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Montag, 03.05.2010 | Drucken |
Antisemitismus und Islamophobie – Neue Feindbilder, alte Muster. Von Sabine Schiffer und Constantin Wagner
Der Vergleich von Antisemitismus und Islamophobie beziehungsweise anti-muslimischem Rassismus sorgt immer wieder für öffentliche Aufregung. Ein vorläufiger Höhepunkt war die Debatte um die im Dezember 2008 vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung veranstaltete Konferenz „Feindbild Muslim – Feindbild Jude“. Diese Aufregung ist gut verständlich und hat ihre Berechtigung dort, wo entweder begründbare Zweifel bestehen, dass die Grauen des eliminatorischen Antisemitismus – der Holocaust – relativiert werden sollen (also auf der moralischen Ebene) und zum anderen dort, wo es gute Gründe dafür gibt, von einem analytischen Missverständnis auszugehen, wenn beide Phänomene in einem Atemzug genannt werden.
Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn behauptet wird, dass MuslimInnen heute in der gleichen Position seien wie Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus. Aber es ist unangebracht, Jüdinnen und Juden sowie MuslimInnen als Betroffene rassistischer Diskurse gegeneinander auszuspielen, diesem real ja vorhandenen Phänomen die Existenz abzusprechen oder alle rassistischen Ausdrucksformen unterhalb der totalen Barbarei abzuqualifizieren.
Vergleichen bedeutet nicht gleichsetzen, das hat mit anderen Micha Brumlik immer wieder betont. Ganz im Gegenteil: Zu einem Vergleich gehört selbstverständlich immer auch, die Unterschiede herauszuarbeiten. Noch einmal: Natürlich gibt es die Gefahr, dass Antisemitismus und Islamophobie einfach gleichgesetzt werden – was nicht nur ein moralisches, sondern auch analytisches Problem darstellen würde. Gleichzeitig zwingt die Wirklichkeit aber Personen, die sich mit rassistischen Welterklärungen beschäftigen und versuchen, diese zu bekämpfen, auf das Phänomen „Islamophobie“ einzugehen. Und warum sollte nicht dort, wo es Parallelen gibt, aus den Erkenntnissen der Antisemitismusforschung gelernt werden?
Im Folgenden werden einige Parallelen und Unterschiede herausgearbeitet. Dabei erscheint es sinnvoll, immer wieder zwischen analytisch-begrifflicher Ebene und empirischer Ebene zu unterscheiden.
Islamophobie
Es kann keinen Zweifel daran geben, dass empirisch ein Phänomen vorhanden ist, das wir als „Islamophobie“, andere als anti-muslimischen Rassismus und andere wieder als „Islamfeindlichkeit“ zu beschreiben suchen. Es ist kritisiert worden, dass der Begriff „Islamophobie“ auch Gegner islamistischer Bewegungen diffamiert werden. Auch wenn es richtig ist, dass der Begriff instrumentalisiert werden kann, bietet das keinen hinreichenden Grund, ihn nicht weiter zu benutzen. Schließlich wird auch der Begriff „Rassismus“ verschieden definiert und zum Teil höchst problematisch verwendet. Das bedeutet nicht, dass es nicht sinnvoll ist, an ihm festzuhalten und schon gar nicht, das Phänomen dahinter zu negieren.
Wer die häufig als „Islamkritik“ bezeichnete Darstellung von MuslimInnen aus einer anti-rassistischen Perspektive näher betrachtet,
wird ohne Zweifel feststellen, dass der Islam erklärtermaßen als Islam, MuslimInnen als MuslimInnen angegriffen werden. Gleiches gilt für physische Übergriffe. Der Hass gegen Islam und MuslimInnen wird oft dadurch zu legitimieren gesucht, dass argumentiert wird, man habe gar nichts gegen „Ausländer“ im Allgemeinen und sei überdies „proisraelisch“; problematisch erscheinen einzig die MuslimInnen. Das spezifisch islamophobe Ressentiment ist unlängst in einer wachsenden Anzahl antirassistischer
Literatur erforscht worden (siehe z.B. Schiffer 2005; Schiffer/Wagner 2009; Attia 2007, 2009; Schneiders 2009; Benz 2009).
