Artikel Montag, 04.07.2011 |  Drucken

Wo und bei wem liegt der Islam-Irrtum? Rupert Neudeck bespricht das Buch von Michael Thumann

Kardinalfehler des Westens gegenüber der islamischen Welt - Von Scheingefechten und fehlender Fairness und Aufrichtigkeit im Umgang mit den Muslimen

Worin liegt der Irrtum? Wir fast alle radikalen auch kriegerischen Phänomene der jüngsten drei Jahrzehnten werden auf die Religion zurückgeführt. Die Wirklichkeit: die Mehrzahl der vernünftigen Akteure in den betroffenen Ländern beharrt darauf, dass da eher wenig Religion in der Flasche ist. Viele der Bewegungen sind zwar religiös ausgerichtet, haben einen solchen Namen, sind aber eher nationalpolitische Agenturen.
Thumann ist ein gründlicher Reporter, der mit seiner bescheidenden Art besser durch einige Türen kommt, denn andere, die mit ihrer europäischen Arroganz das versuchen.

Selbst in Saudi Arabien gelingt es ihm, zu einer Redakteurin der großen Tageszeitung durchgelassen zu werden. Das Kapitel „Frauen: Mit dem Teufel auf dem Diwan“ beginnt natürlich in Saudi Arabien. In diesem Land sei selbst der einfachste Weg kompliziert: „Wo wollen Sie hin?“ fragt ihn der Pförtner in der Redaktion von Al Watan: „In die Frauensektion?“ Nein, meint er, das hat es noch nie gegeben. Aber der freundliche Reporter beharrt. Da wird der Chef angerufen und der hat es erlaubt. „Hinter der Trennwand der Geschlechteröffnete sich jene fremde nahe Welt, die für Männeraugen nicht bestimmt ist. Für einen Moment fühlte ich mich fast privilegiert, dass ich hier einen Eintritt bekam. In dem weißgetünchten Raum…saßen nun ganz unter sich ein Mann und eine Frau – weder verwandt noch verheiratet. Das kommt in Saudi Arabien einem Ausnahmezustand gleich.“ Er trifft Imam al-Khtani. Er hat sie nicht richtig gesehen, nur die schwarzen Augen, die hellblaue Brille, eine Ahnung von Stirn und die mit der Pinzette gezähmten feinen Brauen.
Es verändert sich in dem versteinerten Land des Nahen Ostens eben doch einiges. Ein Universitätsdozent unterrichtet Studentinnen. In dem Land, das Kinos verboten hat, wird die Vorlesung über den Fernseher in den Hörsaal eingespeist. Besonders raffiniert sei eine Glaswand, durch die die Studentinnen sehen können, die aber für den Dozenten verspiegelt sei. Die junge 22jährige Redakteurin sagt Thumann: „Glauben Sie bloß nicht, dass der Koran das alles vorschreibt. Wir leben hinter hohen Felsmauern der Tradition. Die Bräuche, nicht der Islam, schränken unsere Freiheit ein“.

Das leuchtet dem kundigen Autor sofort ein, der den unverhüllten Kopf einer sunnitischen Libanesin mit dem leichten Tuch der Marokkanerin und dem schwarzen Ganzkörpergewand saudischer Frauen vergleicht. Es gehe hier nicht um fromme oder unfromme Frauen, sondern um Regeln, die einmal liberaler, das andere Mal konservativer sind. „Wer beschränkt in Saudi Arabien die Frauen - die Männer?“ Sagt die Kollegin: „Die von Patriarchen in Stahl gegossene Regeln. Die von Ihnen missbrauchte Religion. Der allen Frauen aufgezwungene Schutz vor Blicken“.
Er spricht mit der cleveren Geschäftsfrau Dschauhara al-Otaischan, die ihm sogar die Hand gibt. Sie schimpft: „Ihr im Westen stellt immer den Islam unter Generalverdacht – damit hat das nichts zu tun“. Der Islam gebe den Frauen alle Rechte. Die 46 jährige sagt: „Westliche Frauen, die partout wie Männer sein wollen, verlieren die Freiheit, eine Frau zu sein. Freiheit heißt auch, die Rechte des eigenen Geschlechts zu genießen ohne schlechtes Gewissen Kinder aufzuziehen, nicht ständig darauf im Wettbewerb zu stehen“. Ob die Freiheit Amerikas für sie Vorbild sei als Geschäftsfrau? Nein, nicht nach Abu Ghraib und Guantanamo.
Die Kollegin sagt ihm am Schluß: der alte Sozialvertrag in Saudi Arabien zerbricht: Wohlfahrt des Staates gegen Wohlverhalten der Bürger. Die Arbeitslosigkeit sei auf 14 bis 20 Prozent hochgegangen. Irgendwann werden sich viele Familien die Chauffeure für die Frauen nicht mehr leisten können. „In einigen Dörfern sitzen die Frauen schon am Steuer“. Saudische Bräuche geraten in Gefahr. Die Kreditkarte für die Gattin als Kompensation für ein Leben hinter Mauern werden sich viele nicht mehr leisten können. Wer kein Geld hat, bekommt keine Frau. Über 50 Prozent der Männer im heiratsfähigen Alter sind ledig, weil sie keine Arbeit haben. Für die Gleichberechtigung sei die Jobfrage von zentraler Bedeutung. 15 Prozent der saudischen Angestellten sind schon Frauen. Wie lernt ein Mann in Saudi-Arabien eine Frau mit gutem Job kennen?
Thumann beobachtet einen Trick auf der König Fahd Strasse in Riad. Vor einer Ampel stehen vier Reihen im Stau, Ein junger Mann läuft auf die Straße und hält einen Zettel an die Seitenscheibe einer Limousine. Auf dem Zettel steht eine Tel. Nummer. Gefällt der Mann der jungen Frau, ruft sie vielleicht an.

