Die syrische Badia-Wüste, einst als letzter Rückzugsort des „Islamischen Staats“ (IS) gefürchtet, scheint heute geisterhaft leer. Doch jahrelang hielten sich Berichte über nächtliche Überfälle, Brandstiftungen und brutale Morde, die dem IS zugeschrieben wurden. Lokale Hirten und Trüffelsammler erzählten von vermummten Bewaffneten, die auf Motorrädern angriffen, Schafe stahlen und Autos in Brand setzten. Doch wer steckte wirklich hinter diesen Angriffen? Und gibt es den IS in der Wüste überhaupt noch?
Der IS: Ein nützlicher Feind
Offiziell wurde der IS 2019 besiegt, als kurdische Milizen mit US-Unterstützung das letzte IS-Dorf Baghous eroberten. Doch schon ab 2020 tauchte der IS in Karten der syrischen Wüste wieder auf – mal als Fleck, mal als wolkige Schraffur. Westliche Terrorexperten, das US-Militär und das Assad-Regime behaupteten, der IS halte sich in der Badia versteckt, baue Trainingslager auf und plane Angriffe. Doch bei einer zweiwöchigen Recherchereise durch die Wüste fanden SPIEGEL-Reporter keine konkreten Hinweise auf IS-Kämpfer. Stattdessen stießen sie auf verlassene Militärbasen, Waffendepots und Minenfelder, die oft von schiitischen Milizen genutzt wurden. Das Assad-Regime hatte den IS jahrelang als nützlichen Feind instrumentalisiert, um den Kampf gegen die Opposition als Krieg gegen den Terror darzustellen. Gleichzeitig gab es Hinweise auf Kooperationen zwischen dem Regime und dem IS, etwa bei der Ausbeutung von Öl- und Gasfeldern.
Trüffelsammler und Hirten: Opfer der Gewalt
Für die lokale Bevölkerung war die Wüste ein Ort des Schreckens. Trüffelsammler, die in der kargen Landschaft nach den begehrten „Kamma“-Trüffeln suchten, wurden immer wieder angegriffen. Ein Mann erzählte von einem Überfall im März 2024, bei dem sein Vater erschossen wurde. Die Familie glaubt nicht, dass der IS hinter dem Angriff steckte. „In einer Gegend voller Militärbasen? Vom Highway aus? Und haben die Flugzeuge?“, fragte der Sohn des Getöteten. Stattdessen deutet vieles darauf hin, dass die Gewalt in der Wüste oft auf Konflikte zwischen Schmugglern, Milizen und lokalen Machthabern zurückging. Das Assad-Regime nutzte den IS als Vorwand, um eigene Interessen zu schützen. Wer unter dem Schutz der 4. Division, einer Eliteeinheit unter Assads Bruder Maher, stand, wurde nicht angegriffen. Alle anderen waren Freiwild.
Das Verschwinden des IS Mit dem Zusammenbruch des Assad-Regimes im Dezember 2024 änderte sich die Lage in der Wüste schlagartig. Milizionäre der HTS-Miliz, die durch die Badia vorrückten, berichteten, sie hätten keine IS-Kämpfer angetroffen. „Wir hatten mit Kämpfen gerechnet, aber da war niemand“, sagte ein Kämpfer. Auch Drohnenaufklärer, die die abgelegenen Gebiete der Wüste erkundeten, fanden keine Spuren des IS. Stattdessen entdeckten sie verlassene Waffendepots, Munition mit iranischem Aufdruck und sogar Material für Selbstmordattentäter-Westen. Die Präsenz schiitischer Milizen in der Wüste deutet darauf hin, dass die Region vor allem als Transitroute für Waffenlieferungen an die Hisbollah im Libanon genutzt wurde.
Fazit: Ein Phantom verschwindet
Die Recherche zeigt, dass die angebliche Bedrohung durch den IS in der syrischen Wüste oft übertrieben oder sogar erfunden wurde. Verschiedene Akteure, darunter das Assad-Regime und die Kurden, nutzten den IS als Vorwand, um eigene Interessen zu verfolgen. Seit dem Sturz des Regimes scheint die Bedrohung durch den IS wie von Geisterhand verschwunden zu sein.„Keine Überfälle mehr. Seit das Regime weg ist, ist auch Daisch verschwunden“, sagte ein Hirte am Rande der Wüste. Die Badia, einst ein Ort des Schreckens, wird langsam wieder zu einem Ort des Lebens.
Dieser Artikel basiert auf einer zweiwöchigen Recherchereise durch die syrische Wüste im Januar 2025 von Christoph Reuter und Johanna Maria Fritz