EU setzt Wirtschaft aufs Spiel
ifo Institut: Fehlende Türkei-Strategie der EU gefährdet wirtschaftliche Errungenschaften des Ankara-Abkommens
Das vor fünfzig Jahren beschlossene Ankara-Abkommen mit der später folgenden Zollunion ist ein wesentlicher Grund für die erfolgreichen bilateralen europäisch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen der Vergangenheit. Jedoch stellen die jüngsten Entwicklungen in der europäischen Handelspolitik die Türkei vor vollendete Tatsachen: Das Land muss seinen Markt auch für neue Freihandelspartner der Europäischen Union öffnen, ohne dafür einen gleichwertigen freien Zugang zu den Märkten der Drittstaaten zu erhalten.
Aus Sicht des ifo Instituts ist eine Vertragsanpassung zwischen der EU und der Türkei anzustreben, die eine bessere Drittstaatenregelung im Ankara-Abkommen vorsieht. ”Die Europäische Union muss endlich klären, ob eine Vollmitgliedschaft der Türkei innerhalb der bisherigen Mitgliedstaaten politisch ernsthaft erreicht werden kann oder ob ein anderer Status angestrebt wird“, erklärt Erdal Yalcin, Stellvertretender Leiter des ifo Zentrums für Außenwirtschaft, die politisch unklare Situation sei für alle Beteiligten schädlich. Er ergänzt: “Die EU muss sich in der jetzigen politischen Situation eingestehen, dass nicht alle Länder in gleichem Maße in die EU integriert werden können.“ Dies betreffe nicht nur die Türkei.
Die wirtschaftlichen Erfolge beim Handel zwischen der EU und der Türkei sind nicht zu unterschätzen. Als Mitglied der Zollunion verkauft die Türkei gegenwärtig 39% ihrer Exporte in die EU-Staaten. Zugleich stellt die Türkei den fünftwichtigsten Absatzmarkt für europäische Unternehmen dar. 5% aller EU-Exporte wurden 2012 in die Türkei verschifft. Gleichzeitig importiert die Türkei 38% aller ausländischen Waren aus der EU. 9% der türkischen Exporte gehen nach Deutschland, das damit innerhalb der EU der wichtigste Absatzmarkt für türkische Firmen ist. Zugleich kommen 9% aller türkischen Importe aus Deutschland, womit deutsche Unternehmen ebenfalls zu den aktivsten Unternehmen in der Türkei gehören.
Eine mögliche Alternative sieht Yalcin in der Erweiterung des Ankara-Abkommens um die Gewährung eines Beobachterstatus der Türkei bei Verhandlungen über neue Freihandelsabkommen der EU. Bei möglichen Interessenskonflikten innerhalb neuer Freihandelsabkommen, wie z.B. in der Transatlantischen Freihandels- und Investitionspartnerschaft (TTIP), könnte die Türkei Änderungswünsche nur gegenüber der EU kommunizieren und diese bei den US-EU-Verhandlungen indirekt vertreten wissen. Eine solche Politik kann so weit gehen, dass die EU für die Türkei als Zollunionsmitglied faktisch denselben Zugang zu neuen Drittstaaten mitverhandelt.
Die EU hat in den vergangenen Jahren wiederholt die Konsequenzen von unausgereiften Politikmaßnahmen schmerzlich zu spüren bekommen: die Aufnahme von Ländern in die Währungsunion, ohne eine verbindliche Regulierung der Haushaltspolitik zu forcieren; die Lockerung der Freizügigkeit für EU-Bürger ohne eine Anpassung der Sozialversicherungssysteme in den nördlichen Ländern.
Die EU und insbesondere Deutschland sollten sich endlich in der Türkeifrage klar positionieren; auch wenn am Ende keine politische Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU als Ziel definiert wird, aber dafür die Fortführung und Ausweitung einer prosperierenden Wirtschaftsbeziehung erreicht werden kann.
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