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Montag, 30.12.2013 | Drucken |
Das Alltagsglück und die fünf Säulen des Islam – Beschrieben von einem Konvertiten
Nicht jeder Mensch will glücklich sein. Noch weniger Menschen sind dazu bereit, etwas dafür zu tun, um glücklich zu werden. Opfermentalität ist eine Plage unserer Zeit. Ein Opfer zu sein, bedeutet eine bequeme Position inne zu haben, in der man keine Verantwortung übernehmen muss. An Allem sind immer andere Menschen und äußere Umstände schuld. Wenn ein Mensch etwas wirklich will, findet er immer einen Weg, und wenn ein Mensch etwas nicht will, findet er immer eine Ausrede. Eine andere Plage unserer Zeit ist die „Fertig-Konsum“-Mentalität. Der Mensch distanziert sich von allen Prozessen und muss sich an keinem Prozess mehr beteiligen. Er bezahlt Geld und bekommt ein fertig gestelltes Produkt. Das Glück bekommt man in so einer Verpackung nicht. Schon gar nicht das Alltagsglück, oder das Glück des Alltäglichen. Es gibt jedoch Menschen, die danach suchen und bereit sind, mit dem Glück des Alltäglichen zusammen zu arbeiten, sich mit ihm anzufreunden und schließlich es zum natürlichen und organischen Teil ihres Lebens und ihrer Familie zu machen. Ausgerechnet der Islam, eine Religion, die vielen Menschen im Westen oberflächlich erscheint und viel zu wenig bekannt ist, bietet einen kurzen und sehr praktischen Weg, auf dem wir das Alltagsglück zu unserem treuen Gefährten und Begleiter machen können. Es handelt sich um die fünf Säulen des Islam.
Religiös gesprochen könnten wir den Menschen mit einem Tempel vergleichen. Jeder von uns, der schon über ein wenig Vorstellungskraft verfügt, kann für fünf Minuten seine Augen meditativ schließen und sich selbst als ein sakrales Gebäude vorstellen – ganz unabhängig von Religion und Konfession. Wie jedes andere beliebige Gebäude ruht auch unser Gebäude auf verschiedenen Säulen. Manche Säulen sind tragende Säulen, andere sind Dekorations- und Schmucksäulen. Viel zu oft täuschen wir uns und verwechseln die tragenden Säulen mit den dekorativen, verlagern das Gewicht auf sie und wundern uns darüber, warum das, was wir gebaut haben, immer wieder in Trümmern versinkt. Und dennoch wiederholt der Mensch diesen Fehler wieder und wieder. Bis er erkennt, dass die Schmucksäulen die Last des Alltags nicht aushalten können und brechen. Sie sind für etwas anders bestimmt und gebaut worden. Es gibt jedoch auch die Tragsäulen. Die sind möglicherweise nicht so spektakulär, nicht so schön und nicht so fein wie die anderen, aber sie tragen die Last des Alltags und erlauben den vollen Genuss der zierlichen und zerbrechlichen Schmucksälen. So bleibt das ganze Gebäude standfest stehen – bei Sonnenschein, Regen oder Sturm. Der Islam benennt fünf solche tragende Säulen.
Die erste Säule ist das Bekenntnis. Der Weg zum Glück beginnt mit dem Finden des eigenen Platzes im Universum; mit der Erkenntnis dessen, was man ist, woran man glaubt und was man bekennt, oder besser, was man bezeugt. Es geht nicht um leere Postulate oder philosophische Maxime. Es geht ausschließlich darum, woran der Mensch tatsächlich glaubt, nach welchen Prinzipien er handelt und was er mit seinem Leben in jedem Moment bezeugt und wozu er sich damit bekennt. Es geht um Werte, die nicht einfach austauschbar sind, weil sie tragende Säulen des Lebens ist. Möglicherweise ist so ein Mensch nicht Held genug, um für sein Bekenntnis und für seine Werte zu sterben, aber er ist definitiv Held genug, um für sie zu leben. So beginnt der Weg zum Glück - nicht damit, was man tut, sondern mit dem, was man ist. Unser Bekenntnis ist die Ursache dessen, was wir sind, und unser Sein ist die Ursache für jedes Wortes, jeden Gedanken und unserer Handeln. Das bringt den Menschen ins Reine mit sich selbst, mit anderen Menschen, mit dem Universum und mit Gott. Er erkennt sich selbst, er weiß, woran er glaubt und von welchen Werten und Überzeugungen er geleitet wird, wo er zustimmt und was er ablehnt. Jede Lebenserfahrung wird dementsprechend aus der Retrospektive seines Bekenntnis’ betrachtet und als Baustein an den richtigen Platz gerückt und integriert werden. Diese Säule ist das, was den Menschen in seinem Kern ausmacht, woran er glaubt und was er mit seinem Leben bezeugt. Diese Säule muss immerwährend gepflegt werden.
