Newsnational Dienstag, 09.09.2014 |  Drucken


Singen und Tanzen gegen die "Scharia-Polizei" - Eine Polemik

Was wir von Comic-Helden lernen können. Von Muhammad Sameer Murtaza

In dem derzeit in den Kinos laufendem Film Guardians of the Galaxy bekommt es eine fünfköpfige Gruppe moralisch zweifelhafter Outlaws mit einem religiösen Extremisten namens Ronan zu tun. Dessen nihilistische Ideologie erinnert stark an jene der Al-Qaida, des IS oder an die in Deutschland selbsternannten wahhabitischen Scharia-Polizisten. Allesamt deuten sie die Welt negativ als einen Ort der Sünde und der Verführung. Erst durch ein höheres Ziel wird die Existenz in der Welt gerechtfertigt. Bei der Al-Qaida ist es die Auslöschung des Selbst und der Anderen im Zuge von Selbstmordattentate. Bei IS ist es die Errichtung des Kalifats. Bei den Wahhabiten die Aufgabe der Freiheit. Seelisch sind sie alle erkrankt, Nietzsche schrieb: „Wer allein hat Gründe sich wegzulügen aus der Wirklichkeit? Wer an ihr leidet. Aber an der Wirklichkeit leiden heisst eine verunglückte Wirklichkeit sein … Das Übergewicht der Unlustgefühle über die Lustgefühle ist die Ursache jener fiktiven Moral und Religion“.

Unsere Einstellung zu uns selber, zu anderen Menschen, zur Welt überhaupt hat massiven Einfluss auf unsere Interpretation des Qur’an. Schließlich spricht der Text nicht nur zu uns, sondern wir sprechen auch mit dem Text. Jede Anschauung der Welt hat mit dem Problem zu kämpfen, dass ihr Wesen gänzlich umgedeutet werden kann in ein Unwesen: die pervertierte Form des ursprünglich gemeinten und gewollten.
    
Doch noch einmal zurück zu den Guardians of the Galaxy. Auch hier verfolgt der Bösewicht das Ziel die freiheitliche Gesellschaft zu zerstören. Der religiös gedeutete Freiheitsbegriff meint, dass der Mensch aufgrund seiner Entscheidungsfreiheit a) das Recht besitzt, den Glauben an Gott zu verweigern und b), dass der Gottgläubige die göttlichen Imperative übertreten kann. Der Mensch ist für seine Handlungen selbst verantwortlich und niemand darf ihm diese Freiheit nehmen. Andernfalls wird die Individualverantwortung ad absurdum geführt. Am Ende des Films scheint es dann so, als würde der religiöse Nihilismus den Sieg davon tragen. Die Helden wider Willen sind besiegt, der Bösewicht macht sich daran, die totale Zerstörung auszulösen.



Der Zerstörer wird auf einmal nicht mehr ernst genommen – und verliert

Entwaffnet, machtlos, besiegt beginnt nun der Anführer der Guardians den Song O-o-h Child von The Five Stairsteps zu singen und dazu die Hüften zu schwingen. Es ist ein Moment des Fremdschämens. Absolut surreal. In einer solch ernsten Szene völlig deplatziert. Dies empfindet nicht nur der Kinozuschauer so, sondern auch Ronan versteht die Welt nicht mehr. Er, der todbringende Weltenzerstörer, fühlt sich nicht ernstgenommen. Was als ein Moment des Fremdschämens begann wandelt sich nun zu einem Sieg der Freiheit über den Nihilismus jeglicher Couleur. Der Leinwandschurke wird lange genug abgelenkt, um schließlich überwältigt zu werden.

Seit Bekanntwerden der Wuppertaler Scharia-Polizei geht mir diese Szene nicht mehr aus dem Kopf. Die selbsternannten Sittenwächter sind ein Ärgernis. Insbesondere für Muslime. Nicht nur, dass der Islam abermals in negative Schlagzeilen gerät, diese kruden Sittenwächter belästigen vor allem deutsche Muslime und wollen ihnen vorschreiben, wie sie zu leben haben. Wer hat ihnen dazu ein Mandat erteilt?
    
