Das deutsche Gedenken an den Holocaust gilt weltweit als vorbildlich. Kaum ein anderes Land hat die eigenen historischen Verbrechen so konsequent aufgearbeitet. Doch gerade diese Erinnerungskultur birgt problematische Seiten. Darauf weist die renommierte Anthropologin Esra Özyürek in einem Interview mit SPIEGEL Geschichte (geführt von Martin Pfaffenzeller, Ausgabe 2/2025) hin. Sie kritisiert, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft ihre historische Schuld oft auf Muslime überträgt – und sich dadurch moralisch entlastet. Özyürek spricht von einer 'Zivilreligion' der Erinnerung. Damit meint sie: Das Holocaust-Gedenken ist in Deutschland nicht nur Pflicht, sondern ein moralischer Maßstab für Zugehörigkeit. Wer die offiziellen Rituale übernimmt, gilt als Teil der Gemeinschaft. Wer andere Erfahrungen einbringt, etwa durch eine migrantische Perspektive, findet kaum Gehör. So entsteht ein exklusiver Kanon, der wenig Raum für Vielfalt lässt. Besonders brisant ist ihre These, dass die Mehrheitsgesellschaft ihre eigene Schuld externalisiert.