Es ist – auch angesichts der enormen Popularität von Blogs wie Politically Incorrect, in denen nichts anderes als rassistische Hetze speziell gegen MuslimInnen praktiziert wird – nicht abzustreiten, dass es einen Rassismus gibt, der vor allem auf (vermeintliche) MuslimInnen abstellt. Die einschlägig bekannten Blogs sind damit nur die Spitze des Eisbergs, die auf einem sehr weit verbreiteten und mit historischer Tiefendimension ausgestattetem anti-muslimischen Ressentiment aufbauen können (V gl. den Beitrag „Die Darstellung von MuslimInnen in deutschen Medien“ in diesem Dossier).
Auch wenn viele Bilder und Topoi aus dem „Ausländer“-Diskurs und somit aus dem altbekannten Rassismus zu erkennen sind, geht das empirische Phänomen „Islamophobie“ nicht vollständig in der „Rassismus“-Definition auf (falls es überhaupt eine allgemeingültige Definition dieses Begriffs gibt). Das liegt daran, dass Jahrhunderte alte anti-muslimische Anschauungen in den aktuellen Diskurs mit eingehen, diesen ganz entscheidend prägen und er somit um die genannte historische Dimension erweitert wird. Damit erhält anti-muslimischer Rassismus eine Eigenheit, die ihn von anderen Rassismen unterscheidet.
Darüber hinaus gilt es Islamophobie als eine neue Form des Rassismus, als „kultureller Rassismus“, zu bezeichnen. Es wird keine imaginierte „Rasse“, sondern eine als Religionsgemeinschaft konzipierte Gruppe in den Blick genommen. Kulturalistische Zuschreibungen sind besser geeignet, Stimmung zu machen, als der Rekurs auf „rassische“ Merkmale, was auch Auswirkungen auf die Intensität und Art des „nötigen Widerstands“ hat (1).
Antisemitismus
Auch wenn antisemitische Einstellungen im postnationalsozialistischen Deutschland stärker tabuisiert sind als andere Formen von Rassismus, heißt das keineswegs, es gäbe keinen Antisemitismus mehr. Zum einen gibt es die Phänomene, die in der Antisemitismusforschung als „sekundärer Antisemitismus“ und „struktureller Antisemitismus“ beschrieben worden sind.
Als sekundären Antisemitismus versteht man, dass das Ressentiment gegenüber Jüdinnen und Juden außer von fortwirkenden traditionellen
Vorurteilen auch von einem neuen Vorurteilsmotiv genährt wird: Der Vorstellung, Jüdinnen und Juden würden verhindern, dass ein „Schlussstrich“ unter die deutsche Vergangenheit gesetzt würde. Damit äußern sich in „aktualisierter“ Form traditionelle Vorwürfe wie Geldgier oder Machtstreben. Jüdinnen und
Juden werden – diesmal über die Vergangenheitsbewältigung – wieder als „Störenfriede“ der nationalen Identität ausgemacht.
Als strukturell antisemitisch bezeichnet man Vorstellungen, die sich nicht explizit gegen Jüdinnen und Juden richten, aber antisemitischen Weltbildern in Bezug auf Begrifflichkeit und Argumentationsstruktur ähneln. Dazu gehört vor allem die Unterscheidung und Personifizierung von „raffendem“ Finanzkapital gegenüber „schaffendem“ Produktivkapital. Diese Personalisierung und Verkürzung einer marxistischen Gesellschaftskritik stellt eine strukturell antisemitische Argumentation dar, die auch die Ablehnung von Jüdinnen und Juden befördern kann.
