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Montag, 13.11.2017 | Drucken |
Was können Christen von Muslimen lernen, und Muslime von Christen?
Interview zur deutschen Ausgabe des Buches „Der Jesus-Dschihad“ vom Dave Andrews mit Dr. Mohammed Khallouk (Zentralrat der Muslime in Deutschland) und Ekkehart Vetter (Deutsche Evangelische Allianz)
Herr Vetter, wie erging es Ihnen, als Sie das erste Kapitel des Buches „Der Jesus-Dschihad“ gelesen haben: die schreckliche Unheilsgeschichte der christlichen heiligen Kriege und Kreuzzüge der letzten 2000 Jahre?
Vetter: Keine Frage, das ist in weiten Teilen ein widerliches Szenario unglaublicher Grausamkeiten. Und wir reden ja nicht nur über Gemetzel, die 1000 Jahre und mehr zurückliegen, sondern in vielen Teilen der Welt waren und sind „Christen“ bis in die jüngste Vergangenheit und Gegenwart in brutalste Verbrechen verwickelt. Der Holocaust in Deutschland und Europa und der Genozid in Ruanda sind furchtbare Beispiele. Und Schuld haben nicht nur die auf sich geladen, an deren Fingern Blut klebt, sondern ebenso diejenigen, die geschwiegen, verharmlost oder wider besseres Wissen nicht widerstanden haben. Menschen, die sich Christen nannten und zu Kirchen gehörten, haben im Laufe der letzten zwei Jahrtausende unfassbare Schuld auf sich geladen.
Herr Dr. Khallouk, im Vergleich zu den sogenannten „Heiligen Kriegen“ der Christen haben die Muslime sehr viel weniger Menschenleben als Opfer ihrer sogenannten „Heiligen Kriege“ auf dem Gewissen. Und dennoch berufen sich gerade heute immer mehr Muslime auf den Koran, und ziehen in den Dschihad. Haben diese Leute alle den Koran missverstanden?
Khallouk: Ich glaube nicht, dass sie generell den Koran missverstanden haben, denn es existieren in der Tat einige Verse, in denen die Aufforderung zum Dschihad gleichbedeutend mit einem gewaltsamen Widerstand gegen Feinde bzw. Unterdrücker der Muslime verbunden wird. Wenngleich Dschihad wörtlich übersetzt „Anstrengung“ bedeutet, geschieht eine Form dieser Anstrengung tatsächlich auch als „Kampf“ für Bedingungen zur ordnungsgemäßen Praktizierung der Religion. Dies ist jedoch immer in einem bestimmten Kontext zu verstehen und bedeutet keinesfalls grundsätzlich die Anwendung von Gewalt. Grundlose Gewalt und besonders das willkürliche Auslöschen von Menschenleben ist den Muslimen vielmehr untersagt – unabhängig davon, ob es sich bei den Betreffenden um Muslime handelt oder nicht. So heißt es in Sure 5,32: „(...) Wenn jemand einen Menschen tötet (...), so ist es, als hätte er die ganze Menschheit getötet; und wenn jemand einem Menschen das Leben erhält, so ist es, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten.“
Aber hat nicht der Prophet Mohamed selbst zum Schwert gegriffen?
Khallouk: Ja, er ist mit seinen Getreuen in den Krieg gegen die Quraisch von Mekka gezogen, nach dessen siegreichen Ende der Übertritt der meisten Mekkaner zum Islam stand. Begonnen hatte diesen Krieg jedoch die andere Seite. In der Bekehrung der Quraisch lag zudem nicht das Hauptkriegsziel, sondern zum einen, die Unterdrückung und Ungerechtigkeit ihrer Herrschaft zu beseitigen, und zum anderen, denjenigen, die bereits Muslime waren, in ihrer Heimat ein menschenwürdiges, ihrer Religion gemäßes Leben zu ermöglichen. Wenn heutzutage zum „Heiligen Krieg“ aufgerufen wird, werden diese einzelnen, auf kriegerische Auseinandersetzungen bezogenen Textpassagen aus Koran und Sunna meistens aus ihrem Kontext herausgerissen und als Rechtfertigung für politisch motivierte Gewalt, Unterdrückung divergenter Weltanschauungen oder Zwangsbekehrungen instrumentalisiert. Ich würde deshalb weniger von „Missverständnissen“, als mehr von „instrumentellen Umdeutungen“ sprechen.
