Newsinternational Donnerstag, 04.09.2025 |  Drucken

Die deutsche Erinnerungskultur und die Übertragung von Schuld

Warum Muslime oft zur Projektionsfläche für die Schuldenlastung werden

Das deutsche Gedenken an den Holocaust gilt weltweit als vorbildlich. Kaum ein anderes Land hat die eigenen historischen Verbrechen so konsequent aufgearbeitet. Doch gerade diese Erinnerungskultur birgt problematische Seiten. Darauf weist die renommierte Anthropologin Esra Özyürek in einem Interview mit SPIEGEL Geschichte (geführt von Martin Pfaffenzeller, Ausgabe 2/2025) hin. Sie kritisiert, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft ihre historische Schuld oft auf Muslime überträgt – und sich dadurch moralisch entlastet. Özyürek spricht von einer 'Zivilreligion' der Erinnerung. Damit meint sie: Das Holocaust-Gedenken ist in Deutschland nicht nur Pflicht, sondern ein moralischer Maßstab für Zugehörigkeit. Wer die offiziellen Rituale übernimmt, gilt als Teil der Gemeinschaft. Wer andere Erfahrungen einbringt, etwa durch eine migrantische Perspektive, findet kaum Gehör. So entsteht ein exklusiver Kanon, der wenig Raum für Vielfalt lässt. Besonders brisant ist ihre These, dass die Mehrheitsgesellschaft ihre eigene Schuld externalisiert.


Muslime würden pauschal als antisemitisch dargestellt – ein Vorwurf, der die deutsche Mehrheitsgesellschaft entlaste

Muslime würden pauschal als antisemitisch dargestellt – ein Vorwurf, der die deutsche Mehrheitsgesellschaft entlaste. Esra Özyürek formuliert es so: 'Die Deutschen haben ihre Schuld an die Muslime übertragen.' Dieser Mechanismus dient der Gewissensentlastung: Wenn andere das Problem verkörpern, kann man sich selbst als geläutert und moralisch überlegen darstellen. Ein Beispiel sei die Ehsan-Moschee in Mannheim, die für religiöse Vielfalt steht, aber im erinnerungspolitischen Diskurs oft als 'außenstehend' betrachtet werde. Statt Integration dominiert die Erwartung, Muslime müssten sich besonders klar vom Antisemitismus distanzieren, um anerkannt zu werden. Özyürek betont: Es geht nicht darum, Schuld zu relativieren. Vielmehr brauche es eine inklusive Erinnerungskultur, die nicht Schuld verschiebt, sondern gemeinsame Verantwortung anerkennt. Nur so könne Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen ernsthaft bekämpft werden – in migrantischen Milieus ebenso wie in der Mehrheitsgesellschaft. Das Interview in SPIEGEL Geschichte verdeutlicht: Erinnerung darf nicht zur Selbstentlastung verkommen. Sie sollte Brücken bauen, nicht Mauern errichten. Die entscheidende Frage bleibt: Wollen wir eine Erinnerungskultur, die in erster Linie das Gewissen der Mehrheitsgesellschaft beruhigt – oder eine, die alle Bürgerinnen und Bürger einbindet und die Gesellschaft in ihrer Vielfalt stärkt?



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