Zum anderen gibt es nach wie vor auch explizit antisemitische Äußerungen und Übergriffe. Im Jahre 2008 wurden in Deutschland 1089 antisemitische Straftaten registriert. Zwischen 2000 und 2008 wurden rund 470 Fälle von Schändungen jüdischer Friedhöfe gezählt. Etwa 10 Prozent der Deutschen stimmen antisemitischen Aussagen zu, wie beispielsweise dass der Einfluss der Juden zu groß sei, Juden mehr als andere Menschen mit üblen Tricks arbeiteten und Juden etwas Eigentümliches an sich hätten und nicht so recht zu „uns“ passen würden.
Unterschiedliche Explizitheit der Diffamierung
Auch wenn nicht durchgängig, so ist doch der Tendenz nach festzustellen, dass die Diffamierung von Jüdinnen und Juden seltener explizit und offen geäußert wird. Es existiert ein bundesdeutsches Tabu, ein geschlossenes antisemitisches Weltbild offen zu äußern und Juden als Juden zu attackieren, auch wenn dieses Tabu immer wieder überschritten wird: Der Antisemitismus nach der Shoa ist in Deutschland vor allem ein indirekter Antisemitismus, Formen des sekundären und strukturellen Antisemitismus überwiegen hier. MuslimInnen hingegen werden gegenwärtig so offen diffamiert, wie es wahrscheinlich mit keiner anderen markierten Gruppe öffentlich durchzusetzen wäre.
Hier hilft kein Verweis darauf, dass die Angst vor MuslimInnen – anders als die Angst vor Jüdinnen und Juden – berechtigt sei, indem auf den islamistischen Fundamentalismus hingewiesen wird. Dieses Rekurrieren auf angebliche Fakten ist bereits eine rassistische Argumentation, da hier eine grundlegende rassistische Verallgemeinerung vorgenommen wird: Die Tat von Einzelnen wird über das Merkmal „Religionszugehörigkeit“ erklärt und in einem weiteren Schritt dem Kollektiv der Muslime zugerechnet. Die Bewertung dieses Kollektivs funktioniert über die Zusammenstellung von (negativen) Fakten. Das gleiche Muster ist aus anderen rassistischen Diskursen bekannt – auch und insbesondere aus dem antisemitischen. Am Beispiel des antisemitischen Diskurses kann par excellence nachvollzogen werden, wie über Jahrhunderte hinweg ein scheinbar kohärentes rassistisches System entsteht, das sich immer wieder zu bestätigen scheint.
Parallele Diskursmuster: Verwandte Bilder
Kollektivkonstruktionen, Entmenschlichungen, Missdeutungen religiöser Imperative (Beweisführung durch „Quellenrecherche“) und Verschwörungstheorien sind die Muster, die wir im antisemitischen wie im islamophoben Diskurs finden. Die bisweilen erschreckend deutlichen Parallelen sind bei Analyse von Argumentationsfiguren oder auch Bildern unverkennbar: Zum Teil werden exakt die gleichen Metaphern und Vorstellungen bemüht, mit denen Stimmung gegen Jüdinnen und Juden gemacht wurde und gemacht wird. Dies setzt sich über viele begriffliche Parallelen wie die der „Islamisierung“ und „Judaisierung“/„Verjudung“ fort.
Gerade in Zeiten der Krise lässt sich über die Bestimmung von Subjekten und Gruppen als „Fremde“, die angeblich eine interne und/oder externe Bedrohung darstellen, Identität konstruieren. Während ein klassisches antisemitisches Diskursmotiv bereits im 19. Jahrhundert war, dass sich „die Juden“ mit „ihrem Volk“ – und nicht mit dem Land, deren Staatsbürger sie waren – identifizierten, findet man ein ähnliches Motiv bei den Reden von „muslimischen Parallelgesellschaften“. Dies geht so weit, dass die eindeutig antisemitische Metapher vom „Staat im Staat“ reaktiviert wird – diesmal in Bezug auf MuslimInnen. Die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft wird so zu einer totalen Zugehörigkeit, so als ob das „Muslim(a)-Sein“ von MuslimInnen über sämtliche ihrer Handlungen und Einstellungen entscheiden würde.