Der Autor beschreibt zu Recht, dass sowohl Christen als auch Muslime diese Gräueltaten nicht leugnen, aber alles tun, um sie als „zeit-, kultur- oder kontextgebunden“ herunterzuspielen. Die „Leben-oder-Tod-Frage“, die Dave Andrews stellt ist: Sind diese Gräueltaten, die im Namen des Christentums oder des Islam begangen wurden, im Wesen des Christentums oder des Islam verankert, oder nicht? Sind die muslimischen Gräueltaten im Wesen des Islam verankert, Herr Vetter?
Vetter: Zum ersten Teil Ihrer Frage: Ich kann wahrlich nicht für alle Christen sprechen, erlebe aber eigentlich nicht die in Ihrer Frage unterstellten intensiven Bemühungen, diese Gräueltaten „herunterzuspielen“. Sicher rede ich aus deutscher und europäischer Perspektive, die möglicherweise nicht alle wesentlichen Äußerungen der globalen Christenheit wahrnimmt, aber ich teile die von Ihnen beschriebene Intention in Bezug auf Christen heute so nicht mehr.
Und bei den Muslimen?
Vetter: Ich nehme auch hier wahr, dass es in den aktuellen Ausprägungen nicht den Islam, sondern offensichtlich verschiedene Richtungen verbunden mit großen Unterschieden gibt. Ich sehe die radikale Seite des Islam, wo Menschen im Namen Allahs unglaubliche Gräueltaten vollbringen und ich erlebe muslimische Menschen in meinem Freundeskreis, für die diese Brutalitäten nichts, aber auch gar nichts mit Islam zu tun haben. Ähnliches höre ich von vielen muslimischen Experten aus unserem Kulturkreis. Ich bin kein Experte in islamischer Theologie. Aber ich möchte insbesondere die, die als islamische Politiker, islamische Theologen und sonstige Muslime öffentlichem Einfluss haben und die Friedfertigkeit des Islam betonen bitten: Widersprechen Sie laut und deutlich jeder Form von Gewalt im Namen islamischer Religion!
Khallouk: Aber Imame und Gelehrte aus aller Welt haben die Propaganda des sogenannten „Islamischen Staates“ bereits zu einer Zeit als „unislamisch“ verurteilt, wo die westliche Politik ihre hemmungslose Gewalt noch zu ignorieren schien.
Vetter: Ich weiß, dass viele dies tun, aber ich hätte es gern flächendeckender, deutlicher, nachhaltiger und gezielter an die Adresse muslimischer politischer Entscheidungsträger. Sorgen Sie dafür, dass in Moscheen in Deutschland zum Frieden und zur Religionsfreiheit aufgerufen wird. Setzen Sie sich laut und deutlich für praktizierte Religionsfreiheit gerade in Ländern mit muslimischer Mehrheit ein! Religionsfreiheit beinhaltet das Recht, seine Religion öffentlich zu bekennen, auszuüben, zu verbreiten und zu wechseln. Mir ist dies so wichtig, weil Religionsfreiheit der Lackmustest eines friedlichen Miteinanders von Religionen ist. Diese Freiheit entspringt unmittelbar aus der Würde des Menschen, die ihre Grundlage in der Erschaffung aller Menschen als Ebenbild Gottes hat. Treten Sie dafür ein, dass Christen ihren Glauben öffentlich leben, Kirchen bauen und publizieren dürfen, sei es im Iran, in Saudi-Arabien, in der Türkei, im Sudan oder wo auch immer in der muslimischen Welt! Treten Sie dafür ein, dass Menschen frei und ohne Androhung von Repressalien ihre Religion wechseln dürfen! Sie müssen dies nicht gut finden, weil jeder von uns wünscht, dass Menschen im eigenen Glauben bleiben! Aber treten Sie dafür ein, dass jeder Muslim das Recht hat Christ zu werden, ohne familiäre Ausgrenzung und gesellschaftliche Ächtung zu erleben oder gar um Leib und Leben fürchten zu müssen! Umgekehrt gilt dies natürlich genauso! Setzen Sie sich lautstark nicht nur für das Existenzrecht, sondern auch für den Frieden mit Israel ein! Sie dürfen natürlich israelische Politik kritisieren, aber sorgen Sie dafür, dass T-Shirts und Schulbücher mit Landkarten verschwinden, auf denen der Staat Israel nicht existiert! Diese kann man an jeder Ecke in Jerusalem im arabischen Basar erwerben.
