Artikel Freitag, 30.12.2016 |  Drucken

Terrorismus hat keine Religion

Die Erfahrung der Gewalt und die Arbeit am Frieden - Vortrag von Prof. Dr. Johannes Lähnemann

„Terrorismus hat keine Religion!“ Wie kommt es zu diesem Motto? Erschüttert nehmen wir wahr, wie der Terrorismus sich der Religion bedient – in einem Maße, das uns schaudern lässt: Abgeschlagene Köpfe, Versklavung von Frauen, Vertreibung von Andersgläubigen und Andersdenkenden – im Irak und in Syrien in einer Region, die für ihr Zusammenleben in der Pluralität von Religionen und Kulturen seit Beginn unserer Zivilisation als beispielhaft gelten konnte – eine Barbarei, die wir uns nach den Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts eigentlich nicht mehr vorstellen konnten!

Woher nehme ich das Motto „Terrorismus hat keine Religion“?

Es war im Sommer 2011. Wir näherten uns dem 11. September, dem 10. Jahrestag der verheerenden Anschläge auf das World Trade Centre in New York und das Pentagon in Washington. Wir überlegten: Können wir mit unserer Nürnberger Gruppe der Religionen für den Frieden an diesem Tag ein besonderes Zeichen setzen in unserer Stadt, von der einmal die Rassegesetze der Nationalsozialisten ausgegangen sind und die sich jetzt als Stadt der Menschenrechte profiliert?

Da wurden wir auf muslimische Jugendliche aufmerksam gemacht, die T-Shirts trugen mit der Aufschrift: „Terrorism has no Religion!“. Befragt nach ihren Motiven, sagten die Jugendlichen: „Wir wollen ein Zeichen setzen gegen Terroristen, die meinen, sie könnten die Religion für sich okkupieren!“ Das war das Stichwort für uns: „Terrorismus hat keine Religion!“ Und wir überlegten weiter: Wird eine Moschee bereit sein, Gastgeberin zu sein für eine Gebetsstunde der Religionen? Wird auch ein Vertreter oder eine Vertreterin der Israelitischen Kultusgemeinde dazu in die Moschee kommen? Wie steht es um die verschiedenen christlichen Konfessionen,  um Beteiligung von Buddhisten, Hindus und Baha’i? Und: Finden wir Gebete, Lieder, Texte aus den heiligen Schriften, die unterstreichen können: Terrorismus hat keine Religion?

Es folgten viele Telefonate, Beratungen, eine intensive Quellensuche. Es war ein streckenweise fast abenteuerlicher Weg, aber letztlich doch ein sehr bewegendes und eindrückliches Ereignis:

Eingeladen hatte die große Nürnberger DITIB-Moschee. Alle angesprochenen Glaubensgemeinschaften waren vertreten.

Eine Christin und eine Muslima lasen aus der Borporus-Erklärung der Konferenz der Religionen für Frieden und Toleranz vor:

„Ein Verbrechen im Namen der Religion ist ein Verbrechen gegen die Religion. Wir lehnen ab, die Grundsätze unseres Glaubens mit falschen Interpretationen und ungehindertem Nationalismus zu korrumpieren. Wir stellen uns gegen jene, die die Heiligkeit des Menschenlebens schänden. …

Wir wollen alle Gläubigen daran erinnern, dass die Heiligen Schriften aller drei monotheistischen Religionen den Frieden als einen höchsten Wert Erwähnen: ‚Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Gotteskinder heißen.‘ ‚Allah ruft alle zum Haus des Friedens. Seine Wege sind die Wege des Friedens.‘“

Damit sind die beiden Hauptaspekte dieses Vortrags angesprochen: die Erfahrung der Gewalt einerseits, mit religiösen Motiven gerechtfertigt, die Arbeit am Frieden andererseits, die nie ein leichtes, aber nichtsdestotrotz dringendes, lebensnotwendiges Geschäft ist.

Ich möchte die Aspekte in vier Schritten entfalten, die gleichzeitig wiederum Mottos sind:

