Artikel Montag, 18.10.2010 |  Drucken

Gegen Geschichtsfälschung, Pauschalverurteilung und Vorurteile - Offenen Brief der Deutschen Muslim-Liga (DMLB) Parl. Staatssekretär Thomas Rachel MdB Evangelischer Arbeitskreis der CDU

Herrn Parl. Staatssekretär Thomas Rachel MdB Evangelischer Arbeitskreis der CDU

Sehr geehrter Herr Rachel, Wir lesen mit Interesse Ihren monatlichen Informationsdienst „Evangelische Verantwortung“, in dem Sie sich regelmäßig auch mit dem Islam beschäftigen. In jüngster Zeit finden wir jedoch immer häufiger Grund zur Verärgerung, denn Sie veröffentlichen zunehmend Beiträge über den Islam, die mit sachlich-kritischer Auseinandersetzung nichts zu tun haben. Lassen Sie uns dies an zwei Beiträgen aus dem Doppelheft 7/8 des laufenden Jahrgangs erläutern: der Resolution Ihres Bundesvorstandes „Verfolgung und Diskriminierung von Christen im 21. Jahrhundert“ (S. 12-13) und des Berichts über die 47. Bundestagung Ihres Arbeitskreises zum gleichen Thema (S. 17-19). Um Missverständnissen vorzubeugen: Auch wir verurteilen Verfolgung und Diskriminierung von Christen -– von wem auch immer sie ausgehen. Gerade die Deutsche Muslim-Liga Bonn e.V. (Mitglied des ZMD, Anm. der Redaktion)gehört zu den islamischen Organisationen in Deutschland mit der längsten praktischen Erfahrung im interreligiösen Dialog und in der Zusammenarbeit zwischen Christen und Muslimen. Aber gerade dieses Engagement berechtigt uns auch, einseitige Darstellungen zu kritisieren und zu korrigieren.

Christenverfolgung ..... „insbesondere in der islamischen Welt“?

Für besonders ärgerlich halten wir die in den Beiträgen mehrfach wiederkehrende Formulierung, es komme „insbesondere in den islamischen Ländern“ zu Verfolgung und Diskriminierung von Christen. In der Resolution wird dies noch ergänzt durch die Worte „in den islamischen Ländern des arabischen, persischen und türkischen Kulturraums“. Aber auch nach dieser Eingrenzung würde die Behauptung noch für 30 bis 40 der insgesamt 57 islamischen Staaten gelten, die Mitglieder der Organization of the Islamic Conference (OIC) sind. Ohne Nennung einzelner Länder, in denen es tatsächlich zu Verfolgung und Diskriminierung von Christen kommt, stellt Ihr Pauschalurteil eine Diffamierung der islamischen Welt insgesamt dar. – Auf Ihre Beurteilung der Situation in der Türkei, im Irak und in Afghanistan – den einzigen der 57 islamischen Länder, auf die Sie näher zu sprechen kommen – gehen wir weiter unten gesondert ein.

Ähnliches gilt für Ihre Feststellung, die Initiativen gegen eine Defamation of Religion im Rahmen der Vereinten Nationen gehe „von Staaten der Organisation islamischer Staaten“ aus. Von welchen Staaten, bitte? Diese Initiativen – die wir im Übrigen auch als Muslime nicht immer teilen – gehen meistens von wenigen der 57 islamischen Staaten aus. Dadurch dass Sie niemals Ross und Reiter nennen, fällt regelmäßig ein böser Verdacht auf alle islamischen Staaten.

Ihre Technik der pauschalen Verurteilung von fast einem Drittel aller Staaten auf der Erde und ihrer Religion, des Islam, wird geradezu ad absurdum geführt, wenn Sie die Zahl der Christen in Vergangenheit und Gegenwart – auch hier wieder „insbesondere in den islamischen Ländern“ – miteinander vergleichen. Sie schreiben, zu den christlichen Minderheiten, „die meist weit in vorislamische Zeit zurückreichen, gehörten einst Millionen“; ihre Zahl nehme jedoch „im Orient (!) durch ständige Bedrängnis und gewaltsame Vertreibung dramatisch ab“. „Nur in Ägypten“ habe sich noch eine christliche Minderheit „in Millionenstärke erhalten“. „In allen (!) anderen Ländern sind aus den Millionen längst Hunderttausende, zum Teil nur noch Tausende“ geworden.