Khallouk: Wichtiger als Worte und Symbolgesten wäre, dass die Menschen vor Ort, also Muslime wie Christen wie auch Juden im Nahen Osten wie anderenorts, gemeinsam sich in die Öffentlichkeit begeben, um zu demonstrieren: „Diese Völker- und Menschenrechtsverletzer repräsentieren weder unsere Religionen noch unser bestehendes Miteinander!“ Diese Aufforderung richtet sich an die Muslime auch aus eigenem Interesse, denn die insgesamt größte Gruppe der aktuellen weltweiten Opfer politischer Unterdrückung wie auch religiös gerechtfertigter Gewalt sind Muslime. Die zahlreichen öffentlichen Verurteilungen der IS-Gräueltaten durch Islamgelehrte beweisen allerdings, dass die muslimische Stimme für Menschlichkeit nicht verstummt ist. Sie findet nur in den westlichen Medien weniger Resonanz als zum Beispiel ein Ägyptenbesuch des Papstes.
Sind die christlichen Gräueltaten im Wesen des Christentums verankert?
Khallouk: Da ich mich zwar nicht als Experte für das Christentum bezeichnen würde, jedoch in meinem Leben hier in Deutschland schon häufig mit Christen und Christentum konfrontiert war, würde ich sagen, diese Gräueltaten sind nicht im Wesen des Christentums verankert. Es bestehen in der Bibel, die im Islam ja auch als eine Heilige Schrift gewürdigt ist, Passagen, die sich für Gewalt gegen Andersdenkende instrumentalisieren lassen. Dave Andrews verweist beispielsweise auf Jesus Aussage im Matthäusevangelium: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert!“ (Matthäus 10,34) . Als Muslim würde ich den Text jedoch eher derart verstehen wie ihn Andrews interpretiert hat, dass sich Jesus nicht mit einem ungerechten status quo zufrieden gegeben hat. Diesem Vorbild entsprechend sollte ein Christ sich auch permanent für Gerechtigkeit einsetzen. Die Anmaßung vieler Christen – wie leider auch vieler Muslime – immer genau zu wissen, wie die absolute Gerechtigkeit aussieht und zu glauben, den Anderen mit allen Mitteln zur Änderungen seines Verhaltens nach den eigenen Maßstäben zu drängen, lässt sich aus diesem Text jedenfalls nicht herauslesen. Wenngleich ich derartige, von „Christen“ ausgeübte Gewalt, wie von Andrews für die Historie beschrieben, bislang nicht habe erfahren müssen, stelle ich fest, dass auch gegenwärtig von einigen Christen Muslime als „das bedrohliche Andere“ konstruiert und mit Verweis auf eine „christliche Leitkultur“ hier lebende Muslime zu einem „Norm“ gemäßen Verhalten zu drängen versucht werden. Jene Christen unterscheiden sich nur in der Auswirkung, nicht aber im intoleranten Geist von den Kreuzzugspredigern des Mittelalters und ebenso wenig von radikalen Islamgelehrten, die zum „Heiligen Krieg“ aufrufen. Die Kenntnis zahlreicher unvoreingenommener Christen bewahrt mich jedoch davor, jene Intoleranz auf das Christentum als Religion zurückzuführen.
Vetter: Auf „christlicher Seite“ muss man sich dringend die Frage stellen, wen man alles als „Christen“ bezeichnet. Einerseits ist das nicht meine Kompetenz, denn ich kann nicht in das Herz von Menschen schauen. Andererseits sind Menschen als „Christen“ unterwegs, denen Jesus laut eigener Aussage egal ist, die weder die Bibel kennen noch sie für ein geistlich bedeutsames Buch halten, die mit dem Heiligen Geist absolut nichts anzufangen wissen usw. Von wem reden wir, wenn wir von „Christen“ reden?
Khallouk: Andrews stellt in seinem Buch sehr anschaulich heraus, dass nicht die Aussage der Religionen selbst, sondern eine in uns Menschen – Muslime wie Christen wie Andersgläubige – innewohnende Tendenz zur Identitätssuche in der Abgrenzung immer wieder dazu führt, religiöse Texte, in denen Gewalt in bestimmtem Kontext gerechtfertigt erscheint, als Legitimation zu nehmen, die eigene Kollektividentität durch Gewalt gegen ein konstruiertes „Anderes“ zu verteidigen.
