Newsnational Freitag, 26.02.2010 |  Drucken

Ein ganz “normaler” mörderischer Alltag in Afghanistan am Geburtstag des Propheten

Augenzeugenbericht von M.Belal El-Mogaddedi in Kabul, als heute morgen (26.02.10) neben seiner Wohnung die Explosion einer Autobombe ihn um 6.30 Uhr aus dem Schlaf riss – Eklat im Bundestag wegen Plakate der Opfer von Kunduz

Ein mörderischer Freitagmorgen in Kabul (26.02.2010).Heute morgen bin ich gegen 06 Uhr 30 durch eine gewaltige Explosion, deren Druckwelle die Fensterscheiben meines Schlafzimmers in Tausend Stuecke zerbrechen liess, aus dem Schlaf gerissen worden. Wie sich kurze Zeit spaeter bestaetigt, handelt es sich bei der Explosion nicht ,wie zunaechst von mir vermutet, um eine Boden-Boden Rakete, sondern um eine Autobombe, die 200 Meter von meinem Aufenthaltsort im Kabuler Stadtteil Schar-i-Nau gezuendet worden ist. Anschlagsziel ist das beliebte Kabuler Einkaufszentrum “Safi Landmark” gewesen, in dem sich neben zahlreichen Boutiquen und Restaurants, im obersten Stockwerk ein, auch von Auslaendern gern aufgesuchtes Hotel befindet, das dem Besucher eine wundervolle Aussicht auf die Hauptstadt Afghanistans bietet.

Die gruene Glasfassade des Gebaeudes ist massiv beschaedigt, und die vielen kleinen Laeden im naeheren Umkreis sind in starke Mitleidenschaft gezogen worden.
Nach ersten Informationen sind heute morgen zwei Fahrzeuge in die Kreuzung vor dem “Safi Landmark” eingefahren. Die Insassen der Fahrzeuge tragen Polizeiuniformen und geben vor, auf Patrouille zu sein. Aus diesem Grund lassen die an jeder grossen Kabuler Kreuzung positionierten Beamte, sie bis vor den Haupteingang des Gebaeudes vorfahren. Dort steigen mehrere Personen aus und erschiessen die vor dem Gebauedeeingang stehenden, vollkommen ueberraschten, privaten Wachmaenner. Waehrend die Polizei an der Kreuzung das Feuer auf die Angreifer eroeffnet, wird das zweite Fahrzeug vor einem weiteren Eingang des Gebauedes zur Explosion gebracht. Die wuchtige Explosion lenkt die Aufmerksamkeit der Sicherheitskraefte fuer wenige Momente von den Angreifern ab, so dass die Bewaffneten in das Gebaeudeinnere eindringen koenenn, und ihr moerderisches Treiben fortsetzen. Nach ersten Angaben hat es mindestens zehn Tote gegeben, aber es ist anzunehmen, dass dieser Angriff mehr Menschen das Leben gekostet hat. Der ersten Explosion folgen mehrere kleine Explosionen und heftige Feuergefechte mit schweren und leichten Feuerwaffen in den Seitenstrassen, Auseinandersetzungen,die sich zum Teil direkt vor meiner Haustuer abspielen.

Gegen 08 Uhr 30 ereignet sich noch einmal eine schwere Explosion, ob es sich dabei um eine weitere Autobombe handelt, ist immer noch nicht bekannt. Seit 10 Uhr 00 herrscht Ruhe, die Schuesse sind verstummt, wie auch die Sirenen der Rettungswagen; jetzt, nach ueber zwei Stunden koennen keine Menschen mehr gerettet werden, die Zeit der Leichenwagen is gekommen. Kabul ist still, totenstill.
Der Stadtbezirk ist abgeriegelt, fuer den privaten Verkehr blockiert, die afghanischen und internationalen Fernsehsender zeigen die ersten Bilder vom Anschlagsort. Menschen stehen auf den Strassen vor dem Anschlagsort, ihre Verzweiflung steht ihnen ins Gesicht geschrieben, einige weinen. An Gewalt, Mord und Tod kann sich niemand gewohenen, WILL sich niemand gewoehnen.
Ich hoere wie in den umliegenden Genaeuden die Glassplitter zusammengekehrt werden, und wie sie klirrend in Metalleimer fallen; die ersten Aufraeumarbeiten haben begonnen. Die Sachschaeden koennen behoben warden, aber heute werden aus vielen afghanischen Haushalten Klagegesaenge ertoenen, traenenerstickte Stimmen zu hoeren sein, Kinder um ihre Vaeter, Frauen um ihre Ehemaenner, Eltern um ihre Soehne trauern, und Angehoerige in den kaerglich ausgestatteten Krankenhaeusern am Krankenbett um das Leben ihrer Lieben bangen.