Wer historische Entwicklungen zutreffend beurteilen will, sollte sich an das berühmte Wort des großen (protestantischen) Historikers Leopold von Ranke erinnern, der vom Historiker verlangt hat, er solle nicht „richten und lehren“, sondern nur „zeigen, wie es eigentlich gewesen“. So wie es uns Ihre Resolution suggerieren soll – dass der Islam die Christen vertrieben habe–, ist es jedenfalls nicht gewesen. Es hat auch in der islamischen Geschichte viel Gewalt und Ungerechtigkeit gegeben – Gott sei’s geklagt. Aber die Historiker stimmen darin überein, dass die islamische Welt eine besonders ausgeprägte Toleranz insbesondere gegenüber der jüdischen und der christlichen Minderheit bewiesen hat, und dass der Islam niemals eine Reconquista praktiziert hat, durch die andersgläubige Minderheiten (in diesem Fall Muslime und Juden) zu Hunderttausenden aus Europa vertrieben wurden. Auch ist es nur überaus selten zu islamischen Zwangsbekehrungen gekommen – ganz im Gegensatz zu einer früher verbreiteten christlichen Praxis. So ist es „eigentlich gewesen“.

Der absurde Vergleich zwischen der religiösen Zusammensetzung einer Bevölkerung in Antike und Mittelalter mit ihrem heutigen Zustand kann (und soll wohl auch) nur der Diffamierung der heutigen Bevölkerung und ihrer Religion dienen, indem er ihr unterstellt, sie habe diesen Wandel gewaltsam herbeigeführt. Im Übrigen sind Ihre Zahlenangaben falsch: Auch in Syrien -– dem islamischen Land, das nach dem Ersten Weltkrieg besonders viele vertriebene armenische Christen aufgenommen hat und bis heute beherbergt (!) - leben immer noch 1,5 Millionen Christen, in Pakistan sind es 2,3 Millionen – um nur diese beiden Länder herauszugreifen. Und in vielen anderen Ländern der islamischen Welt hat es überhaupt nie christliche Minderheiten in Millionenstärke gegeben.

Grundsätzlich sollten Sie wissen, dass es in allen islamischen Stammländern des Nahen Ostens auch heute noch christliche Kirchen, häufig mit angeschlossenen Schulen und medizinischen Einrichtungen, gibt. (Einzige Ausnahme: der absolute Sonderfall Saudi- Arabien.) In diesen Ländern können sich die Christen relativ frei bewegen und ihre Religion praktizieren. Der oft – auch in Ihren Beiträgen – vorgebrachte Gegensatz zwischen dem christlichen Europa, in dem Moscheen für die Muslime gebaut werden dürfen, und dem islamischen Orient, in dem die Christen keine Religionsfreiheit genießen, gilt so nicht.

Auch die Abwanderung vieler Christen aus den von Israel seit mehr als 40 Jahren besetzten palästinensischen Gebieten wird unzulässigerweise immer wieder ausschließlich den palästinensischen Muslimen angelastet. Dabei bleibt meist unberücksichtigt, dass es vor allem die israelische Armee ist, die gegen die christlich-palästinensische Minderheit (ebenso wie gegen die Muslime) vorgeht. Darauf hat z.B. der Vatikan zuletzt in seiner Stellungnahme zum Nahost-Konflikt vom 19. Januar 2010 – nicht zum ersten Mal – kritisch aufmerksam gemacht. Auch das religiöse Leben leide stark unter diesem Konflikt. Viele Christen würden aus dieser Region, so der Vatikan wörtlich, „hinausgejagt“. Auch die Nahost-Synode der katholischen Kirche, die zurzeit in Rom tagt, beklagt den „Generalverdacht der Illoyalität“ des israelischen Staates gegenüber der christlichen Minderheit (ebenso wie der muslimischen Mehrheit) der Palästinenser.