Der Theologe Robert Brinsmead meint: „Eine ‚in sich geschlossene Weltsicht‘ von Religion zieht Demarkationslinien mitten durch die menschliche Rasse. Die erwählten Menschen unterscheiden sich von den nicht erwählten, die Insider von den Outsidern, die Reinen von den Unreinen, die Gläubigen von den Ungläubigen, die Erleuchteten von den Nicht-Erleuchteten. Menschen innerhalb jeder dieser Abgrenzungen können nicht nachhaltig miteinander kommunizieren. Was für die eine Gruppe die richtige Lehre ist, ist für die andere eine Gotteslästerung und umgekehrt. Jede Religion schafft ihre eigene Elite, die sich über den Rest der Menschheit erhebt, weil sie glaubt im Besitz der Wahrheit zu sein. Eine solche Überheblichkeit bringt Entfremdung und am Ende Feindschaft hervor. Es gibt unzählige Beispiele grober Missachtung der Menschlichkeit, als unweigerliche Folge einer derartigen Hingabe an die Religion.“ Ist das die Krux mit den konservativen Christen und Muslimen?
Khallouk: Ich würde das nicht auf die Religion verengen. „Geschlossene Weltsichten“ existieren auch bei areligiösen oder sogar dezidiert antireligiösen Weltanschauungen - ob es sich dabei um Rassismus, Stalinismus oder explizit orthodoxen Antitheismus handelt. Der Begriff „konservativ“ hat in Bezug auf Religion in unserer westlichen Gesellschaft häufig einen abwertenden Klang. Dabei können sogenannte „liberale Muslime und Christen“ genauso intolerant sein, wenn sie allein zu wissen glauben, was die zeitgemäße, „liberale“ Religionsauslegung ist und alles andere als „reaktionär“ abstempeln. Ein konservatives, religiös begründetes Wertegerüst bei Akzeptanz von Verschiedenheiten kann stattdessen eine Basis für eine Humanität inmitten unseres von Nützlichkeitserwägungen bestimmten Zeitalters darstellen. Insofern könnte der „große Dschihad“, verstanden als gewaltloser Kampf für Gerechtigkeit gerade in der heutigen Zeit einen Beitrag zum Miteinander leisten und von konservativen wie liberalen Muslimen wie Christen gemeinsam geführt werden. Aktuell möchte ich daran erinnern, dass eine wichtige Opposition gegen Islam- und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland von den christlichen Kirchen ausgeht.
Herr Vetter, meine Eltern – sie waren Missionare in Indonesien – haben mich davor gewarnt das Buch „Der Jesus-Dschihad“ zu nennen. Jesus und Dschihad, das ist wie Feuer und Wasser. Das passt einfach nicht zusammen.
Vetter: Apropos Indonesien: Meine Kirche hat dort seit Jahrzehnten eine Partnerkirche. Ich selbst habe Indonesien besucht und je nachdem, welchen Landesteil man ins Auge fasst, von weitgehend friedlichem Zusammenleben von Christen und Muslimen bis hin zu schärfster Unterdrückung der christlichen Minderheit alles wahrgenommen. Von Jesus weiß ich, dass er seine Nachfolger aufgefordert hat, zu segnen, statt zu fluchen, die Feinde zu lieben, nicht Böses mit Bösem zu vergelten, radikal zu vergeben und von Herzen sanftmütig zu sein. Es mag ja unterschiedliche Definitionen von Dschihad geben, aber das öffentliche Bild wird halt auch durch gewalttätige Organisationen geprägt, die den Namen Dschihad, z.B. Islamischer Dschihad, tragen. Meine Meinung: Die Namen und die Lehre Jesu mit Dschihad in Verbindung zu bringen, da muss man schon sehr viel erklären – und hoffen, dass es keine Missverständnisse gibt, wenn Menschen nur den Buchtitel wahrnehmen. Was genau ist der Dschihad? Was unterscheidet den kleinen vom großen Dschihad? Und wann genau ist im Islam der Gebrauch von Gewalt erlaubt – oder sogar geboten?