Das ist nur eine der wunderbar geschriebenen Reportagen, so ähnlich beschreibt der Autor die ganz eigene Politik-und Lebensrealität in Bahrain, im Iran, in Syrien, in Dubai, in Qatar,, in Abu Dhabi.

Der erste Teil behandelt die „westöstlichen Irrtümer“. Das zweite Kapitel gilt dem grandiosen Wandel in dem Land, in dem der Reporter lebt: Glauben, Geld und Macht in der Türkei.

„Obristen: Warum Bürger auf Soldaten hoffen“ ist das Kapitel überschrieben, das der Islamisierung von oben gilt. Damit einher geht die Bändigung der Religion, wie sie 1923 in der Türkei, wie später in Algerien, Marokko, Irak und Kuwait beschlossen wurde. Die Obristen förderten überall den Nationalismus, manchmal auch den islamischen Extremismus. Der von Mubarak ernannte Scheich der Al-Azhar Universität fordert während des Ramadan 2007, regierungskritische Journalisten auspeitschen zu lassen.
Revolutionäre auf dem Thahrir Platz. Thumann gibt uns die erste Beschreibung einer wirklichen Revolution, die das Recht hat, als Nachfolge der großen Französischen zu gelten.

Ein weiteres Kapitel beschreibt die neu geweckten Hoffnungen der verspäteten Nation, der Kurden. Der Kurden dürfen sich nur in der autonomen Provinz im Norden des Irak als Kurden frei bewegen.

Im nächsten Kapitel besucht Thumann die Höhle des Löwen, die Quartiere und Führer der Hisbollah und der Hamas. Dabei wird der deutsche Reporter sehr unkonventionell. Hisbollah und Hamas sind gewachsen in der radikalen Ablehnung der Israel Politik. Der Soziologieprofessor Atrissi sagt ihm in Beirut, die syrisch-iranische Allianz hätte nie entstehen können, hätten die Palästinenser nach Oslo 1993 ihren Staat bekommen. Israel tue der Hisbollah – die er differenziert beschreibt – den großen Gefallen, „der Partei gegenüber ausschließlich in militärischen Kategorien zu denken“. Israel nenne Hisbollah und Hamas verfälschend Terroristen und tritt die politische Behandlung an Armee und Geheimdienste ab. Und noch deutlicher: „Viele westliche Staaten haben sich Israels Sichtweise angeschlossen“. Sie führen die Nationalislamisten in derselben Gattung wie Selbstmordattentäter und afghanische Höhlenbomber. Offen sei, „wie lange Israel und der Westen diese monumentale Unterschätzung von Hisbollah noch wird sich leisten können“.
Der Palästina Konflikt ist mehr als ein regionales Knäuel, das ist ein Weltkonflikt. Der Nahostkonflikt kann jederzeit in Gewalt umschlagen und zu neuen Zerwürfnissen zwischen dem Westen und der muslimischen Welt führen.

Das zentrale Kapitel: „Kulturkampf - Von Karikaturen und Kopftuchverboten“. Thumann beharrt darauf: Wir haben im Westen viel irrationale Angst im Westen.
Der dritte Teil gilt dem Aufbruch im Osten. Kapitel über die Frauen und die Männer, die Probleme mit ihrer Homosexualität haben und sie verdrängen müssen.
Mit dem MdB Ruprecht Polenz ist der Autor der klaren Ansicht, dass man die Türkei als Mitgliedsland der EU verlieren wird, wenn man so weitermacht. „Der historische Versuch, ein mehrheitlich muslimisches Land in die Europäische Union zu bringen, droht am Ende daran zu scheitern, dass es muslimisch ist“. Er beklagt die opportunistische Politik der Bundeskanzlerin, die einmal Hü und das nächste Mal Hott sagt. In den meisten Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens weiss man, dass Europa ein Problem mit dem Islam habe. „Nur dass man dort im Unterschied zu Europa den Schuldigen nicht allein im Islam sieht“.