Heute ist der Geburtstag des Propheten des Islam, Mohammad. In einigen Laendern der Muslimischen Welt wird dieser Tag, der keinem religioesen Ritus entspricht, aber sich als eine Tradition in die Lokalkultur eingebuergert hat, mit Rezitationen aus dem Quran und besondern Armenspeisungen gefeiert. Gestern hat die private afghanische Fernsehstation “Ariana” den bekannten Film “The Message”gezeigt, in dem in wunderbarer Weise der Beginn und die befreiende Entfaltung des Islam nachgezeichnet wird, ein filmisches Kunstwerk, ein Plaedoyer fuer den Islam, produziert in den 1970iger Jahren von Moustapha Akkad, der vor wenigen Jahren selbst bei einem Terroranschlag in Jordanien gestorben ist. Dieser Film bewegt mich immer wieder, auch wenn ich ihn schon unzaehlige Male gesehen habe, zeigt er doch die vom Propheten gelebte beispielhafte Praxis des Islam auf, gepraegt von Barmherzigkeit, Vergebung, Edelmut, Tugendhaftigkeit, Aufrichtigkeit und vor allem Gerechtigkeit. Die Nachrichtensender lassen verlauten, dass der Sprecher der Taliban Zabiullah Mujahid die Verantwortung fuer den morgendlichen moerderischen Anschlag uebernommen hat. Wie weit koennen sich einige Menschen von der grossartigen Botschaft des Islam entfernen und dennoch behaupten fuer seine Botschaft einzutreten?

Durch mein glasloses Fenster ueberhoere ich ein kurzes Gespraech zwischen zwei Sicherheitsbeamten, die gemeinsam die Scherben der Fensterscheiben ihres kleinen Zimmers, unweit von meiner Wohnung gelegen, aufsammeln:” Gott sei es gedankt, dass wir zum Morgengebet wach geworden sind und nicht im Zimmer waren, als die Scheiben zerbarsten, sonst waeren wir wohl nicht heil davon gekommen. Alhamdulillah!” Die Menschen halten unbeirrbar an ihrer Religion fest; sie wissen, dass Terrorismus von den Lehren des Islam nicht abgeleitet werden kann. Ihre Religion hat nichts mit der Ueberzeugung einiger weniger Verblendeter zu tun; dies gibt Hoffnung auf ein bessere Zukunft, wie auch der Ruf des Muezzin in der Moschee nebenan, der die Glaeubigen Muslime gerade zur Teilnahme am Freitagsgebet aufruft. Viele werden auch heute dem Ruf folgen, trotz der nassen Kaelte, trotz der aufgweichten Zufahrtswege, trotz eines moerdersichen Fanatismus, der heute morgen wieder einmal seine haessliche Fratze gezeigt hat. Die Menschen dieser Stadt, dieses seit 30 Jahren von Invasion, Krieg und Besatzung geschundenen Landes geben ihre Hoffung auf eine bessere Zukunft nicht auf.

...Ich gehe in den Garten meines Hauses und entdecke in einem Blumenbeet ein fast kuenstlerisch anmutendes Stueck Metall. Bei naeherer Betrachtung stelle ich fest, dass es sich um ein Stueck des Autos handelt, das heute Morgen unweit von meiner Wohnung explodiert ist. Ausdruck der Kunst des sinnlosen Toeten!

Vor zwei Tagen sind 29 Zivilisten, darunter Frauen und Kinder bei einem Angriff durch Natoflugzeuge in der Provinz Uruzgan ermordet worden, von diesem Anschlagsort habe ich keine Bilder gesehen. Dort hat die hochmoderne Technik feige gewuetet. Sinnlos ist auch diese Kriegskunst gewesen, wie so vieles in diesem schmutzigen und unehrlichen Krieg am Hindukusch.


PS der islam.de-Redaktion

Gott sei Dank ist Bruder Belal nichts passiert – Szenenwechsel, 9.00 Uhr Deutscher Bundestag: Die Partei der LINKE wird aus dem Saal verwiesen, weil sie Transparente öffnete, wo die Namen der Opfer des Luftangriffs bei Kunduz standen.

Für die Bundeswehr ist es weiter ein Kampf gegen Terroristen und „Aufständische“, so die offizielle Begründung. 11.00 Uhr: Der Bundestag beschließt mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und der Mehrheit von SPD die Verlängerung des Kriegseinsatzes und die Aufstockung Bundeswehrkontingents. GRÜNE enthalten sich, die LINKE waren nicht da. Der mörderische Alltag in Afghanistan geht weiter.



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