1. Die Konflikte und ihre Geschichte differenziert betrachten

2. Die Deutungshoheit nicht den Fanatikern überlassen

3. Die geduldige Friedensarbeit stützen!

4. Uns selbst einbringen!

Die Konflikte und ihre Geschichte differenziert betrachten

Die religiösen Motivationen für Gewalt erweisen sich immer wieder als besonders tiefgreifend. Die Verletzungen, die hier zugefügt werden, graben sich tief in das kollektive Bewusstsein von Gemeinschaften ein! Die rasante Ausweitung des islamischen Herrschaftsgebiets im 7. nachchristlichen Jahrhundert ist für das Abendland ebenso ein Trauma geworden wie das Vordringen der Türken bis nach Wien. In der islamisch dominierten  Welt sind es umgekehrt die Kreuzzüge und in der Neuzeit der Kolonialismus. In ägyptischen Schulbüchern wird eine direkte Linie von den Kreuzzügen zum Kolonialismus und zur gegenwärtigen wirtschaftlichen Dominanz des Westens gezogen. Die Geschichte der wechselseitigen Befruchtungen, die viele Jahrhunderte mitbestimmt haben – wie z.B. im islamischen mittelalterlichen Spanien – kommen dabei viel weniger in den Blick. Verschärft werden die unheilvollen Pauschalbilder, wenn sie mit ethnischen Traditionen – das Indien der Hindus, das Sri Lanka der Buddhisten, das Serbien der orthodoxen Kirche – zusammengehen.

Hier zeigt sich bereits, dass die Konfliktverschärfung aus religiöser Motivation heraus nie allein zu sehen ist. Es sind vielerlei Ursachen, die eine Rolle spielen: geschichtlich gewachsene Aversionen gehören ebenso dazu wie Minderheits- wie Mehrheitstraumata, wirtschaftliche Ungerechtigkeit und Verarmung, die Machtansprüche von Despoten, aber auch Unkenntnis und Vorurteile, die leicht politisiert werden können.

Wenn diese Ursachen zusammenkommen, kann sich leicht ein hochexplosives Gemisch ergeben, bei dem nur ein Funke genügt, um es zur Explosion zu bringen.

In westlicher Perspektive ist es in letzter Zeit immer wieder die Unberechenbarkeit des Terrorismus, bei dem leider häufig islamistische Motivationen missbraucht werden, so dass das Pauschalbild einer prinzipiell aggressiven Religion entstehen kann.
 
Aus islamischer Perspektive ist es ein „Westen“, dem nichts mehr heilig ist, in dem nicht nur dekadente Familienstrukturen vorherrschen, sondern in dem die tiefsten religiösen Empfindungen in den Schmutz getreten werden können.

Besonders unheilvoll sind dabei endzeitliche, apokalyptische Prophetien: So leugnete der ehemalige iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad den Holocaust, rief zur Vernichtung Israels auf und beschwor einen militanten muslimischen Messias. Einflussreiche amerikanische Christen bejubelten den Schlaganfall Ariel Scharons als Strafe für den Rückzug Israels aus den Gaza-Streifen und werten den Sieg der extremistischen Hamas in Palästina als notwendiges Zeichen der Endzeit.

Diese gefährlichen Irrationalitäten verlangen nach einer gezielten Bearbeitung der Rolle der Religionen in der Konfliktverschärfung, aber auch in der Konfliktprävention und der Konfliktbewältigung, wobei die anderen Faktoren, die zur Gewaltanwendung führen, nicht außer Acht gelassen werden sollen.

Als wesentliches Teil-Element im Umgang mit den gegenwärtigen Gewalterfahrungen erweist sich erneut die Relevanz der von Hans Küng aufgestellten Maximen:

„Kein Friede unter den Nationen ohne Friede unter den Religionen.

Kein Friede unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen.

Kein Dialog unter den Religionen ohne Grundlagenarbeit in den Religionen.“

Hans Küng hat damit nicht gemeint, dass sich aus dem Dialog der Religionen automatisch der Religionsfrieden ergeben würde und aus dem Religionsfrieden automatisch der Frieden zwischen den Nationen. Aber ohne Selbstbesinnung und Grundlagenarbeit in den Religionen kann es schwerlich zu dem nötigen Verständnis für die Anderen kommen, und ohne Begegnung und Dialog zwischen den Religionen wird es immer wieder zu Pauschalbildern, zu negativen Vorstellungen von den Anderen kommen, die politisch missbraucht werden können.

Als eine wichtige Aufgabe sehe ich deshalb den nächsten Schritt an:

Die Deutungshoheit nicht den Fanatikern überlassen

Ein besonderes Problem stellen die Gewaltaussagen in Bibel und Koran dar, auf die sich Extremisten in Judentum, Christentum und Islam immer wieder beziehen:

Da sind die Eroberungsgeschichten im Buch Josua, wo Gott die Tötung alles Lebenden in den eroberten Städten befiehlt. Extreme Siedlergruppen in Israel leiten daraus den Anspruch auf Landgebiete ab, wie sie etwa zur Herrschaftszeit Davids zu Israel und Juda  - also vom Mittelmeer bis weit über den Jordan hinaus – gehörten. Fundamentalisten im Christentum nehmen die Schlachten zwischen Gott und dem Satan, zwischen Gut und Böse in der Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch der Bibel, wörtlich, um gegen die sündenverfallene Welt zu Felde zu ziehen. Dschihadisten im Islam beziehen die Aufforderungen im Koran zum Kampf gegen die Ungläubigen auf alle, die nicht dem ihrer Ansicht nach reinen, ursprünglichen Islam folgen – und das sind dann nicht nur Götzenanbeter/Polytheisten, sondern auch Juden und Christen, Jesiden und Baha’i, und schließlich auch alle, die einer anderen islamischen Richtung folgen, und alle, die für religiöse Toleranz und Vielfalt eintreten.