Khallouk: Wie bereits erwähnt, heißt Dschihad „Anstrengung“. Der „große Dschihad“ ist dementsprechend die Anstrengung für ein individuelles gottgefälliges Leben. Der „kleine Dschihad“ ist jedoch die Anstrengung für gesellschaftliche Bedingungen, in denen ein Leben den religiösen Geboten gemäß möglich ist. Für letzteres kann unter Umständen auch der Einsatz von Gewalt legitim sein. Der Islam kennt jedoch für den mit kriegerischen Mitteln durchgeführten Dschihad klare Einschränkungen. Er ist in erster Linie als Verteidigungskampf gedacht und zwar vor allem dort, wo ein Gegner bestrebt ist, Muslimen die freie Praktizierung ihrer Religion zu verhindern, zumindest aber elementare Menschenrechte nicht gewährleistet. Gewalt ist nur so lange erlaubt, solange die andere Seite auch Gewalt anwendet. So heißt es beispielsweise in Sure 8,61: „Sind sie jedoch zum Frieden geneigt, so sei auch du ihm geneigt und vertraue auf Allah. Wahrlich, Er ist der Allhörende, der Allwissende.“ Ebenso ist dem Muslimen nicht mehr Gewalt zugebilligt, als zur Erreichung des angestrebten Ziels notwendig ist, d.h. zum Beispiel eine Ermordung von Kriegsgefangenen, die bereits entwaffnet sind, kann sich nicht berechtigterweise auf den Dschihad berufen. Es bestehen außerdem noch weitere Einschränkungen für Gewalt im Dschihad wie beispielsweise das Verbot an Heiligen Stätten oder religiösen Feiertagen zu kämpfen, sofern der Gegner sich ebenfalls an dieses Prinzip hält. Fast alle neuzeitlich von politischen wie religiösen Führern propagierten „Dschihads“ sind mit dem Dschihadverständnis von Koran und Sunna daher nicht vereinbar. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund geht die schärfste intellektuelle Opposition dagegen auch von Islamgelehrten aus.
Herr Vetter, woran liegt es, dass – besonders in konservativen christlichen Kreisen – das Misstrauen gegenüber dem Islam so groß ist? Für viele ist der Islam nur böse.
Vetter: Ich glaube, dass sich hier etwas wandelt. In meinem Umfeld begegnen mir solche Leute kaum noch. Ich will zunächst sehr persönlich antworten: Unser direktes Nachbarhaus hat seit einigen Jahren einen türkischen Besitzer. Der ist sehr nett. Ich hoffe, dass er das auch von mir sagt. Wir verstehen uns gut. In meinem Stadtteil leben Menschen aus ca. 90 Nationen. Mein Friseur ist ebenfalls Türke. Ich gehe gern zu ihm. In meiner lokalen freikirchlichen Gemeinde haben wir viel Kontakt zu Flüchtlingen. Wir geben Sprachunterricht, laden in ein internationales Café ein, eine ganze Reihe besuchen den Gottesdienst. Einige wenige gehören zu traditionellen orientalischen christlichen Konfessionen, die meisten aber sind Muslime. Einige sind Christen geworden, andere bisher nicht. Weil wir zahlreiche neue iranische Freunde gewonnen haben, sind meine Frau und ich 2016 drei Wochen in den Iran gereist. Wir waren zu zweit auf eigene Faust unterwegs, haben viel Kontakt zu Iranern gehabt bis dahin, dass wir einige Nächte privat bei einer uns bis dahin unbekannten Familie übernachtet haben. Wir sind schon viel in der Welt herumgekommen, haben aber kaum so gastfreundliche Menschen wie im Iran erlebt. Wir haben zahlreiche Gespräche über den Glauben geführt, die sich fast selbstverständlich immer dann ergaben, wenn ich nach meinem Beruf gefragt wurde. Diese und andere Geschichten erzähle ich, wenn Leute mir mit Pauschalverurteilungen begegnen.
Und trotzdem sind die Ressentiments den Moslems gegenüber groß.
Vetter: Daher lade ich Christen ein, Kontakt zu Muslimen zu suchen, sie wert zu schätzen wie jeden anderen Mitbürger auch und ihnen als Repräsentant eines liebenden Gottes zu begegnen, der alle Menschen nach seinem Bild geschaffen hat. Ich weiß, dass diese sehr persönliche Sicht nicht jedes politische Problem löst. Mir ist klar, dass das Problem des gewalttätigen Islamismus nicht mit netten Geschichten aus der Nachbarschaft gelöst werden kann, aber den „konservativen christlichen Kreisen“ empfehle ich sehr nachdrücklich, Kontakt und Freundschaft zu Muslimen zu suchen – und sie werden liebenswerte Menschen entdecken, denen es sicher auch guttut, Christen persönlich kennen zu lernen.
Sie sind selbst viel in Jordanien und Israel unterwegs und haben auch in Ihrer Gemeinde viel mit Muslimen zu tun. Was können wir Christen vom Islam lernen, Herr Vetter?