Unterschiedliche Funktionen rassistischer Weltbilder
Trotz der Gemeinsamkeiten bei Argumentation und Argumentationsfiguren ergibt sich auf begrifflich-analytischer Ebene ein Unterschied bezüglich der inneren Logik der Phänomene „Antisemitismus“ und „Islamophobie“.
Sowohl Jüdinnen und Juden als auch MuslimInnen werden in historischer Tradition als Gefahr für das „christliche Abendland“ wahrgenommen – allerdings auf unterschiedliche Art und Weise: Die „Türken vor Wien“ (auf diese im kollektiven Gedächtnis erinnerte Situation wurde und wird gerne sowohl in Bezug auf die Einwanderung von MuslimInnen als auch in Bezug auf die sogenannte „Islamisierung“ verwiesen) oder die Mauren in Spanien waren immer die „Fremden“ im Sinne eines „Äußeren“. Man konnte und musste sich ihnen entgegenstellen und sie vertreiben. Damit stellen sie die für den Rassismus klassische Form des Fremden dar: der äußere, sichtbare Feind. Jüdinnen und Juden hingegen wurden vor allem als „innerer“ Feind imaginiert; der moderne Antisemitismus sah sich einem „unsichtbaren“, weil assimilierten Feind gegenüber. Damit gingen Vorstellungen von inneren ZersetzerInnen einher, die nicht vertrieben, sondern vernichtet werden müssen. So richteten sich etwa die Kreuzzüge gegen einen tatsächlichen und/oder imaginierten äußeren Feind, während der Antijudaismus und der Antisemitismus sich nach innen richteten: Insofern steht der Antisemitismus in einer anderen historischen Kontinuität als die Islamophobie.
Weiter ist zu nennen, dass man sich MuslimInnen gegenüber tendenziell überlegen fühlt, während im Antisemitismus tendenziell von der eigenen Unterlegenheit ausgegangen wird. So galten Jüdinnen und Juden auch immer als die VertreterInnen der Moderne, sei es in der Form des Liberalismus, des Kapitalismus oder des Kommunismus, während MuslimInnen als Verkörperung von „Rückständigkeit“ verstanden werden. Auch hier zeigt sich, dass sowohl MuslimInnen als auch Jüdinnen und Juden als Gegenbild zum eigenen Ideal verstanden werden – allerdings auf unterschiedliche Art und Weise.
Ferner gibt es Unterschiede in Bezug auf den Welterklärungsanspruch. Nicht einen Teil der Realität (wie andere rassistische Diskurse), sondern die ganze Welt beansprucht der antisemitische Diskurs zu erklären. So kann „der Jude“ als Drahtzieher hinter beinahe jedem Übel ausgemacht werden: Kapitalismus und Kommunismus, Washington und Moskau, Gottlosigkeit und frommster Glauben. Der Antisemitismus ist ein totaler, universeller Erklärungsversuch.
Es ist wichtig, diese Unterschiede zu verstehen, wenn man das jeweilige Phänomen analysieren und bekämpfen will. Die Trennung zwischen den Ressentiments gegen die Unterlegenen einerseits und die als omnipotent Imaginierten andererseits, zwischen dem inneren und dem äußeren Feind, ist aber auf die analytisch-begriffliche Ebene bezogen: In der (rassistischen) Realität findet sich diese Eindeutigkeit nicht immer so wieder.
Verschiebungen
Auch wenn diese analytische Unterscheidung der Tendenz nach immer noch gültig ist, ergeben sich in jüngster Zeit auf empirischer Ebene Verschiebungen, die es immer nötiger machen, die Erkenntnisse der Antisemitismusforschung auch zur Analyse von Islamophobie nutzbar zu machen.