Man kann die Gewaltdarstellungen in Bibel und Koran nicht eliminieren. Beide heiligen Bücher spiegeln die Lebensverhältnisse, wie sie sind. Sie beschönigen sie nicht. Und dazu gehören Auseinandersetzungen, Kämpfe, dazu gehören Leid und Schuld.
Und doch sind die heilvollen, humanen Visionen und Bilder, die Modelle für ein verantwortungsvolles Leben und Handeln das Dominierende.

Aber was bedeutet das für den Umgang mit den Gewaltdarstellungen in Bibel und Koran, die nicht zu eliminieren sind?

Im Christentum hat sich seit der Aufklärung zunehmend ein geschichtlich-wissenschaftlicher Umgang mit der Bibel etabliert, der oft als historischkritisch bezeichnet wird – und mit dem evangelikale und fundamentalistische Kreis immer noch große Schwierigkeiten haben. Im Blick auf den Islam wird immer wieder betont, dass der Koran Wort für Wort als Gottesoffenbarung verstanden wird, die Mohammed durch den Engel Gabriel übermittelt wurde. Und doch gibt es auch hier eine lange Tradition, die die Umstände in Rechnung stellt, unter denen die jeweilige Offenbarung ergangen ist – und es wird dann überlegt, ob die Offenbarung unter ganz anderen Umständen noch so wörtlich verstanden werden darf, wie sie da steht.

Bei den vielen Stellungnahmen zum IS-Terror von muslimischer Seite, die es inzwischen gibt, spielt das eine große Rolle.

Ich nenne einmal Grundprinzipien, die bei einer verantwortlichen Auslegung von Bibel und Koran bei jedem Text zu beachten sind:

1)  Die Beachtung der Situation, in der der jeweilige Text entstanden ist bzw. in die er hinein spricht,

2) Der Kontext, in dem der jeweilige Text steht. Mit dem Herausreißen einzelner Verse oder Aussagen aus dem Zusammenhang, in dem sie stehen, kann jede noch so problematische Meinung begründet werden.

3) Die Beachtung der literarischen Gattung der einzelnen Texte: Eine Sage, eine Fabel, ein Gleichnis muss anders verstanden werden als ein Geschichtsbericht oder ein Prophetenwort.

4) Der Bezug zum Gesamtcharakter der jeweiligen Heiligen Schrift.

So sind die brutalen Texte über die Eroberung Palästinas durch die Hebräer wohl erst ein halbes Jahrtausend später im babylonischen Exil entstanden, als sich das am Boden liegende und geschlagene Volk Israel mit diesen Sagen von ihrem früheren militärischen Erfolg innerlich aufrichtete.

Im Neuen Testament ist die Offenbarung des Johannes mit ihren Schreckensdarstel-lungen über das Los derer, die vom Glauben abtrünnig geworden sind, wohl entstanden zur Zeit der ersten größeren Christenverfolgungen unter dem Kaiser Domitian am Ende des ersten Jahrhunderts, als die christlichen Gemeinden im Westen Kleinasiens gestärkt und getröstet werden mussten angesichts der Todesbedrohung, wenn sie dem Kaiser keine Opfer brachten.

Besonders hart sind die Aussagen im Koran, Sure 2. Vers 190-195: „Und bekämpft auf dem Weg Gottes die, die euch bekämpfen. Handelt aber nicht widerrechtlich! Siehe, Gott liebt die nicht, die widerrechtlich handeln.“ Und dann die Aussage, die Muslimen immer wieder vorgehalten wird: „Tötet sie, wo ihr sie trefft und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben.“ Aber auch hier ist eine ganz spezifische Situation vorausgesetzt: Die Muslime waren wegen der Unterdrückung in Mekka nach Medina ausgewandert und hatten immer wieder Kämpfe mit den Leuten aus Mekka zu bestehen. Schließlich erreichten sie einen Vertrag, der ihnen erlauben sollte, zur Kaaba nach Mekka zu pilgern. Sie mussten aber einen Vertragsbruch und Angriffe aus Mekka befürchten. Hier erhalten die Muslime, die bis dahin die Feindseligkeiten aus Mekka geduldig ausgehalten haben, erstmals die Erlaubnis, sich aktiv gegen die Mekkaner zur Wehr zu setzen.