Sie übersehen außerdem, dass Verfolgung von Gläubigen oft gar keinen religiösen Hintergrund besitzt, sondern mit Konflikten aus ethnischen, politischen, ökonomischen oder sozialen Gründen zu erklären ist. Nicht nur die Christen, auch die Muslime können ein langes trauriges Lied davon singen. Die Muslime waren und sind oft Täter, viel häufiger jedoch Opfer von Verfolgung und Diskriminierung, und zwar bis auf den heutigen Tag – denken Sie nur an Bosnien oder China oder Indien oder Kaschmir oder Palästina oder Tschetschenien usw. usw. Doch davon ist im europäischen Islam-Diskurs kaum je etwas zu hören. Hier gelten die Muslime vor allem als Täter. Da macht auch die „Evangelische Verantwortung“ keine Ausnahme.

... in der Türkei?

Die heutige Türkei besitzt eine fast ausschließlich islamische Bevölkerung, ist aber eine laizistische Republik. Sie wurde noch dazu lange Zeit nicht von zivilen Machthabern beherrscht, sondern von Militärdiktaturen, die ihr (zuletzt 1982) sogar eine auf sie zugeschnittene Verfassung gegeben haben (die erst 2010 auf Initiative der islamisch orientierten Regierung Erdoğan demokratisiert wurde). Religionsfreiheit besteht weithin nur in der Theorie. Die Regierungen, insbesondere die Militärdiktaturen, haben aber – und das ist das Entscheidende – nicht nur die christliche Minderheit diskriminiert, sondern weithin auch die muslimische Mehrheit (Verbot islamischer Bekleidung von Männern und Frauen, zeitweise Verbot der Pilgerfahrt nach Mekka, Abschaffung der arabischen Schrift, Verbot islamisch-mystischer Vereinigungen, Weisungsbefugnis des Staates gegenüber den Muslimen auch in religiösen Fragen wie Ausbildung der Imame oder Inhalte von Predigttexten usw.).

Klagen über Diskriminierung von Christen sind also berechtigt, können aber nicht dem Islam oder den Muslimen, sondern müssen dem laizistischen Staat und seiner bislang weithin undemokratischen Herrschaft angelastet werden. (Hier liegt auch der Unterschied zum ebenfalls laizistischen, aber demokratischen Frankreich.) Es ist die Regierung Erdoğan, die zum ersten Mal Erleichterungen für die christliche Minderheit durchzusetzen begonnen hat. Auch dass die frühere große christliche Minderheit der Griechen kaum noch existiert, hat nicht in erster Linie religiöse Gründe. Es liegt an den insgesamt vier griechisch-türkischen Kriegen zwischen 1821 und 1913 und der griechischen Besetzung der westlichen Türkei (1919), unterstützt von den Alliierten. Im Frieden von Sèvres (1920) erhielt Griechenland die besetzten Gebiete zugesprochen, stieß aber zunehmend auf eine nationale türkische Gegenoffensive unter Kemal Atatürk, unterstützt von der Sowjetunion. Die westliche Türkei wurde zurückerobert. Im Frieden von Lausanne (1923) erhielt Griechenland die ägäischen Inseln zugesprochen. Es kam zu einem Bevölkerungsaustausch zwischen beiden Ländern: etwa 1,2 Millionen Griechen mussten Kleinasien verlassen, eine ähnlich hohe Anzahl Türken (unter ihnen z.B. die Familie von Kemal Atatürk aus Thessaloniki) verließen Griechenland. Auf einem anderen Blatt steht die Vertreibung und Ermordung unzähliger (christlicher) Armenier. Aber auch dies war nicht in erster Linie eine Christenverfolgung aus religiösen Motiven. Die Armenier wurden von den sog. Jungtürken aus politischen (ethnischnationalistischen) Gründen aus dem Land getrieben. Sie hatten sich im Ersten Weltkrieg auf die Seite des Kriegsgegners Russland gestellt und damit den türkischen Nationalismus herausgefordert. Die Verbrechen an den Armeniern sind nicht zu leugnen, aber sie hatten nicht vorrangig einen islamischen Hintergrund. – Erst unter der Regierung Erdoğan wurde - – wenn auch spät und bisher erst in Ansätzen -– die offene Diskussion über den „Völkermord an den Armeniern“ eingeleitet. So wie Sie es schildern, ist es also nicht „eigentlich gewesen“.

... und in Afghanistan oder im Irak?