Die zweite Säule ist das Gebet. Die Muslime beten fünf Mal am Tag. Vor dem Sonnenaufgang, am Mittag, wenn die Sonne hinter ihrem Zenit steht, bei Einbruch der Dunkelheit und in der Nacht. Das Gebet im Islam zeichnet sich durch eine sehr hohe Dynamik aus und besteht ausschließlich aus Lob und Dank. Und im Gegensatz zu den anderen Religionen dauert es durchschnittlich nur 10-15 Minuten. Erst nach diesem einheitlichen Gebet, das jeder gläubige Muslim verrichtet, kann man um Vergebung und Führung bitten und für persönliche Angelegenheiten beten. In der Gemeinschaft bilden die Menschen Reihen, indem sie ganz nah aneinander stehen, wie Glieder einer Kette. Zwischen den Betenden wird keinen Zwischenraum gelassen. Und sie alle wenden sich in Richtung Ka’aba in Makkah (in Saudi Arabien) – als Symbol der Einheit mit allen Betenden und Gläubigen auf der ganzen Welt. Die Zeit läuft immer schneller. Das nimmt inzwischen fast jeder Mensch wahr, unabhängig von seinem Alter und seiner Beschäftigung. Das fühlt sich fast so an, als ob sich die Erde schneller dreht und eine Stunde nicht mehr eine Stunde sondern nur ein paar Minuten dauert. Der Mensch fühlt sich wie in einem Auto, das durch die Gegend rast und Alles wird aus der Perspektive des Rückspiegels betrachtet. Man sieht nur, wie die Dinge hinter uns in unserem Rücken und in der Vergangenheit verschwinden – mit oder ohne einen Spur im Bewusstsein zu hinterlassen. Die zweite Säule bietet uns die Gelegenheit fünf Mal am Tag die Zeit und das Geschehen des Lebens wahrzunehmen, dankbar zu sein, den Segen des Alltags an uns nicht vorbeifließen lassen, sondern ihn uns bewusst zu machen, bewusst zu genießen und für ihn bewusst zu danken. Fünf Mal am Tag ist die Möglichkeit da, die Schönheit des Lebens zu betrachten, auch wenn das Leben nicht nur aus den schönen Dingen besteht. Und die Dinge, die uns als „nicht schön“ erscheinen, als unsere Aufgaben zu betrachten und aktiv an ihren Lösungen zu arbeiten – was manchmal bedeutet, sie einfach in Ruhe zu lassen und abzuwarten. Wenn wir vor einer Problemlösung stehen, wie der Wuppertaler Pfarrer Michael Grütering es einmal erklärte, ist es sehr hilfreich, sich selbst zwei Fragen zu beantworten: „Muss ich das Problem lösen?“ Und „Muss ich das Problem lösen?“ Denn manchmal ist die beste Lösung von allen, die Dinge ihrem natürlichen Lauf zu überlassen. Das Gebet bietet auch die Gelegenheit fünf Mal am Tag in eine bestimmte Richtung zu schauen. Eine symbolische Richtung, eine Richtung, die für den Menschen heilig ist und ihn auch mit anderen Menschen verbindet, statt ihn von anderen zu trennen. Das ist die Gelegenheit, sich als Teil eines Ganzen zu fühlen, sich bewusst zu werden, dass man nicht alleine im Leben steht, sondern dass es auch Brüder und Schwestern gibt, die in dieselbe Richtung schauen. Ka’aba in Makkah ist auch ein Symbol des Ursprungs des Lebens, des Anfangs und der Vollendung. Nach der Überlieferung hat Adam, der erste Mensch, die Ka’aba gebaut und Abraham mit seinem Sohn Ismael hat sie nach ihrer Zerstörung wieder aufgebaut. Richtung Ka’aba zu schauen ist deswegen symbolisch übertragen die Blickrichtung auf den eigenen Ursprung – und auf den Weg danach. Ein Weg, der nicht nur aus Siegen, sondern auch aus Niederlagen besteht und dennoch zum ultimativen Sieg führt. Das ist die Einladung, das, was uns heilig ist, unabhängig davon wie weit es von uns entfernt ist oder entfernt zu sein scheint, nicht aus dem Auge zu verlieren, sondern uns immer wieder dorthin zu wenden, uns damit zu verbinden, immer wieder unsere Gedanken dorthin zu schicken, um aus der reinen Quelle des Heiligtums neue Kräfte und Einsichten zu schöpfen.