Dass solche Aussagen, wenn sie aus dem Kontext gerissen werden und wenn die spezifische Situation, auf die sie sich beziehen, nicht beachtet wird, leicht zur Legitimierung von Gewalt herangezogen werden, dürfte deutlich sein.
Das ist der Punkt, an dem die Deutungshoheit nicht den Fanatikern überlassen werden darf. Die Gewaltaussagen müssen nicht nur im Blick auf die spezifische Situation, in der und in die sie sprechen, relativiert werden, sondern wie müssen auch in den Kontext der gesamten Heiligen Schrift gestellt werden.

Den Gewalterzählungen im Buch Josua stehen die 10 Gebote gegenüber und mit ihnen die Forderung, die Fremden im eigenen Land wie Einheimische leben zu lassen. Den endzeitlichen Visionen in der Offenbarung des Johannes steht Jesu Gebot der Nächsten- und Feindesliebe gegenüber, die auch dem religiösen und politischen Gegner gelten soll. Und im Koran heißt es in Sure 5, Vers 32 – unter Bezugnahme auf eine jüdische Überlieferung: „Wenn jemand einen Menschen tötet, der keinen anderen getötet, auch sonst kein Unheil auf Erden gestiftet hat, so ist’s, als töte er die Menschen allesamt. Wenn aber jemand einem Menschen das Leben bewahrt, so ist’s, als würde er das Leben aller Menschen bewahren.“ (Übersetzung: Hartmut Bobzin)

Blicken wir auf die Zentralbotschaften der Religionen, so können wir feststellen, dass jede der großen Religionen von ihren Ursprüngen her eine spezifische Friedensbotschaft in sich trägt.

Aus der israelitischen Tradition ist der Begriff des Schalom von besonderer Relevanz, weil er viel mehr umschließt als eine bloße Kennzeichnung der Abwesenheit von Krieg, sondern das Heilsein einer Gemeinschaft unter dem Heilswillen Gottes in umfassendem Sinne zum Ausdruck bringt. Die prophetische Vision der Umwandlung der Schwerter in Pflugscharen hat sich gerade in der Friedensbewegung seit den70er/80er Jahren des 20. Jahrhunderts als besonders kräftig erwiesen.

Der Weg Jesu Christi kann in ganz spezifischer Weise als exemplarischer Friedensweg betrachtet werden.

Zu seiner Botschaft Jesu gehört nicht nur die Seligpreisung der Friedensstifter, sondern zentral auch das Gebot der Feindesliebe, das aus der erfahrenen Güte Gottes resultiert und dessen Zuspitzung bei Jesus darin liegt, dass es auch dem nationalen und religiösen Gegner gilt. Jesus realisiert dieses Gebot an der Seite derer, die als von der Gottesliebe ausgeschlossen galten, und noch in seinem Gebet für seine Feinde, das er am Kreuz spricht. Für die Jünger wird dieser Weg zu Ostern als Gottes eigener Weg bestätigt und stellt sie in den Auftrag, als Friedensbringer Salz der Erde und Licht der Welt zu sein.

Im Islam wird immer wieder betont, wie die Grundbedeutung der Religionsbezeichnung „Islam“ – die wörtlich „Hingabe an den Willen Gottes“ heißt – eine enge Beziehung zum Begriff des Friedens hat. Gegen jeden kriegerischen Eifer, den bestimmte muslimische Gruppen aus der Pflicht zum „Dschihad“ – wörtlich: der „Anstrengung auf dem Weg Gottes“ – abgeleitet haben und auch gegenwärtig ableiten, wird hervorgehoben, dass die eigentliche Anstrengung auf dem Weg Gottes der Kampf gegen den eigenen Egoismus sein müsse, der sich jedem Frieden in den Weg stellt.  

Ich brauche nicht noch einmal aufzuzählen, wie viele Gegenbeispiele zu den hier dargestellten Friedensbotschaften es in der Geschichte der Religionen gibt. Die Berufung auf Gott oder einen religiösen Auftrag hat den Kriegen und Konflikten oft erst ihre unbarmherzige Härte und Grausamkeit verliehen: Wenn ein Krieg Gottes Plan entspricht und der Feind als von Gott verdammt betrachtet werden kann, braucht er nicht länger als menschliches Geschöpf angesehen zu werden. In jeder der großen Religionen gibt es militante Gruppen, die aus einem Heilsmonopol heraus Andersdenkende und Andersgläubige verdammen – Fundamentalisten und Konfessionalisten im Christentum, Rigoristen im Islam, im Judentum, im politischen Hinduismus, aber auch unter Buddhisten.

