzel Michalski von Human Rights Watch, ein scharfer Kritiker der WM-Vergabe nach Katar, gibt zu: »Die Aufmerksamkeit, die so ein Ereignis erregt, muss man natürlich nutzen, um auf die Missstände aufmerksam zu machen.«  

Der Fußball hat den Blick auf das Schicksal der Arbeiter gelenkt. Man könnte auch sagen: Einzig deshalb interessiert sich die Weltöffentlichkeit überhaupt für die Zustände in Katar. Vielleicht ist die Entscheidung der FIFA deshalb sogar das Beste, was den Arbeitsmigranten im Emirat passieren konnte. Und vielleicht verändert sie auch uns.



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