Neben dem äußeren Feind, den MuslimInnen gemäß der rassistischen Wahrnehmung schon lange darstellen, werden sie diskursiv immer mehr auch zum „inneren“ Feind gemacht, deren deutlichste Verkörperung – auch heute noch – in der Figur des „Juden“ zu finden ist. Dies geschieht beispielsweise über die Behandlung von Islamismus als Phänomen der inneren Sicherheit. MuslimInnen sind in wachsender Zahl Staatsbürger der Bundesrepublik und damit keine „Ausländer“, keine „äußeren Feinde“ mehr. Auch der „Verstellungsvorwurf“ trifft immer mehr MuslimInnen – und gerade solche, die sich aktiv in der Zivilgesellschaft oder im Berufsleben einbringen wollen. Ihnen wird eine Loyalität zur „eigenen Gruppe“, die sich über die Religionszugehörigkeit ergibt, unterstellt. Damit wird das klassische Schema durchbrochen und MuslimInnen avancieren in der wahnhaften Vorstellung zum „inneren Feind“.
Auch die Vorstellung von einer Überlegenheit und Privilegierung der „Anderen“ wird immer häufiger auf MuslimInnen angewandt. Die Debatten über „Sonderrechte“ – sei es in Bezug auf das Recht, am Arbeitsplatz ein Kopftuch zu tragen, sei es in Bezug auf die Teilnahme am Schulunterricht – reißen nicht ab. Es gibt die sowohl in populären Debatten als auch einer Reihe von Publikationen geäußerte Vorstellung, mit potenter finanzieller Unterstützung aus dem „Nahen Osten“ würde Deutschland „islamisiert“ und Grundstücke gekauft, Moscheen gebaut und Medien beeinflusst werden.
Islamophobe Verschwörungstheorien haben, etwa in den einschlägigen Internet-Blogs, Hochkonjunktur. Diese Verschwörungstheorien haben durchaus den Anspruch, verschiedene politische Entwicklungen und nicht nur einzelne Phänomene der Wirklichkeit zu erklären. Während ein geschlossen antisemitisches Weltbild mit Welterklärungsanspruch auftritt, ergibt sich hier die Tendenz, immer mehr Fakten der sozialen Welt mit dem Verweis auf die Religionszugehörigkeit von MuslimInnen zu erklären. So erscheinen alle möglichen Probleme – von Jugendgewalt bis zur Homophobie – unter Rückgriff auf „den Islam“ erklärbar.
Aus diesen Übernahmen und Verschiebungen muss sich die Forderung ergeben, anzuerkennen, dass prinzipiell auch andere markierte Gruppen in die historisch vor allem den Juden zugeschriebene Rolle fallen können: als gedachtes Element der Negation, das gesunde Kollektive zerstört. Hierfür bedarf es zunächst einer Gruppe, die als solche „markiert“ wird. Heute beobachten wir eine zunehmend intensivere Wahrnehmung von tatsächlichen oder scheinbaren MuslimInnen „als MuslimInnen“. Sowohl politisch rechts zu verortende Konzepte wie der Ethnopluralismus als auch der eher links zu verortende Multikulturalismus samt Anhängsel wie der interkulturellen Pädagogik reproduzieren hierbei häufig diese Fremdgruppenzuschreibung und das Othering einer (religiös) markierten Gruppe. Bereits diese Markierungspraxis muss als rassistische Denkweise verstanden werden, die die weiteren Schritte der Zuweisung negativer Eigenschaften und der Diffamierung und Diskriminierung nach sich zieht. Gewalt beginnt bereits mit dem Stereotyp, nicht erst mit der physischen Aktion.
Fazit
Antisemitismus und Islamophobie unterscheiden sich im postnationalsozialistischen Deutschland unter anderem durch ihre Explizitheit. Sie haben „traditionell“ andere – man könnte vielleicht sagen: komplementäre – Funktionen. Insofern ist es wichtig, die Unterschiede des Funktionierens von Antisemitismus und Islamophobie auf analytischer Ebene herauszuarbeiten, auch um Verschiebungen und Übernahmen festzustellen. Beide Phänomene sind empirisch vorhanden und haben eine Funktion in der rassistischen – der falschen – Erklärung der Welt.