Freilich haben sich die Gegenkräfte, die auf eine innere Erneuerung der Religionen von ihren Friedensmotivationen her drängen, wohl noch nie der in der Geschichte der Religionen so vielfältig und phantasiereich entwickelt wie im 20. Jahrhundert. Und hier gibt es längst ein die Religionen übergreifendes Denken und Lernen. Ein Beispiel dafür ist, dass Martin Luther King in den USA die Grundsätze für seine Bürgerrechtsbewegung, die ja auch zu einer Friedensbewegung wurde, dem Evangelium entnahm – besonders der Bergpredigt - , dass er aber die Methoden für zivilen Ungehorsam und gewaltlosen Widerstand von Mahatma Gandhi lernte,  der Zeit seine Lebens bewusst Hindu geblieben war – trotz seiner Hochachtung für Jesus und den Inhalt der Evangelien. Wir können die Kette fortsetzen mit Nelson Mandela, dem Dalai Lama, Prinz Hassan von Jordanien und vielen weiteren.

Wie aber kann die Verheißung des Friedens konkret werden im und durch den Dialog?

Damit komme ich zu meinem nächsten Punkt:

Die geduldige Friedensarbeit stützen und uns selbst einbringen

Von den guten Entwicklungen zu reden und die Wege, die in die Zukunft weisen, aktiv bekannt zu machen, sie einer breiten Öffentlichkeit als Ermutigung zu unterbreiten, ist leider immer noch viel seltener, als die Probleme, die Gefahren, die Befürchtungen hervorzuheben, so wenig diese natürlich verschwiegen werden dürfen.

Oder wussten Sie, dass bei der Überwindung der Apartheid in Südafrika Christen, Muslime und Hindus zusammengearbeitet haben; dass in Sierra Leone der Bürgerkrieg nur deshalb ein Ende finden konnte, weil der dortige interreligiöse Rat zwischen Regierung und Rebellen vermittelt hat; dass Mozambique nur durch die jahrelange geduldige Friedensarbeit der katholischen Bewegung St. Egidio zur Demokratie geführt werden konnte; dass die buddhistische Sarvodaya-Bewegung in Sri Lanka mit einer interreligiös offenen Bildungs- und Entwicklungsarbeit in über 15.000 Dörfern präsent ist? …

Was die Kirchen in Deutschland als Vorreiter der Versöhnungsarbeit nach dem 2. Weltkrieg geleistet haben – mit der Stuttgarter Schulderklärung und der Ostdenkschrift –, ist bei noch kaum im Bewusstsein, ihre hervorragende Rolle bei der Wende in der DDR hat sich nur geringfügig in dauerhafter Anerkennung niedergeschlagen.

Das spannende Buch von Markus Weingardt: Religion Macht Frieden (Stuttgart 2007) – voll von weiteren positiven Beispielen hätte ich gern auf den Bestsellerlisten gesehen. Im Unterschied zu Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ hat es das leider nicht geschafft.  

Was den Dialog der Religionen angeht, kann kaum hoch genug eingeschätzt werden, welche kopernikanische Wende das II. Vatikanische Konzil im Blick auf das Verhältnis der Katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen eingeleitet hat, ebenso das Dialogprogramm des Ökumenischen Rates der Kirchen und Verlautbarungen des muslimischen Weltkongresses.

Ein weiteres wichtiges Beispiel aus den letzten Jahren ist der Brief von 138 führenden muslimischen Persönlichkeiten an führende christliche Persönlichkeiten aus dem Jahr 2007.  Die drei Grundaussagen dieses Briefes, die wirklich einen Markstein darstellen, sind:

1) Christen und Muslime bilden zusammen mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung. Die nötige Arbeit für den Weltfrieden kann nicht ohne eine Verständigung zwischen diesen beiden Religionen gelingen.

2) Juden, Christen und Muslime haben ein großes gemeinsames Erbe im Doppelgebot der Liebe zu Gott und zum Nächsten. In diesem Abschnitt des Briefes wird original aus der Thora und den Evangelien zitiert.

3) Das Gebot der Nächstenliebe ist unlösbar verknüpft mit der Suche nach Gerechtigkeit und mit Religionsfreiheit.


Dass gerade Letzteres an vielen Stellen der Welt erst noch eingefordert und konkret umgesetzt werden muss, erleben wir leider wieder vielfältig.