Die dritte Säule des Islam ist das Fasten im heiligen Monat Ramadan. In diesem Monat fanden die drei Offenbarungen der drei abrahamitischen Religionen statt: die Thora, das Evangelium und der Koran. Ramadan ist ein Monat, in dem Gott zum Menschen spricht. Diese Zeit verbringt ein gläubiger Muslim im Fasten – von der Morgenröte bis zum Einbruch der Dunkelheit. Im Islam ist Alles höchst dynamisch- auch der Kalender. Da die Monate in der Abhängigkeit vom Mond stehen, ist das muslimische Jahr etwa 11 Tage kürzer als das Sonnenjahr. Und so wandeln die Monate rückwärts von Jahr zu Jahr. Manchmal fällt der Ramadan in den Winter und manchmal in den Hochsommer. Manchmal fastet man 18 Stunden und manchmal nur sieben. Jede Nacht bricht man das Fasten mit einem Festmahl zusammen mit seiner Familie und engen Freunden. Das Fasten lehrt den Menschen zwischen den essenziellen und nicht essenziellen Dingen zu unterscheiden. Dazu gehört auch das Essen. Der Mensch wird dazu aufgefordert, auf diese Dinge für ein paar Stunden zu verzichten, um einerseits für sich zu entdecken, dass man eine Weile ohne sie leben kann und auf der anderen Seite, um sie später noch viel mehr genießen zu können. Es ist aber darüber hinaus eine Übung auf die guten Dinge des Lebens um der besseren Dinge Willens verzichten zu können. Denn viel zu oft lassen wir die besseren Dinge an uns vorbei gehen, weil wir uns so krampfhaft an die guten Dinge halten und Angst haben, sie sogar für eine kurze Weile loszulassen. Dabei vergisst der Mensch, dass was seins und ihm gegeben ist, auch seins bleiben wird, auch wenn er es für einen Moment bei Seite legt. Das Fasten ist wohl auch so wichtig, weil der Mensch dazu tendiert, nicht nur an den guten, sondern auch an den schlechten Dingen fest zu halten. Umso wichtiger ist es, das Loslassen zu üben, auf etwas Gutes für eine kurze Zeit zu verzichten, um etwas viel Besseres zu gewinnen. Es wird immer wieder über die heilenden Aspekte des Fastens berichtet und es gibt ohnehin viele Menschen, die regelmäßig fasten, um sich zu entsäuern oder gesünder zu werden. Das Ziel des Fastens im Ramadan ist jedoch ein anderes – die Sinne zu schärfen und auf einer tieferen Ebene auf sich selbst zuzugreifen, auf eine Ebene, auf der die Stimme Gottes wahrgenommen werden kann. Das ist eine Übung in der Selbsterkenntnis, die nur dann geschieht, wenn der Mensch an seine Grenzen stößt – und sie überschreitet. Und natürlich weckt das Gefühl von Hunger und Durst die Empathie für die Millionen von Menschen, die mit diesem Gefühl täglich leben müssen. Nach einem Monat des bewussten Fastens kann man durchaus zu dem Schluss kommen, eigene Konsumbedürfnisse zur Gunsten der Benachteiligten und Armen ein wenig zu reduzieren und Anderen zu helfen – so und womit man das kann.