Vetter: Hier unterscheide ich die alltägliche Frömmigkeit und die Theologie. Was man in islamischen Ländern beobachten kann, ist eine wie selbstverständlich öffentlich gelebte Frömmigkeit. Menschen beten auf offener Straße. Glaube ist keine Privatsache, über die man nicht redet. Auch einige der Werte, die ich bei Muslimen beobachte, z.B. Zusammenhalt in der Familie und ausgesprochene Wertschätzung alt gewordener Menschen, beeindrucken mich positiv. Im Westen steht das Individuum im Zentrum der Weltanschauung. Religion ist nur ein Lebensbereich unter vielen und findet, wenn überhaupt, meist im privaten Raum statt. In islamisch geprägten Ländern hingegen ist die Religion der Mittelpunkt des Lebens. Deshalb ist es meiner Erfahrung nach vergleichsweise einfach, mit Muslimen über den Glauben zu reden, weil der Glaube ihr ganzes Leben umfasst. Muslime sind religiöse Menschen, die hierzulande religiöse Menschen suchen, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Das beeindruckt mich.
Und von der Religion?
Vetter: Was die Theologie betrifft ist mir sehr wohl bewusst, dass z.B. Jesus bzw. Isa als Prophet einige Male im Koran erwähnt wird und berichtet wird, wie er Wunder getan hat (Sure 5:110). Allerdings wird die Mitte biblischer Theologie, die Heilsbedeutung des Todes Jesu – er starb für unsere Sünden – und seine Auferweckung zum ewigen Leben, von islamischer Theologie nicht geteilt. Theologisch gesprochen: Soteriologie und Christologie werden ihres Kerns beraubt. Jesus ist im Koran ein guter Muslim, nicht mehr. Ich aber bete zu dem einen Gott, der sich in Jesus als Vater, Sohn und Heiliger Geist offenbart hat. Ich denke, es hilft uns auch deutliche Unterschiede zwischen Religionen zu benennen, solange das beherzigt wird, was in dem 2011 auch von der Evangelischen Allianz mitunterzeichneten Dokument „Das christliche Zeugnis in einer multireligiösen Welt“ gesagt wird: Christen/innen müssen aufrichtig und respektvoll reden; sie müssen zuhören, um den Glauben und die Glaubenspraxis anderer kennen zu lernen und zu verstehen, und sie werden dazu ermutigt, das anzuerkennen und wertzuschätzen, was darin gut und wahr ist. Alle Anmerkungen oder kritischen Anfragen sollten in einem Geist des gegenseitigen Respekts erfolgen. Dabei muss sichergestellt werden, dass kein falsches Zeugnis über andere Religionen abgelegt wird. Wenn man respektvoll redet, dann kann man sicher Gemeinsames suchen, aber man kann auch unproblematisch Unterschiede benennen. Dies zu lernen ist m.E. von größerer Bedeutung als Gemeinsamkeiten zu suchen in Religionen, die sich im Kern sehr deutlich unterscheiden.
Was können Muslime vom Christentum lernen, Herr Dr. Khallouk?
Khallouk: Von Christentum als Religionsgemeinschaft nicht so sehr viel, denn das meiste, was das Christentum lehrt, besonders bezogen auf ethisches Verhalten, lehrt der Islam auch. Muslime können sich aber sehr wohl vom gegenwärtigen Christentum inspirieren lassen. So können Islamgelehrte beispielsweise von zeitgenössischen christlichen Theologen und Ethikern im Westen sich abschauen, wie man sich kritisch, aber ohne eigene Machtansprüche in die Politik einmischt und die Religion als Stimulus versteht, in der Gesellschaft als Mahner für die Einhaltung von Menschenrechten aufzutreten, und Unrecht offen als solches benennt, auch wenn es nicht opportun erscheint. Das Beispiel von den Kirchen in Deutschland, die öffentlich gegen Fremdenhass und Islamfeindschaft Stellung beziehen, wäre hier zu nennen. Schließlich sind die Kirchenfunktionäre sich bewusst, dass Islamressentiments auch von zahlreichen ihrer Mitglieder und Kirchensteuerzahler geteilt werden. Weiterhin können die Muslime am Christentum in Europa erkennen, wie eine Religion es verstanden hat, ihren eigenen, in der Historie durchaus vorhandenen politischen Herrschaftsanspruch zurückzunehmen. Beide großen Kirchen haben mittlerweile anerkannt, dass gesellschaftspolitische Verantwortung nicht derjenige am besten wahrnimmt, der ein „von Gott übertragenes Amt“ besitzt, sondern der für sein Handeln bei den davon Betroffenen auf Zustimmung trifft und sich an humanen Werten orientiert, die nicht zuletzt in der Religion wurzeln. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, bedurfte es eines langen Prozesses in der europäischen Kirchengeschichte. Dazu gehörten Reformation, Gegenreformation und leider auch zeitweilige gewalttätige Auseinandersetzungen. Erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat die katholische Kirche offiziell anerkannt, dass Juden wie Muslime mit den Christen die gleiche ethische, auf Abraham zurückgehende Wurzel besitzen. Eine Entschuldigung für Kreuzzüge und andere im Namen des Christentums begangene historische Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist bis heute nur in Ansätzen erfolgt. Dessen ungeachtet zählen Vertreter des institutionalisierten Christentums zu den wichtigsten Opponenten gegen nach wie vor bestehende Versuche der Politik in mehrheitlich christlichen Gesellschaften, Juden oder Muslime zur „Gefahr“ oder gar zum „Feindbild“ heraufzubeschwören.