Immerhin hat es in der Folge dieses Briefes viele christlich-islamische Gespräche auch auf der oberen Ebene mit dem Vatikan und dem Ökukmenischen Rat der Kirchen gegeben.

Aber wie verhalten sich die Religionsgemeinschaften im Blick auf den IS-Terror im Irak und in Syrien und das millionenfache Flüchtlingselend – oder auch angesichts der verhärteten Fronten in Israel und Palästina?

Ich möchte nur auf 3 Stellungnahmen bzw. Appelle verweisen, die in diesen Monaten aus den Religionsgemeinschaften im Blick auf den Terror verfasst wurden. Das erste ist der Amman-Appell, der unter der Federführung von Prinz Hassan bin Talal von Jordanien von führenden Juden, Christen und Muslimen weltweit verbreitet wurde;  ich habe ihn ins Deutsche übersetzt und an die interreligiösen Gremien in Deutschland weitergegeben.

Eine sehr bewegende Erklärung haben die Münchner Imame unter der Überschrift

„Nicht im Namen Allahs und nicht in unserem Namen“ heausgebracht. Darin heißt es ua.:

„Weil wir Muslime sind, sind wir entsetzt über die Verbrechen, die im Namen unserer Religion im Irak und in Syrien begangen werden, verurteilen entschieden alle abscheulichen Taten, wie die Vertreibung von andersdenkenden und andersglaubenden Menschen, barbarische Hinrichtungen von Journalisten, Geiseln oder Gefangenen und betrachten all das dezidiert als ebenso unislamisch wie unmenschlich!

Wir sind zutiefst traurig über die Zerschlagung der uralten Tradition des Miteinanders im Nahen Osten, wo Menschen unterschiedlichen Glaubens und vielfältiger Kulturen seit Hunderten von Jahren zusammenleben.

Wir solidarisieren uns mit Christen, Juden, Jesiden, Schiiten oder Sunniten – wer auch immer wo auch immer unter Gewalt, Terror und Vertreibung leidet. …

Wir leiden unter den aktuellen Nachrichten ja nicht weniger als andere, sondern mehr, weil es unsere Religion ist, die dabei so unbeschreiblich pervertiert wird. Müssen die Imame lauter schreien? Ja, müssen sie! Denn es sind die Irren, die Ungebildeten und Fehlgeleiteten, die Gewalttäter allerorten, die das Bild unserer Religion nach außen bestimmen. Und es ist unsere Aufgabe – wessen sonst! – dagegen aufzutreten. Wir können nur an alle appellieren, nicht uns hier an den Wahnsinnstaten anderer, wo auch immer auf der Welt, zu messen. Nicht uns, und nicht DEN Islam. So wie wir nicht das Christentum und nicht das Judentum an dem messen wollen und werden, was Einzelne oder extremistische Strömungen an Leid verursachen.“

Am Ende der Erklärung rufen die Imame alle Muslime auf:

- ausdrücklich jene Christen, Juden, Jesiden, Muslime, ob Schiiten oder Sunniten, in ihr Gebet mit einzuschließen, die verfolgt und vertrieben werden.

- sich offensiv vom sog. ‚Islamischen Staat‘ zu distanzieren und sich unter keinen Umständen direkt oder indirekt mit Terroristen zu identifizieren oder zu solidarisieren, deren Tun zu verteidigen oder zu verharmlosen. Für uns ist der „IS“ weder islamisch noch ein Staat, und wir lehnen seinen selbsternannten ‚Kalifen‘ kategorisch ab. Das Verbot der Organisation ‚IS‘ durch die Bundesregierung begrüßen wir nachdrücklich.

- Wir appellieren an unsere Jugendlichen, wachsam zu sein. Eure Zukunft ist hier in Deutschland. Euer Platz ist die Schule, Ausbildungsstelle, Universität, der Arbeitsmarkt und die Familie. Allah hat zu Beginn seiner Botschaft uns gelehrt, in unseren Hände Schreibstifte zu tragen ( عَ ى لمَ ي لِْقَ يَ لم – Koran: 96/4) und nicht Waffen! Geht auf keinen Fall in die Kriegsgebiete, um euer Leben für falsche Zwecke zu opfern!“

Besonders scharf und deutlich ist ein offener Brief von mehr als 120 Islam-Gelehrten weltweit an den selbsternannten Kalifen des IS Ibrāhīm ʿAwwād al-Badrī, der auf 51 Seiten mit dem IS und seiner Ideologie abrechnet und die Ablehnung detailliert aus dem Koran und der Prophetenüberlieferung begründet, wobei weitgehend die Auslegungsprinzipien angewandt werden, die ich vorhin genannt habe.