Die vierte Säule ist der Hajj oder die Pilgerschaft nach Makkah, an den heiligsten Ort des Islam. Während das Bekenntnis immerwährend praktiziert werden muss, das Gebet fünf Mal am Tag verrichtet und im Jahr 30 Tage gefastet werden soll, fordert die vierte Säule mindestens ein Mal im Leben die Pilgerschaft zu unternehmen – und dieses eine Mal ist genug. Das könnte jeden Menschen - unabhängig von seinem Glauben - herausfordern, mindestens ein Mal im Leben den Gipfel seiner Träume zu erreichen. Nicht unbedingt, um dort zu bleiben, sondern eben als eine Pilgerschaft an den Ort, an dem sein Heiligtum steht, ob geographisch oder metaphorisch gemeint. Das ist eine Zielrichtung, nach der er sein Leben ausrichtet und wonach er strebt, wofür er arbeitet und wovon er träumt. Makkah ist für Muslime wohl die Summa der Geschichte und das Zentrum des Islam, der Anfang und die Vollendung für die Gemeinschaft und für das Individuum. Und jeder Mensch sollte so einen Ort in seinem Herzen tragen und danach streben, ihn zu erreichen. Das unterscheidet sich sehr von den in unserer Zeit so populär und so profan gewordenen Pilgerschaften nach Santiago de Compostela (der Jakobsweg). Diese Art der Pilgerschaft ist weder Auszeit noch ein Urlaub und schon gar nicht eine sportliche Übung. Der Hajj ist eine Reise an den Ort, an dem wir das Beste sind, was wir sein können. An dem wir, sei es auch für ein paar Tagen, unsere eigene Größe und die Größe der Schöpfung wahrnehmen – und vor allem die Größe und die Schönheit des Schöpfers. Ein Ort, der auch für uns den Anfang und die zukünftige Vollendung unseres Seins verkörpert. Der Weg an diesen Ort im Tiefsten des Menschen ist bekanntlich lang und beschwerlich, wie alle spirituellen Traditionen bezeugen. Deswegen reicht es ein Mal diesen Gipfel zu erklettern. Aber dieses ein Mal muss unbedingt statt finden.
Die fünfte Säule ist Zakaat – oder die Almosensteuern. Zu geben gehört zu der natürlichsten Ordnung des Universums, indem alles sich gibt, damit Neues entstehen kann. Das Wasser muss fließen, um frisch zu blieben, der Wind muss wehen, Gefühle müssen gezeigt werden, Worte müssen ausgesprochen werden, und die Materie muss weiter gegeben werden. Halte einen beliebigen Fluss an und er wird sich stauen. Im Universum befindet sich alles im Fluss – deswegen muss alles im Fluss bleiben. Einander zu helfen, gehört zu diesem Fluss und zu dieser Ordnung. Dabei bedeutet Ordnung immer Gleichgewicht. Gibt man zu wenig oder zu viel, verlangt man zu wenig oder zu viel, wird das Gleichgewicht gestört, das Gute verwandelt sich in das Böse und der Mensch kann normalerweise nicht verstehen, was er falsch gemacht hat. Der Schlüssel zum Gleichgewicht ist das richtige Maß. Und der Islam bietet hier einen perfekten Mittelweg. Man soll Almosen geben – und darunter sollen wir nicht nur Geld, sondern Alles, was gegeben wird, verstehen – nachdem der Mensch alle seine „Rechnungen“ bezahlt und Pflichten erfüllt hat. So haben die engste Familie und die Menschen, die uns im Leben am nächsten stehen (unabhängig davon, ob sie mit uns verwandt sind oder nicht) den ersten Anspruch darauf, mit Zeit, Liebe, Gefühlen und Geld versorgt zu werden. Dann kommen die erweiterte Familie und die Freunde. Danach kommen Bekannte. Nach den Bekannten kommen die Nachbarn und danach kommen die Fremden. Es muss eine bestimmte Summe zur Verfügung frei gestellt werden, aus der ein Mal im Jahr die Almosensteuer bezahlt werden kann. Davor ist man ohnehin schon in jedem Moment in Zakaat involviert – man gibt alles, was man geben kann und geben soll. Die Hierarchie der Prioritätensetzung ist schließlich das Fundament, auf dem alle tragenden Säulen stehen und unser Gebäude – unser Leben und unser Glück – aufrecht erhalten.
Der Autor Barak Ismail Rabinowitz wurde 1973 als Sohn jüdischer Eltern in Moskau geboren. Er studierte Judaistik, Religionswissenschaft und Journalismus in Kopenhagen, Budapest, Jerusalem, Philadelphia und Berlin. Seit 2001 lebt er Deutschland und arbeite als freiberuflicher Publizist, Buchautor und Coach.
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