Und von den Christen?
Khallouk: Von „den Christen“ können sie eben so wenig lernen wie von „dem Christentum“, da es „die Christen“ nicht gibt. Sie können aber sehr wohl anhand einer heutzutage verbreiteten Praxis, sowohl unter katholischen, protestantischen als auch orthodoxen Christen erkennen, wie in der Öffentlichkeit über theologische, ethische, oder politische Fragen debattiert und miteinander gestritten werden kann, ohne dem Vertreter der jeweiligen Gegenposition die Zugehörigkeit zur eigenen Religion abzusprechen. Gewalttägige Auseinandersetzungen um die „richtige“ Auffassung von biblischen Aussagen finden heutzutage so gut wie überhaupt keine mehr statt. Die gesellschaftliche Diesseitsorientierung vieler Christen kann den Muslimen ebenfalls als Vorbild dienen, die ihre religiöse Ethik in Bezug zur gesellschaftlichen Gegenwart zu stellen bereit ist. Erinnert sei daran, dass es im Wesentlichen praktizierende Christen waren, die mit ihrer öffentlichen Thematisierung des staatlichen Unrechts in der damaligen DDR die friedliche Revolution 1989 eingeleitet haben, die ein Jahr später in der deutschen Einheit mündete. Christen sind bereit, aus ihrer Religion selbst in einem repressiven Staatssystem die Courage herauszuziehen, gewaltlos für Menschenrechte und gesellschaftliche Veränderungen einzutreten, wofür ihnen Kirchengemeinden, wie 1989 die Leipziger Thomaskirche, den notwendigen Raum bieten. Die humane Ethik, die Staatsrechtslehrer wie John Locke vor vierhundert Jahren aus ihrer christlichen Religion herauszogen, haben muslimische Intellektuelle wie Ibn Ruschd (Averoes) oder Al Ghazali teilweise bereits Jahrhunderte vorher islamisch legitimiert formuliert. Muslime besitzen somit in ihrer eigenen Religion, zeitgemäß und human ausgelegt, durchaus ebenso die Basis für eine Gesellschaft, in der dem Anderen die gleichen Werte und Rechte zuteilwerden wie dem Eigenen. Wenn die Muslime sich heutzutage in gleicher Weise gesellschaftspolitisch engagiert zeigen, wäre hiermit eine wichtige Keimzelle für gesellschaftlichen Fortschritt in muslimischer Gesellschaft gelegt. Weltweite Probleme wie Umweltzerstörung, Rüstungswettläufe, Flüchtlingskrisen oder ökonomische Verteilungskämpfe könnten von Muslimen und Nichtmuslimen gemeinsam bewältigt werden und die Lösungskonzepte dafür müssten kaum noch von christlichen oder säkularisierten Westlern in die muslimische Gesellschaft hineingetragen werden, die ihre Entwicklung stattdessen selbst und aus ihrem eigenen Moralverständnis in die Hand nimmt.
