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Sonntag, 18.12.2011 | Drucken |
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Wie den Zerfall der Gesellschaft verhindern?
Über „Deutsche Zustände“, explosive Stimmungen und die Unfähigkeit unserer politischen Klasse darauf angemessen zu reagieren – Von Hany Jung
Während auf das Konto von Nazi-Terrorgruppen zig Anschläge und Morde in Deutschland gehen und jeden Tag neue Schocknachrichten, Skandale und mutmaßliche Verwicklungen mit V-Leuten und Sicherheitsbehörden ans Tageslicht gelangen, hat sich der Bundestag bisher mehrheitlich nicht durchringen können, einen Untersuchungsausschuss bezüglich des Naziterrors einzurichten. Warum eigentlich?
Europa steht vor dem (zumindest wirtschaftlich) Abgrund, der Rassismus frisst sich in unserer Gesellschaft hinein und Deutschland fällt z.Z. nichts Besseres ein, als zum Jahresende ihren Bundespräsidenten medial zur Schlachtbank zu tragen, indem die Kreditaffäre geradezu als Jahresskandalon gefeiert wird. Warum eigentlich?
Passend dazu eine Meldung, die beinah im Naziterror unterging, obgleich sie dazu in einem direkten Zusammenhang steht: Nach einer Langzeitstudie über „Deutschen Zustände“ des Bielefelder Professors Wilhelm Heitmeyer - ein weltweit einmaliges Forschungsprojekt, was leider wegen Zahlungseinstellung der Volkswagen Stiftung vor dem Aus steht (warum eigentlich?) - sind Fremdenfeindlichkeit, Rassismus sowie die Abwertung von Behinderten, Obdachlosen und Langzeitarbeitslosen seit 2009 wieder signifikant angestiegen.
Dabei bleibt die Islamfeindlichkeit auf bedrohlich hohem Niveau, so die Studie. Immer weniger Menschen wollen in Gebieten mit Muslimen leben. „In der religiösen Sphäre ist das friedliche und vom Ideal der Gleichwertigkeit geprägte Zusammenleben der Menschen unterschiedlichen Glaubens immer noch latent gefährdet“, heißt es dazu in der Zusammenfassung.
Nach einer Langzeitstudie über „Deutschen Zustände“ des Bielefelder Professors Wilhelm Heitmeyer sind Islamfeindlichkeit , Rassismus sowie die Abwertung von Behinderten, Obdachlosen und Langzeitarbeitslosen seit 2009 wieder signifikant angestiegen
Bereitschaft zu Gewalt erheblich gestiegen – auch und gerade unter Rechtspopulisten
Große Sorgen bereiten Heitmeyer auch die ansteigende Akzeptanz von und die Bereitschaft zu Gewalt – hierbei das Gewaltpotenzial besonders unter Rechtspopulisten. Demnach sei die Gewaltbereitschaft in diesem Jahr auf das höchste gemessene Niveau gestiegen. 29 Prozent aller Personen mit einer rechten Einstellung stimmten dem Satz zu "sie müssten manchmal Gewalt einsetzen, um nicht den Kürzeren zu ziehen". 2003 war es nur jeder Vierte. Ein direkter Zusammenhang zwischen menschenfeindlichen Einstellungen und tatsächlich verübten Verbrechen wie den Neonazi-Morden lasse sich schwer belegen. Allerdings ließen die Umfragen das Ausmaß erkennen, „in dem Gewalt in der breiten Bevölkerung toleriert oder gar befürwortet wird“.
Heitmeyer machte für menschenverachtende Gesinnungen die Politik mitverantwortlich. Wenn diese nicht gegensteuere, sei sie für Zerfallsprozesse und Diskriminierung mitverantwortlich, sagte der Wissenschaftler in Berlin kürzlich. Alle Studien zeigten, dass eine Gesellschaft umso gewalttätiger werde, je größer die sozialen Ungleichheiten seien. Solche wichtigen Themen werden kaum von den Medien und Politik aufgegriffen. Warum eigentlich?
Erinnerungen an die Schlussphase der Weimarer Republik werden wach
Vielen Bürgern sei das Gefühl von Stabilität abhanden gekommen. "Volatilität" - der Begriff aus der Börsensprache, der die Wahrscheinlichkeit plötzlicher Schwankungen meint - sei inzwischen ein tauglicher Begriff, um die deutsche Alltagsrealität zu beschreiben: Nichts ist mehr gewiss, nichts ist unmöglich. Eine explosive Stimmung, die das friedliche Zusammenleben der Menschen latent gefährdet; viele Ressentiments richteten sich gegen Muslime und Juden. Heitmeyers Schlussfolgerung: Es habe sich "eine explosive Situation als Dauerzustand" etabliert.
Diese Metapher allerdings irritiert, so die Süddeutsche Zeitung in einem Kommentar dazu; man fühlt sich erinnert an die Schlussphase der Weimarer Republik, als der Antisemitismus grassierte, als Straßenschlachten zwischen Nationalsozialisten und Linken alltäglich waren und Politiker nicht für Entspannung sorgen konnten.
Doch weil solche "Explosionen" in der Bundesrepublik des Jahres 2011 offensichtlich ausbleiben, weicht Heitmeyer auf das Bild der Bedrohung aus: Die politische "Explosion" ist noch nicht geschehen, aber sie könnte schon bald erfolgen.
Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD), der das Projekt von Beginn an begleitet hat, sprach von einer „fatalen Aktualität“ angesichts der jüngst bekannt gewordenen Mordserie an Kleinunternehmern mit ausländischen Wurzeln: Die Gesellschaft müsse sich endlich der Tatsache stellen, dass es ein Nazi-Netzwerk gebe und ein Klima, „in dem zunächst die Angehörigen der Opfer verdächtigt wurden.“
Trotz dieser Aktualität wird die Langzeitstudie nicht mehr weitergeführt. Der bisherige Geldgeber, die VolkswagenStiftung, kann nicht mehr, andere Geldgeber sind nicht in Sichtweite – auch der Staat nicht. Warum eigentlich?
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