Extremismus jeder Art, ob Rechtsextremismus, Linksextremismus oder religiöser Extremismus ist stets ein Angriff auf die Mitte und den Konsens der freiheitlichen Gesellschaft. Fatal wäre es, wenn wir erneut eine Generaldiskussion über den Islam und die Muslime in Deutschland lostreten würden, denn damit würde der muslimische Mainstream nur wieder ausgegrenzt werden. Stattdessen sollten wir als Bürgerinnen und Bürger uns diesem Angriff gemeinsam entgegenstellen.



Wie Kleinkinder, die ihre Grenzen testen

Machen wir uns nichts vor, der Staat hat keine große gesetzliche Handhabe. Genauso wenig, wie verhindert werden kann, dass am Samstagmorgen um 8 Uhr die Zeugen Jehovas an der Tür klingeln oder Mormonen einen in der Fußgängerzone ansprechen, genauso wenig wird man den Scharia-Polizisten Einhalt gebieten können. Somit ist die Zivilgesellschaft am Zuge. Zu versuchen an die Vernunft dieser Sittenwächter zu appellieren oder theologische Argumente ins Feld zu führen, klingt zwar gut, aber wenn Menschen die Einstellung verinnerlicht haben, die Vernunft sei nichts Gutes und wenn sie mit einem Tunnelblick durch die Welt stolzieren, so bleiben sie unerreichbar. Nehmen wir sie ernst, werten wir sie nur auf. Immer wieder testen die Wahhabiten gleich Kleinkindern die Grenzen aus. Immer wieder provozieren sie, während die Gesellschaft bloß reagiert. Es ist an der Zeit keck zurückzuschlagen, indem man sie einfach nicht ernst nimmt. Dies ist für Wahhabiten frustrierender und irritierender als sich auf eine theologische Diskussion mit ihnen einzulassen.

Eigene Kampagnen starten

Die Muslime Deutschlands sind hier als allererstes gefragt. Vor Wochen glühten noch die sozialen Netzwerke als es um den Nahost-Konflikt ging. Aber bei einem Problem, das sie ganz konkret betrifft, macht sich eine merkwürdige Apathie breit. Wer aber passiv bleibt, macht sich an der Ausbreitung des Wahhabismus in Deutschland und der teilweise damit verbundenen Islamophobie mitschuldig. Es reicht nicht aus, ständig zu betonen, man dürfe die Deutungshoheit über den Islam nicht extremen Kräften überlassen, sondern man muss auch praktische Maßnahmen ergreifen. Bis heute haben es die Muslimische Jugend in Deutschland und andere muslimische Jugendorganisationen nicht geschafft, eine freche Gegenkampange zu starten. Fehlt es uns Muslimen hierzu an Kreativität? Sind wir vielleicht zu steif? Zu duckmäuserisch? Zu barmherzig? Ist es so schwer eine freche virale Gegenaktion zu starten im Stile von Pharrell Williams Happy-Kampagne? Gibt es keinen muslimischen Songschreiber, der etwas ähnlich Angriffslustiges fabrizieren kann, wie damals die Ärzte mit dem Lied Schrei nach Liebe? Der Islam ist eine Religion der Lebensfreude. So sehr, dass im Mittelalter die christliche Polemik dies dem Islam anfeindete. Können Muslime also diese überströmende Lebensfreude nicht in die Welt musizieren?
Was tun wir also nun, wenn wir von Scharia-Polizisten das nächste Mal angesprochen werden? Ooh-oo child. Things are gonna get easier. Ooh-oo child. Things'll get brighter Ooh-oo child….

Muhammad Sameer Murtaza M.A. ist Islamwissenschaftler bei der Stiftung Weltethos (http://www.weltethos.org/). Dort arbeitet er zum jüdisch-muslimischen Dialog und zur islamischen Philosophie im Bezug auf Toleranz und Dialog. Kürzlich erschien sein Buch Islam. Eine philosophische Einführung und mehr…


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