Können sich Muslime und Christen also an der Lebensführung Jesus für einen gemeinsamen Kampf für Gerechtigkeit orientieren, auch wenn sie dogmatisch nicht übereinstimmen? Khallouk: Das können sie durchaus, wenngleich sie heutzutage mit vielen Lebenssituationen konfrontiert sind, mit denen Jesus vor 2000 Jahren wie auch Mohamed vor 1400 Jahren nicht konfrontiert waren. Wichtig ist deshalb, sich nicht am Buchstaben, sondern am Geist und der Ethik dieses „großen Dschihad“ zu orientieren und sich hierauf basierend rational zu überlegen, was ein gemeinsamer Kampf für Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert beinhaltet. Wer als Muslim, als Christ wie auch als Jude seine Religion ernst nimmt und sich an der gemeinsamen Ethik aller drei Religionen orientiert, ist aber auch ohne den spezifischen Bezug auf Jesus in der Lage, mit den Anhängern der beiden anderen Religionen sich gemeinsam für Gerechtigkeit einzusetzen. Sich am „großen Dschihad“ auszurichten, bedeutet nicht, krampfhaft zu versuchen, das Leben der Propheten nachzuahmen. Stattdessen gilt es, sich für eine gegenwärtige Gesellschaft einzusetzen, in der Gerechtigkeit möglichst jedem zuteilwird.
Am 13. Oktober 2007, zu Eid al-Fitr al-Mubarak, schrieben eine Reihe muslimischer Führer – Vertreter einer großen Bandbreite muslimischer Gruppen, Organisationen und Denominationen weltweit – einen offenen Brief an die Leiter aller christlicher Kirchen: „Muslime und Christen stellen gemeinsam weit über die Hälfte der Weltbevölkerung. Ohne Frieden und Gerechtigkeit zwischen diesen beiden religiösen Gemeinschaften kann es keinen wirklichen Frieden in der Welt geben. Die Zukunft unserer Welt hängt am Frieden zwischen Muslimen und Christen. (…) Im Gehorsam gegenüber dem heiligen Koran laden wir als Muslime daher alle Christen ein, mit uns auf Grundlage unserer Gemeinsamkeiten zusammenzukommen. Diese Gemeinsamkeiten, die zugleich die grundlegende Wahrheit unseres Glaubens und unseres Handelns ist: Die zwei Gebote der Liebe. Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Gnädigen möge Frieden und Segen sein auf dem Propheten Mohammed.“ Herr Vetter, was hindert uns Christen daran, diesen Weg gemeinsam mit den Muslimen zu gehen?
Vetter: Ich teile den Wunsch nach friedlichem Zusammenleben komplett, aber, ich formuliere es zugespitzt: Als Christ brauche ich keine religiösen Gemeinsamkeiten, um mit Menschen in Frieden zusammen zu leben. In Deutschland leben Millionen von Atheisten und Agnostikern, also Menschen, deren „religiöse“ Überzeugung weit weg von meiner ist. Aber natürlich will und soll ich mit ihnen in Frieden leben. Ähnliches gilt für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen. Schön, wenn man Gemeinsamkeiten herausfiltert, aber selbst, wenn dies nicht der Fall ist: Christen sind als Nachfolger Jesu der Nächstenliebe verpflichtet. Ich habe kein Recht, Menschen anderer Religionen nieder zu machen oder zu missachten, sondern bin aufgefordert, respektvoll mit ihnen umzugehen. Ich zitiere noch einmal die Erklärung „Das christliche Zeugnis in einer multireligiösen Welt“: Christen/innen sollten von Respekt und Vertrauen geprägte Beziehungen mit Angehörigen anderer Religionen aufbauen, um gegenseitiges Verständnis, Versöhnung und Zusammenarbeit für das Allgemeinwohl zu fördern. Lassen Sie mich deutlich sagen: Ich glaube, uns hilft eine Verharmlosung und Verschleierung der großen Unterschiede zwischen Islam und christlichem Glauben überhaupt nicht. Vielmehr führt beiderseits ein klares Bekenntnis des eigenen Glaubens zum gegenseitigen Verstehen. In diesem Sinne sind Verständnis füreinander und auch Dialog und Mission keineswegs Gegensätze, sondern im freiheitlichen Rechtsstaat möglich und tragen letztlich zum Frieden zwischen den Religionen bei.
Herr Dr. Khallouk, Herr Vetter, vielen Dank für dieses Gespräch!
Dr. Mohammed Khallouk ist Politologe, Arabist und Islamwissenschaftler. Khallouk wohnt seit 1998 in Marburg und ist 2. Vorsitzender des Zentralrat der Muslime in Deutschland.
Ekkehart Vetter ist Autor, evangelischer Theologe und Präses des Mülheimer Verband Freikirchlich-Evangelischer Gemeinden. Vetter wohnt in Mülheim an der Ruhr und ist Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz.
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