Sehr dramatisch das Kapitel über Bahrain und das „Laboratorium der arabischen Demokratie“, das dort schon entstanden war. Die schiitische Islam-Partei Al Wifaq konnte bei den Wahlen 2010 die Zahl ihrer Sitze noch mal erhöhen, von 17 auf 18 bei einer Zahl von insgesamt 40 Abgeordneten. Da der Autor diese Menschen und Gruppen immer selbst erlebt, kann er sich ein Urteil abseits unserer Vorurteilsschablonen erlauben: „Die westliche Annahme, mögliche Wahlsiege von Islamisten seien durchweg das Problem der arabischen Regime, ist falsch“. Das mochte in Ägypten und in Jordanien so sein. In Bahrain, dem „Laboratorium demokratischer Experimente“, zeigte sich die sunnitische Herrscherfamilie von der starken Präsenz islamistischer Parteien im Parlament ganz unirritiert. Die wachsende Sorge galt der schiitischen Mehrheit im Lande.

Er versteht sich mit denen, die für Gelassenheit plädieren. Es verändert sich schon so viel, und die Völker sind nicht so dumm, wie wir aus Ägypten und Tunesien in diesem Jahr erfahren. Ein säkularer Abgeordneter in Bahrain, Abdulabi Salman sagt: „Lasst die Islamisten ruhig Gesetze machen, lasst sie über Kleidungsfragen und Lebensart reden.“ Sie haben von Wirtschaft und Finanzen keine Ahnung. „Das merken die Leute sehr schnell und wählen sie das nächste Mal nicht wieder.“

Thumann behandelt zum Schluß noch systematisch, welche Kardinalfehler sich westliche, also auch deutsche Politik in der arabischen Welt immer wieder leistet: Einmal die Diktatorenfreundschaft, die im Falle von Hosni Mubarak und Ben Ali heftig blamiert wurde. Der zweite Fehler: Der Etikettenschwindel. Die Diktaturen in Ägypten und Saudi Arabien galten als moderat. Doch genauer betrachtet sahen Ägypten und Saudi Arabien nicht viel anders aus denn der Iran oder Syrien. Der dritte schwere Irrtum: Die Isolationsdiplomatie. Ein Problem durch Tabuisierung wegschweigen. Man überließ „Israel Deutung, Blockade und Bekämpfung der palästinensischen Islamisten“. Daraus entwickelt sich keine Politik, sondern – Krieg. Der vierte Fehler waren die Antiterrorkriege, Afghanistan wie der Irak galten als Kriege gegen den militanten Islam. Doch beide Kriege enden als „Krieg gegen einen Teil der Bevölkerung“. Der fünfte Kapitalfehler: Die Dämonisierung der Religion der Muslime.

Sechster Fehler: Die Festungsmentalität: Während wir alle freien Zugang haben zu der arabischen und asiatischen Welt, müssen Muslime Prozeduren bei dem Visaantrag über sich ergehen lassen, die man nur als erniedrigend verstehen kann. Das führt dazu, dass muslimische Geschäftsleute lieber unsere Länder meiden, sie ziehen weiter nach Lateinamerika. Der siebte Kardinalfehler ist die Erweiterungsangst. Europa hat sehr schnell 27 kleine, kleinste, oft widerwillige Länder aufgenommen. Die Türkei Verhandlungen waren ein Scheingefecht. Sie waren mit zahlreichen Ausstiegsklauseln versehen. Was verloren ging, war die Fairness im Umgang mit der Türkei und das türkische Vertrauen in die Aufrichtigkeit der Europäer.“

Ins Schwärmen kommt er, wenn er beschreibt, was für ein Weltimperium der Staat Qatar aufgebaut hat mit al-Dschasira. Das funktioniert nach der Devise: „Reden lassen und zusehen, was dabei wächst“. Die stürmischen Diskussionen auf dem Satellitenkanal haben mit die höchsten Einschaltquoten in der arabischen Welt. Die Zuschauer wissen: „Bei al_Dschasira wissen sie, was die arabischen Staatskanäle ihnen vorenthalten“. Der Sender durchbreche die Wälle der Diktatur. Das Internet könne man verlangsamen, Twitter und Email blockieren, wie kurzfristig in Ägypten und dauerhaft im Iran. „Satellitenfernsehen gibt es so lang, wie Satelliten die Erde umfliegen“. Der Chef des englischen Dienstes von al-Dschasira, Tony Burman, sagt zum Autor: „Andere haben Nuklearwaffen, wir haben unsere Diskussionen“.
Ein wichtiges Buch. Nicht auszudenken, das würden auch mal Politiker in unserer Regierung, in unserem Bundestag und in unseren Parteien lesen??

Michael Thumann: Der Islam-Irrtum. Europas Angst vor der muslimischen Welt.Eichborn Verlag Frankfurt 2011 322 Seiten




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