Natürlich ist zu fragen: Was bewirken solche Erklärungen? Sind sie nicht ein hilfloser Versuch angesichts der militärischen Macht und der Anziehungskraft besonders für anfällige Jugendliche, die der IS ausübt? Und kann es eine Lösung sein, den Teufel militärisch mit Beelzebub auszutreiben?

Ich denke, wir erleben hier eine bedrückende Situation, in der es keine einfachen und keine schnellen Lösungen gibt.

Und doch haben die Erklärungen eine wichtige Funktion: Sie stärken das Miteinander und Füreinander in unserer Gesellschaft gegenüber der Infiltration durch menschenverachtende Ideologien. Sie zeigen, dass die große Breite der Muslime aktiver Teil unserer lebendigen, pluralen Demokratie sein wollen.

Das Gegenwirken muss hier ähnlich vielfältig und phantasiereich sein wie das Gegenwirken von bürgerrechtlichen Gruppen gegen den Rechtsextremismus.
Aber was können wir selbst tun?



Ich beginne mit einer Binsenweisheit, die aber uns alle betrifft:
Keiner von uns kann allein den Frieden schaffen. Aber jeder und jede von uns kann an ihm mitarbeiten.

Ich drücke das mit einer Reihe von Imperativen aus:

1) Lasst uns unsere lebendige, plurale Demokratie stützen!

Wie wenig selbstverständlich es ist, dass wir in einer Demokratie leben, die den Menschenrechten verpflichtet ist, wissen wir aus unserer eigenen Geschichte. Wenn wir auf die vielen Länder blicken, in denen Unrechtsregime herrschen, sehen wir, welchen Reichtum es bedeutet, dass sich bei uns nicht nur die Parteien, sondern auch die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen – Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften, Berufsverbände, Minderheitsvertretungen, diakonisch-karitative Verbände – aktiv in das gesellschaftliche Leben einbringen können. Joachim Gauck nach dem Erleben der ersten freien Wahlen in Gesamtdeutschland gesagt: Das wüsste er bestimmt, dass er keine Wahl mehr auslassen würde!

2) Lasst uns unseren Glauben, unsere Überzeugung menschlich leben!

Wer in einem verantwortungsvollen Glauben zu Hause ist, weiß, dass er eine lebens-aufbauende Kraft hat, die hilft, in guten wie in schweren Zeiten gestärkt und getröstet zu leben, geprägt von Hoffnungen und der Ermutigung zum Engagement weit über den Zeitrahmen einer Wahlperiode hinaus.

3) Lasst uns helfen mit den Kräften, die wir haben!

Es ist ein großes Potential unseres Landes, dass wir viele Organisationen, Gruppen und Einzelne haben, die sich für das Wohl derer, die in besonderer Not sind, einsetzen. Wir wissen, dass es notwendig ist, dass Sie über die Mittel, die ihnen anvertraut sind, genau Rechenschaft ablegen. Oft erreichen uns von vielen Seiten her bitten, bei denen wir nicht allen folgen können. Aber wenn wir uns wenigstens an einer Stelle gut informieren und unsere Kräfte einsetzen, ist das ein Zeichen, das Hoffnung setzt. Mich hat der Zeitungsbericht über die durch die Goslarer Khaled und Manal Kado, die einer jesidischen Familie angehören, über ihre Lieferung von  Hilfsgütern in den Nordirak beeindruckt. Das millionenfache Flüchtlingselend dort kann uns nicht unberührt lassen.

Ich selbst bin seit vielen Jahren engagiert für die Schneller-Schulen in Amman/Jordanien und in Khirbet Kanafar in Jordanien, in denen Kinder aus armen Familien, christliche wie muslimische, gemeinsam erzogen werden und auch die Chance zu einer Berufsausbildung haben. In Khirbet Kanafar, ganz nahe der syrischen Grenze, ist eine Gruppe von Flüchtlingskindern aufgenommen worden. Gleichzeitig wurde ein Ausbildungsprogramm im Schneiderinnen- und Erzieherinnenberuf für einige Mütter aus den Flüchtlingslagern gestartet, die ohne ihre Männer fliehen mussten und oft jung und unausgebildet geheiratet hatten. Gleichzeitig ist innerhalb Syriens im sogenannten „Tal der Christen“ um den Ort Kafroun herum, das bisher weitgehend von Kriegshandlungen verschont geblieben ist und in das 300.000 Binnenflüchtlinge gekommen sind, eine Vorschule eingerichtet worden.