Wir hoffen wie Sie, dass im Zuge weiterer Demokratisierungen sowohl in Afghanistan als auch im Irak endlich wirksame gesetzliche Regelungen zur Sicherung der Religionsfreiheit in Kraft treten können. Was den Irak betrifft, so sind Ihre Ausführungen allerdings teils unvollständig, teils falsch. Tatsächlich sind viele Christen aus dem Irak geflohen oder vertrieben worden – in vielen Einzelfällen, wie wir wissen, auch aus religiösen Beweggründen. Die Zahl der muslimischen Flüchtlinge ist allerdings um ein Vielfaches höher, was bei uns kaum je zur Kenntnis genommen wird. Die Ursachen waren in diesen Fällen weniger in der Religion zu suchen als in der Massenflucht der Menschen und ihrer Familien vor der Diktatur, vor Krieg und Kriegsfolgen, Bürgerkrieg, UN-Embargo usw. Diese Fluchtgründe galten auch für die Mehrheit der irakischen Christen. Auch wenn dies keine islamisch motivierte Verfolgung war, wurden diese Menschen, deren Zahl auf etwa zwei bis drei Millionen geschätzt wird, doch durch den Verlust ihrer Heimat entwurzelt.

Wer die Nachbarländer Syrien, Jordanien usw. kennt, der weiß, dass es dort -– schon nach dem Golfkrieg von 1990/91 und nun wieder nach dem Irak-Krieg 2003 ff. -– unzählige irakische Flüchtlinge gab und gibt – ganz überwiegend Muslime, aber natürlich auch Christen (die in diesen islamischen Nachbarländern Aufnahme fanden!). Das westliche Interesse gilt vorrangig den Christen (von denen die Bundesregierung 10 000 Menschen aufzunehmen bereit ist), weniger der viel höheren Zahl an Muslimen. Ihre Angaben („Vertreibung von Hunderttausenden von Christen, Mandäern und anderer religiöser Minderheiten“) dürfte – z.B. nach den Unterlagen des Auswärtigen Amtes – jedoch viel zu hoch gegriffen sein.

Gesamtbewertung

Wir fragen uns seit langem, warum maßgebliche Kreise in der Evangelischen Kirche – auch die „Evangelische Verantwortung“ – die islamische Religion und die Muslime immer wieder in dieser unsachlichen und ungerechten, gewiss nicht der interreligiösen Verständigung dienenden Weise behandeln. Beim Grübeln fällt uns ein interessanter Umstand auf: Maßgebliche evangelische Kreise -– man denke nur an die EKD-Denkschrift „Klarheit und gute Nachbarschaft“ von 2006 -– bemühen sich seit langem um den Nachweis, dass der deutsche Protestantismus die historische Basis für die universalen Menschenrechte darstelle. In erster Linie sei es die evangelische Kirche, der die moderne westliche Gesellschaft Freiheit und Menschenrechte verdanke. Dieser Nachweis ist allerdings nicht leicht zu führen, denn er entspricht nicht ganz der historischen Wahrheit.

Wir wollen deshalb hier sagen, „wie es eigentlich gewesen ist“. Freiheit und Menschenrechte sind vor allem der Aufklärung zu verdanken und mussten zu einem erheblichen Teil gegen die Kirchen durchgesetzt werden - zugegeben: vor allem gegen die katholische Kirche. Die europäische Aufklärung speist sich aus griechisch-römischen, auch aus jüdischen Quellen und vor allem aus eigenen philosophischen und politischen Leistungen der Aufklärer des 18. Jahrhunderts in Europa und Amerika -– und dies gewiss mehr als aus dem deutschen Protestantismus.

Bei diesem historisch-kritischen Dilemma kommt der evangelischen Kirche der Islam gerade recht. Nach landläufiger – nicht fachkundiger, sondern islam-kritischer – Meinung kennt er nämlich weder Freiheit noch Menschenrechte. Dadurch bietet er den Protestanten (oder zumindest ihren maßgeblichen Kreisen) die günstige Gelegenheit, sich selbst durch Abgrenzung vom Islam zu profilieren und dadurch ihre eigene Historie zu glorifizieren.

Mit freundlichen Grüßen Schech Bashir Ahmad Dultz



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