Es ist offenkundig schwachsinnig, zu behaupten, heute liege in Bezug auf MuslimInnen die gleiche Situation vor wie für Jüdinnen und Juden „früher“. Es kann bei einem Vergleich von Antisemitismus und Islamophobie nicht um eine Relativierung des Holocausts gehen, sondern darum, rassistische Mechanismen zu erkennen, bevor es auch nur ansatzweise zu einer vergleichbaren Situation kommt. Dass der Holocaust, obwohl historisch singulär, prinzipiell wiederholbar ist, stellt keine neue These in der Antisemitismus- und Shoa-Forschung dar. Dass prinzipiell von einer Wiederholbarkeit der totalen Katastrophe ausgegangen werden muss, ist getrennt davon zu behandeln, dass die Shoa ein historisch singuläres Phänomen ist und historisch konkret Opfer und Täter benannt werden können. Aber: Erinnern allein reicht nicht, auch weil wir aus heutiger Perspektive wissen, dass die Vernichtung der Juden im Dritten Reich ohne einen Jahrzehnte langen und Jahrhunderte alten vorbereitenden antisemitischen Diskurs nicht geschehen hätte können. Ausgehend von dem Imperativ der Geschichte, rassistische Diskurse zu dekonstruieren, bevor es zu spät ist, muss ein rassistischer Diskurs, der gesellschaftlich äußerst dominant zu werden droht, als solcher entlarvt werden. Dies auch, indem – bisweilen erschreckende – Parallelen zum antisemitischen Diskurses aufgezeigt und analysiert werden. Während es nach wie vor antisemitische Erklärungsmuster und Ressentiments gibt, erhalten islamfeindliche Stimmen immer größeren Einfluss in der Öffentlichkeit.
Der Verdienst der Antisemitismusforschung, Judentum und Antisemitismus getrennt voneinander zu verhandeln, muss auch auf andere Rassismen wie die Islamophobie übertragen werden. Voraussetzung hierfür ist es, zu verstehen, dass die Vorstellungen und Bilder über eine „Fremdgruppe“ mehr über die sie produzierende Gruppe und ihre Verfasstheit als über die als Outgroup markierte Gruppe aussagen.
April 2010
Endnote
(1) Die Zuschreibung der Zugehörigkeit zu einer als ‚Rasse‘ imaginierten Gruppe kann man – selbst theoretisch – nicht loswerden: die rassistisch-biologistische Problemkonzeption erfordert in äußerster Konsequenz eine biologistische Lösung: die physische Vernichtung. Die Zuschreibung der Zugehörigkeit aufgrund kulturalistischer Konzepte lässt zumindest theoretisch die Chance zu, ‚auszusteigen‘. Anders als in der antisemitischen Projektion konstruieren Islamfeinde ‚die Muslime‘ nicht als vermeintliche ‚Blutsgemeinschaft‘ oder ‚Rasse‘ und macht diese Rassenzughörigkeit für die negativen Eigenschaften verantwortlich – dies aber ist ein wesentliches Element des eliminatorischen Antisemitismus. Anders als in der antisemitischen Ideologie besteht für Muslime also zumindest theoretisch die Möglichkeit, sich von bestimmten Phänomenen zu ‚distanzieren‘. Allerdings wird dies zunehmend in Frage gestellt. Wenn auch Kriege nach außen und diskriminierende Praxen nach innen über islamophobe Diskursmuster gerechtfertigt werden, die antisemitischen Metaphern bisweilen erschreckend ähneln, ist die vollständige physische Vernichtung der Muslime nicht das Ziel der Islamfeinde; zumal ‚der Islam‘ hauptsächlich als äußerer Feind wahrgenommen wird (s.u.).
Mit freundlicher Genehmigung der Autoren; Erstveröffentlichung in boell-migration.de, siehe unterer Link
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