Das mag wie ein Tropfen auf einen heißen Stein anmuten, ist aber für die Betroffenen ein wichtiges Hoffnungszeichen.

4) Lasst uns wachsam sein gegenüber Intoleranz, Pauschalbildern und einseitigen Schuldzuweisungen

Wir dürfen das Feld so wenig den Salafisten überlassen wie den Hooligans, die sich mit Rechtsradikalen verbünden.

Bei Jugendlichen, die den Dschihadisten zuneigen, ist zu beobachten, dass sie aus allen Gesellschafts- und Bildungsschichten kommen – ebenso, wie das im rechtsextremen Feld der Fall ist. Beobachtet werden kann, dass meist eine Erfahrung von Ungerechtigkeit, Zurückweisung und Identitätsunsicherheit Ursachen sind, dass sie sich abkapseln und – oft via Internet – von den klaren ideologischen Strategien der Extremisten ansprechen lassen. Positive, kommunikative Erfahrung und Begleitung sind hier ein ganz notwendiger Präventionsbeitrag. Das Land Hessen hat eine Beratungsstelle gegen Islamismus eingerichtet. Verwandte oder Bekannte der Gefährdeten melden sich meist bei der Beratungsstelle, woraufhin muslimische Berater gemäßigter Ausrichtung versuchen, die Jugendlichen zu verunsichern und ihnen eine andere Sichtweise zu vermitteln. Diese Neo-Salafisten haben in der Regel keinerlei islamische Vorkenntnisse und wurden mit der radikalen politischen Ideologie des IS verführt.

In Nürnberg hat es im Sommer eine Gegenversammlung gegen das Auftreten des Salafistenpredigers Pierre Vogel gegeben, die etwa das Vierfache an Teilnehmenden hatte wie die Gruppe derer, die sich um den Prediger versammelte. Daran haben sich bewusst die verschiedenen Religionsgemeinschaften der Stadt beteiligt und in der Jakobuskirche auch eine Gebetsstunde veranstaltet, die das Miteinander und Füreinander der Glaubenden aus den verschiedenen Gemeinden sichtbar machte.

5) Lasst uns engagiert sein für umfassende Bildung von klein auf!
– Das ist ein Hauptimperativ. Wer sich ausdrücken kann, wer Bescheid weiß, wer zu denken und zu argumentieren gelernt hat, kann nicht einfach verdummt werden. Dabei darf es kein Gegeneinander, sondern nur ein Miteinander bzw. eine Ergänzung von öffentlicher Bildung und Bildung in den Religionsgemeinschaften geben. Der christliche und der im Aufbau befindliche islamische Religionsunterricht haben hier eine wichtige Aufgabe, und zwar in Kooperation miteinander. Aber auch das, was etwa an Hausaufgabenhilfe und Erwachsenenbildung in jüdischen, kirchlichen und muslimischen Gemeinden geleistet wird, ist ein wichtiger Beitrag.
6) Lasst uns aktiv werden in Begegnung, Verständigung und Zusammenarbeit

Wenn wir die geistlichen Quellen unserer Glaubenstraditionen ernst nehmen, wissen wir, dass sie uns nicht in Abgrenzung und Abwehr verharren lassen, sondern uns zueinander führen. Die von den Kirchen, dem Zentralrat der Juden und den muslimischen Verbänden durchgeführten Aktionen „Weißt du, wer ich bin“ und „Lade deinen Nachbarn ein“ waren Schritte, die ein Beispiel gegeben haben.

In unserer Nürnberger Gruppe der Religionen für den Frieden haben wir im Oktober eine Gebetsstunde der Religionen in der großen DITIB-Moschee durchgeführt unter dem Motto: „Dem Fanatismus entgegentreten: Gelebter Dialog“. Mit einem Bekenntnis von Albert Schweitzer, das bei dieser Gebetsstunde vorgetragen wurde und das in unsere aktuelle Gegenwart hinein gesprochen erscheint, möchte ich meinen Vortrag abschließen:
„In dieser Zeit, wo Gewalttätigkeit in Lüge gekleidet so unheimlich wie noch nie auf dem Throne der Welt sitzt, bleibe ich dennoch überzeugt, dass Wahrheit, Liebe, Friedfertigkeit, Sanftmut und Güte die Gewalten sind, die über aller anderen Gewalt stehen. Ihnen wird die Welt gehören, wenn nur genug Menschen die Gedanken der Liebe, der Wahrheit und der Friedfertigkeit rein und stark und stetig genug denken und leben.“

(Vortrag von Prof. Dr. Johannes Lähnemann, Ersterscheinung in: RfP Informationen von Religions for Peace Deutschland 93/2015, 4-16)


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